Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 30.11.2021, Az.: 9 ME 257/21

Aussetzung der Vollziehung; Zugangsvoraussetzung

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
30.11.2021
Aktenzeichen
9 ME 257/21
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2021, 71068
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 07.10.2021 - AZ: 1 B 44/21

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Bei dem Erfordernis der vorherigen Durchführung eines erfolglosen behördlichen Aussetzungsverfahrens handelt es sich nicht um eine bloße Sachentscheidungsvoraussetzung, die noch im Laufe des gerichtlichen Eilverfahrens verwirklicht werden könnte. § 80 Abs. 6 Satz 1 VwGO normiert vielmehr eine Zugangsvoraussetzung, die im Zeitpunkt der Stellung des Eilantrags bei Gericht erfüllt sein muss (ständige Senatsrechtsprechung).

2. Die in § 80 Abs. 6 Satz 2 VwGO geregelten Ausnahmen sind ebenfalls Zugangsvoraussetzungen, die bereits zum Zeitpunkt der Antragstellung bei Gericht vorliegen müssen und nicht nachholbar sind.

Tenor:

Die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Osnabrück - 1. Kammer - vom 7. Oktober 2021 wird zurückgewiesen.

Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens als Gesamtschuldner.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 1.674,00 EUR festgesetzt.

Gründe

Die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Osnabrück vom 7. Oktober 2021, mit dem dieses den – sinngemäß gestellten – Antrag der Antragsteller nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage (1 A 132/21) gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 10. Juni 2021 abgelehnt hat, hat keinen Erfolg. Sie ist zulässig, aber unbegründet.

I.

Die Beschwerde der Antragsteller ist zulässig. Sie ist insbesondere fristgemäß im Sinne des § 147 Abs. 1 Satz 1 VwGO mit Schriftsatz vom 14. Oktober 2021, eingegangen beim Verwaltungsgericht Osnabrück am 18. Oktober 2021, eingelegt worden. Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin scheitert eine fristgemäße Einlegung der Beschwerde nicht an einer ordnungsgemäßen Bevollmächtigung der den Schriftsatz unterzeichnenden Rechtsanwältin F.. Zwar haben die Antragsteller mit Vollmacht vom 21. Juni 2021 nicht (auch) Rechtsanwältin F., sondern (nur) ihren Prozessbevollmächtigten Rechtsanwalt C. bevollmächtigt. Allerdings enthält diese Vollmacht einen Passus, wonach die Vollmacht die Befugnis umfasst, die Vollmacht ganz oder teilweise auf andere zu übertragen (Untervollmacht). Davon hat der Prozessbevollmächtigte der Antragsteller Gebrauch gemacht. Er hat geschildert, dass die mit ihm in Bürogemeinschaft tätige Rechtsanwältin F. und er sich wechselseitig im Urlaub vertreten würden. Der Beschwerdeschriftsatz vom 14. Oktober 2021 sei von ihm unmittelbar vor seinem Urlaubsantritt abdiktiert worden und sodann während seines Urlaubs von Rechtsanwältin F. unterzeichnet worden, wobei der Schriftsatz den ausdrücklichen Hinweis „für den nach Diktat verreisten RA C.“ enthalte. Soweit die Antragsgegnerin aus diesem Zusatz Zweifel an der notwendigen Unterzeichnung durch den Prozessbevollmächtigten selbst herleiten will, vermag der Senat dem nicht zu folgen.

II.

Die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Osnabrück ist jedoch unbegründet.

Die von den Antragstellern dargelegten Gründe, auf deren Überprüfung der Senat sich gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO zu beschränken hat, rechtfertigen es nicht, die angefochtene Entscheidung abzuändern und dem Antrag der Antragsteller auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage stattzugeben. Das Verwaltungsgericht hat zu Recht entschieden, dass der Antrag der Antragsteller nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO auf Anordnung der – gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO entfallenden – aufschiebenden Wirkung ihrer Klage bereits unzulässig, jedenfalls aber auch unbegründet ist.

1.

Der Antrag der Antragsteller auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage ist bereits unzulässig.

Nach § 80 Abs. 6 Satz 1 VwGO ist der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO in den Fällen der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO nur zulässig, wenn die Behörde einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ganz oder teilweise abgelehnt hat. § 80 Abs. 6 Satz 1 VwGO lässt schon nach seinem Wortlaut einen vorherigen Antrag an die Behörde nicht ausreichen, sondern verlangt zudem, dass er von der Behörde ganz oder teilweise abgelehnt worden ist (vgl. OVG Berl.-Bbg., Beschluss vom 18.8.2014 – OVG 5 S 20.14 – juris Rn. 4). Bei dem Erfordernis der vorherigen Durchführung eines erfolglosen behördlichen Aussetzungsverfahrens handelt es sich nicht um eine bloße Sachentscheidungsvoraussetzung, die noch im Laufe des gerichtlichen Eilverfahrens verwirklicht werden könnte. § 80 Abs. 6 Satz 1 VwGO normiert vielmehr eine Zugangsvoraussetzung, die im Zeitpunkt der Stellung des Eilantrags bei Gericht erfüllt sein muss (vgl. NdsOVG, Beschluss vom 27.8.2010 – 4 ME 164/10 – juris Rn. 3; Senatsbeschluss vom 18.1.2006 – 9 ME 299/05 – juris Rn. 2; OVG NRW, Beschluss vom 18.9.2020 – 14 B 985/20 – juris Rn. 28; BayVGH, Beschluss vom 12.8.2020 – 11 CS 20.1518 – juris Rn. 10; VGH BW, Beschluss vom 28.2.2011 – 2 S 107/11 – juris Rn. 3; SächsOVG, Beschluss vom 15.11.2010 – 5 B 258/10 – juris Rn. 4; OVG MV, Beschluss vom 25.6.2004 – 1 M 127/04 – juris Rn. 15). Diese nach Stellung des Antrages auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes bei Gericht nicht mehr nachholbare Zugangsvoraussetzung ist hier nicht erfüllt. Die Antragsgegnerin hatte den unter dem 15. Juni 2021 bei ihr gestellten und am 21. Juni 2021 eingegangenen Antrag der Antragsteller auf Aussetzung der Vollziehung noch nicht abgelehnt, als die Antragsteller bereits am 29. Juni 2021 – und nicht erst am 1. Oktober 2021, wie die Antragsteller mit ihren Schriftsätzen vom 8. und 22. November 2021 geltend machen – ihren Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO beim Verwaltungsgericht gestellt haben.

Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO ist auch nicht ausnahmsweise nach § 80 Abs. 6 Satz 2 VwGO zulässig. Die in § 80 Abs. 6 Satz 2 VwGO geregelten Ausnahmen sind ebenfalls Zugangsvoraussetzungen, die bereits zum Zeitpunkt der Antragstellung bei Gericht vorliegen müssen und nicht nachholbar sind (vgl. NdsOVG, Beschluss vom 27.8.2010, a. a. O., Rn. 8).

Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist nicht deshalb gemäß § 80 Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 VwGO zulässig, weil die Antragsgegnerin über den Antrag der Antragsteller vom 15. Juni 2021 ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden hätte. Eine kalendermäßige Bestimmung über die Angemessenheit der Frist existiert nicht. Ausschlaggebend für die Angemessenheit im Sinne des § 80 Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 VwGO sind vielmehr die Umstände des Einzelfalls, namentlich die Eilbedürftigkeit der Angelegenheit. Dabei wird zuweilen eine Anlehnung an die Monatsfrist des § 74 Abs. 2 i. V. m. Abs. 1 VwGO empfohlen (vgl. HessVGH, Beschluss vom 23.1.2019 – 5 B 2364/18 – juris Rn. 4; BayVGH, Beschluss vom 5.3.2015 – 6 CS 15.368 – juris Rn. 8; NdsOVG, Beschluss vom 30.1.2008 – 1 ME 270/07 – juris Rn. 6 m. w. N.). Zum hier maßgeblichen Zeitpunkt der Antragstellung bei Gericht am 29. Juni 2021 waren lediglich 14 Tage seit der Antragstellung bei der Antragsgegnerin am 15. Juni 2021 vergangen. Binnen dieser kurzen Frist durften die Antragsteller nicht mit einer Entscheidung der Antragsgegnerin rechnen; eine angemessene Frist war zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgelaufen.

Schließlich ist der Antrag der Antragsteller auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage auch nicht gemäß § 80 Abs. 6 Satz 2 Nr. 2 VwGO ausnahmsweise zulässig. Nach dieser Vorschrift gilt das Erfordernis der vorherigen erfolglosen Antragstellung bei der Behörde nach § 80 Abs. 6 Satz 1 VwGO nicht, wenn eine Vollstreckung droht. Eine Vollstreckung droht erst dann, wenn der Beginn konkreter Vollstreckungsmaßnahmen von der Behörde für einen unmittelbar bevorstehenden Termin angekündigt worden ist, konkrete Vorbereitungen der Behörde für eine alsbaldige Vollstreckung getroffen worden sind oder die Vollstreckung bereits begonnen hat (vgl. NdsOVG, Beschluss vom 27.8.2010, a. a. O., Rn. 5). Die Antragsteller haben nicht dargelegt, dass diese Voraussetzung zum maßgeblichen Zeitpunkt der Antragstellung beim Verwaltungsgericht am 29. Juni 2021 erfüllt gewesen wäre.

2.

Ohne dass es darauf noch entscheidungstragend ankäme, teilt der Senat die Auffassung des Verwaltungsgerichts, wonach der Antrag der Antragssteller auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage jedenfalls (auch) unbegründet ist. Entgegen der Auffassung der Antragsteller ist die Erhebung von Straßenausbaubeiträgen mit Bescheid vom 10. Juni 2021 – nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung – nicht wegen einer wirksamen Ablösungsvereinbarung ausgeschlossen.

Voraussichtlich zu Recht haben die Antragsgegnerin und das Verwaltungsgericht darauf hingewiesen, dass die Vereinbarung vom 4. November 1957 – nach einer entsprechenden Auslegung – nur für Erschließungsbeiträge für die erstmalige endgültige Herstellung der Straße G. und nicht für Straßenausbaubeiträge nach § 6 NKAG eine Ablösungswirkung hat. Der Senat nimmt zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug auf die Ausführungen des Verwaltungsgerichts in seinem Beschluss vom 7. Oktober 2021, die von den Antragstellern nicht mit überzeugenden Argumenten in Frage gestellt worden sind. Insbesondere handelt es sich nicht um „schlichte Wortklauberei“, sondern um eine sachgerechte und gesetzeskonforme Auslegung der Vereinbarung unter Berücksichtigung der verschiedenen Rechtsinstitute und Beitragsarten (Erschließungsbeiträge und Straßenausbaubeiträge).

Das Ergebnis entspricht – entgegen der Auffassung der Antragsteller – auch den Urteilen des Verwaltungsgerichts Hannover – 1. Kammer Osnabrück – vom 24. Juni 1980 (1 OS VG A 1159/79) und des Oberverwaltungsgerichts für die Länder Niedersachsen und Schleswig-Holstein vom 23. September 1981 (9 OVG A 119/80), mit denen sich das Verwaltungsgericht ebenfalls auseinandergesetzt hat. In den Urteilen heißt es, dass die Erschließungsbeitragspflicht durch den Vertrag vom 4. November 1957 wirksam abgelöst worden ist. Von einer Ablösung der Straßenausbaubeitragspflicht wird in den Urteilen gerade nicht ausgegangen. Dass die Vereinbarung vom 4. November 1957 keine Ablösungswirkung für Straßenausbaubeiträge hat, ergibt sich dabei insbesondere auch aus den vom Verwaltungsgericht zitierten Passagen in dem Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover auf Seite 5 („Der dort vereinbarte Betrag war nicht ein Entgelt für die Befreiung vom Anbauverbot, sondern diente ersichtlich der Begleichung der auf das Grundstück entfallenden Kosten für die erstmalige endgültige Herstellung des G.. Daraus ergibt sich zugleich, dass die Befürchtung der Beklagten unbegründet ist, der Kläger könne sich auch bei Erneuerungs- und Verbesserungsmaßnahmen nach dem Niedersächsischen Kommunalabgabengesetz auf diesen Vertrag berufen.“) und in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts für die Länder Niedersachsen und Schleswig-Holstein auf Seite 15 („Der Bescheid kann ebenfalls nicht als Beitragsbescheid nach § 6 des Niedersächsischen Kommunalabgabengesetzes vom 8. Februar 1973 (GVBl. S. 41) aufrechterhalten werden. Zwar ist es richtig, dass die Ablösung die Beiträge nach diesem Gesetz nicht erfassen würde.“). Unmissverständlich weist das Oberverwaltungsgericht für die Länder Niedersachsen und Schleswig-Holstein damit darauf hin, dass der Ablösungsvertrag vom 4. November 1957 spätere Beiträge nach § 6 NKAG, d. h. auch die streitigen Straßenausbaubeiträge, nicht erfasst.

Schließlich hat das Verwaltungsgericht – als Hilfsüberlegung – zu Recht darauf hingewiesen, dass das Erfordernis der Offenlegung im Falle einer – unterstellten – Vereinbarung von Ablösungsbeträgen für verschiedene Beitragsarten (z. B. Erschließungsbeitrag und Straßenausbaubeitrag) eine getrennte Ausweisung der jeweiligen Ablöseteile erfordern würde. Diesem Erfordernis wird die Vereinbarung vom 4. November 1957 nicht gerecht. Damit setzen sich die Antragsteller nicht auseinander.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2, 159 Satz 2 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG unter Berücksichtigung von Ziffer 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (NordÖR 2014, 11). Danach beträgt der Streitwert ein Viertel des für das Hauptsacheverfahren anzunehmenden Streitwerts und damit 1.674,00 EUR (= 6.696,00 EUR gemäß Bescheid vom 10. Juni 2021 x 0,25).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).