Verwaltungsgericht Göttingen
Beschl. v. 18.04.2019, Az.: 2 B 487/18
Nachzahlungszinsen; Sanierungserlass; Sanierungsgewinn; unbillige Härte
Bibliographie
- Gericht
- VG Göttingen
- Datum
- 18.04.2019
- Aktenzeichen
- 2 B 487/18
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2019, 70108
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 233 a AO 1977
- § 238 AO 1977
- § 80 Abs 2 S 1 Nr 1 VwGO
- § 80 Abs 4 VwGO
- § 80 Abs 6 VwGO
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Nachzahlungszinsen gemäß § 233a AO sind keine Abgaben im Sinne des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO. Eine in der Hauptsache erhobene Anfechtungsklage hat da-her aufschiebende Wirkung gemäß § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO (wie Niedersächsi-sches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 08.07.2013 - 9 ME 110/12 -, juris).
Bei summarischer Überprüfung besteht keine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Höhe der Nachzahlungszinsen von 0,5 % pro Monat für den Zins-zeitraum von April 2012 bis November 2018 verfassungswidrig ist.
Gründe
I.
Die Antragstellerin wendet sich gegen die Erhebung der Gewerbesteuer und Nachzahlungszinsen für das Jahr 2010.
Die Antragstellerin unterhielt im Jahr 2010 im Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners eine Betriebsstätte und ist bei ihm im Rahmen der Zerlegung gewerbesteuerpflichtig.
Mit Schreiben vom 14.07.2010 bat die Antragstellerin den Antragsgegner um Zusicherung, dass er sich für den Veranlagungszeitraum 2010 und 2011 der verbindlichen Auskunft des Finanzamts Gera vom 03.06.2010 anschließe. Dort wurden Forderungsverzichte der Gläubiger als Sanierungsgewinne eingestuft. Der Antragsgegner wurde gebeten, die Einstufung als Sanierungsgewinn aus gewerbesteuerrechtlicher Sicht zu bestätigen. Sie - die Antragstellerin - befinde sich in wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Gläubiger hätten sich zu einem Forderungsverzicht bereit erklärt. Zudem würden weitere Sanierungsmaßnahmen in Form von Werksverkäufen durchgeführt. Der Antragsgegner lehnte einen Forderungsverzicht für die Jahre 2010 und 2011 am 18.10.2010 ab. Im Jahr 2012 wurde die Versagung des Erlasses der Gewerbesteuer gegenüber einem anderen Bevollmächtigten der Antragstellerin bestätigt.
Laut Änderungsbescheid des Finanzamts Rosenheim vom 20.11.2018 über die Zerlegung des Gewerbesteuermessbetrags für die beteiligte Gemeinde für den Erhebungszeitraum 2010 entfiel auf den Antragsgegner ein Zerlegungsanteil von 95.852,72 Euro. In der Anlage dazu heißt es, dass eventuelle Billigkeitsmaßnahmen i. S. d. § 163 AO nach dem sog. „Sanierungserlass“ des Bundesfinanzministeriums nicht der Finanzverwaltung oblägen, sondern den hebeberechtigten Gemeinden. Zur Entscheidungsfindung werde mitgeteilt: Die Höhe des Sanierungsgewinns betrage 106.828.752 Euro, die Höhe des noch nicht verrechneten Verlusts 42.921.285 Euro, bei der anteiligen Verteilung auf die einzelnen zerlegungsberechtigten Gemeinden ergäben sich für den Antragsgegner 13,38 %. Es werde ferner darauf hingewiesen, dass nicht alle zerlegungsberechtigten Gemeinden einem abweichenden Verlustabzug aus Billigkeitsgründen zugestimmt hätten.
Mit Bescheid vom 26.11.2018 setzte der Antragsgegner die Gewerbesteuer für 2010 auf 359.447,70 Euro fest. Dabei legte er den o.g. Zerlegungsanteil und einen Hebesatz von 375 % zu Grunde. Die bisherige Festsetzung von 89.219,70 Euro werde geändert. Der Unterschiedsbetrag von 270.228,00 Euro sei nachzuzahlen. Durch einen weiteren Bescheid gleichen Datums setzte der Antragsgegner Nachzahlungszinsen auf den (gerundeten) Nachzahlungsbetrag für den Zeitraum vom 01.04.2012 bis zum 29.11.2018 in Höhe von 0,50 % je Monat, insgesamt 106.729,00 Euro für 79 Monate fest.
Mit Schreiben vom 17.12.2018 beantragte die Antragstellerin bei dem Antragsgegner den Erlass der Gewerbesteuer 2010 einschließlich Nebenleistungen, hilfsweise die Stundung der festgesetzten Nachzahlungen und der Zinsen, sowie gemäß § 361 AO die Aussetzung der Vollziehung. Zur Begründung führte sie an, nach den inzwischen geltenden §§ 36 Abs. 2 c, 7 b GewStG sei die Gewerbesteuer auf Sanierungsgewinne auf Antrag in einem Altfall wie hier zu erlassen. Das Urteil des Bundesfinanzhofs vom 23.08.2017 sei auf Grund eines Erlasses des Bundesfinanzministeriums vom 29.03.2018 nicht anzuwenden. Außerdem habe das Finanzamt Rosenheim mit Änderungsbescheid vom 20.11.2018 über Körperschaftssteuer und Solidaritätszuschlag 2010 den Sanierungsgewinn aus Billigkeitsgründen (§ 163 AO) vollständig erlassen. Ein solcher Erlass müsse aus Gründen der Billigkeit und der Einheitlichkeit der Besteuerung auch bei der Gewerbesteuer erfolgen. Der Sanierungserlass sei frühzeitig im Jahr 2010 bei dem Antragsgegner beantragt worden. Der Antrag sei zwar abgelehnt worden. Mittlerweile habe sich jedoch die Sach- und Rechtslage durch die Änderung des GewStG und den neuen Körperschaftssteuerbescheid geändert.
Die Antragstellerin hat am 17.12.2018 Klage gegen die Bescheide vom 26.11.2018 erhoben und einen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gestellt. Sie hat weder Klage noch Eilantrag begründet.
Mit Schreiben vom 28.01.2019 hat der Antragsgegner die Anträge auf Erlass, Stundung und Aussetzung der Vollziehung ohne Rechtsbehelfsbelehrung abgelehnt. Rat und Verwaltung hätten der Antragstellerin damals alle Möglichkeiten zum Betrieb eines Gewerbes eingeräumt, so dass die gesetzlich vorgegebenen Steuern gezahlt werden sollten.
Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,
die aufschiebende Wirkung ihrer Klage (2 A 486/18) gegen die Bescheide vom 26.11.2018 anzuordnen.
Aus dem Klageabweisungsantrag des Antragsgegners ergibt sich sein Antrag,
den Eilantrag abzulehnen.
Er hält den Eilantrag für unzulässig.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze Bezug genommen. Diese Unterlagen sind Gegenstand der Beschlussfassung gewesen.
II.
Der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes hat keinen Erfolg.
A. Er ist bereits unzulässig.
I. Soweit es den Bescheid über die Festsetzung der Gewerbesteuer betrifft, ist der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO statthaft, weil es um die Anforderung von öffentlichen Abgaben geht. § 123 VwGO ist nicht einschlägig, weil keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass das Finanzamt die Vollziehung des Grundsteuermessbescheids ausgesetzt hat (vgl. dazu: OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 18.08.2009 - 2 M 114/09 -, juris, Rn. 9, m.w.N.).
Der Antrag ist hinsichtlich des Bescheids über die Festsetzung der Gewerbesteuer unzulässig, weil es die Antragstellerin entgegen § 80 Abs. 6 i.V.m. Abs. 2 Nr. 1 VwGO unterlassen hat, vor Anrufung des Gerichts eine Ablehnung des mit Schreiben vom 17.12.2018 beim Antragsgegner gestellten Antrags auf Aussetzung der Vollziehung abzuwarten. Bei dieser Regelung handelt es sich um eine Zugangsvoraussetzung zum gerichtlichen Verfahren (Nds. OVG, Beschluss vom 27.08.2010 - 4 ME 164/10 -, juris, Rn. 3 ff.). Das Abwarten einer solchen Entscheidung war der Antragstellerin nicht unzumutbar. Die Ausnahmen des § 80 Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 und 2 VwGO liegen nicht vor.
§ 80 Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 VwGO liegt nicht vor, weil der Antragsgegner ohne unangemessenen Zeitverzug über den Aussetzungsantrag gem. § 361 AO entschieden hat. Antragstellung bei Gericht und Antragsgegner erfolgte mit Schreiben vom selben Tag. Ungeachtet der Fragen, ob das Schreiben den Antragsgegner tatsächlich bereits am 17.12.2018 per Fax erreicht hat und ob der Antrag nach § 361 AO zugleich einen solchen nach § 80 Abs. 6 und Abs. 4 VwGO darstellt, hatte der Antragsgegner keine Möglichkeit, über den an ihn gerichteten Aussetzungsantrag vor Stellung des gerichtlichen Eilantrags zu entscheiden. Von einem Zeitverzug oder gar einem unangemessenen Zeitverzug kann daher keine Rede sein.
§ 80 Abs. 6 Satz 2 Nr. 2 VwGO liegt nicht vor, weil eine Vollstreckung nicht gedroht hat. Es ist nicht ersichtlich, dass der Antragsgegner vor Anrufung des Gerichts den Beginn von Vollstreckungsmaßnahmen für einen unmittelbar bevorstehenden Termin angekündigt oder konkrete Vorbereitungen für eine alsbaldige Vollstreckung getroffen hatte. Die Formulierung in dem angegriffenen Bescheid „[…] haben Sie evtl. entstehende Mahngebühren und Vollstreckungskosten zu zahlen“ stellt ersichtlich keine Vollstreckungsankündigung dar.
II. Soweit es den Bescheid über die Festsetzung von Nachzahlungszinsen betrifft, ist der Eilantrag unstatthaft. Bei den im Klageverfahren angefochtenen Nachzahlungszinsen gemäß § 233a AO handelt es sich nicht um Abgaben im Sinne des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO, sodass die in der Hauptsache sinngemäß erhobene Anfechtungsklage aus diesem Grund aufschiebende Wirkung gemäß § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO hat. Die Kammer folgt der überzeugenden Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts (Beschluss vom 08.07.2013 - 9 ME 110/12 -, juris; ebenso: Loose in: Tipke/Kruse, AO/FGO, 153. Lieferung 08.2018, § 233a AO Rn. 82; a.A. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 14.09.2017 - 14 B 939/17 -, juris; vom 25.02.2019 - 14 B 1759/18 -, juris), das ausgeführt hat:
„Nach § 80 Abs. 2 Satz 1 VwGO entfällt die der Anfechtungsklage grundsätzlich zukommende aufschiebende Wirkung (§ 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO) nur in den nachfolgend gesetzlich geregelten Fällen, insbesondere bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 VwGO. Unter die öffentlichen Abgaben im Sinne dieser Vorschrift fallen jedoch nicht alle Geldleistungen, die ein Hoheitsträger durch Verwaltungsakt anfordert, sondern nur diejenigen Geldleistungen, denen eine Finanzierungsfunktion zugunsten öffentlicher Haushalte zukommt (hierzu grundlegend OVG Lüneburg, Beschluss vom 27.1.1988 - 9 B 104/87 - NVwZ-RR 1989, 325).
[…]
Die Verzinsung von Steuernachforderungen und Steuererstattungen gemäß § 233a AO wurde durch das Steuerreformgesetz 1990 vom 25. Juli 1988 (BGBl. I S. 1093) eingeführt und bewirkt eine beschränkte Vollverzinsung bestimmter Steuerarten (Einkommen-, Körperschaft-, Vermögen-, Umsatz- und Gewerbesteuer). Der Zinsanspruch entsteht unabhängig von der Fälligkeit der Steuernachzahlungs- oder -erstattungsbeträge für einen bestimmten Zeitraum nach der Entstehung des Anspruchs bis zur Wirksamkeit der Steuerfestsetzung und knüpft allein an die objektive Möglichkeit an, dass Zins- oder Liquiditätsvorteile entstehen (hierzu im Einzelnen: Loose in Tipke/Kruse, Kommentar zur AO und FGO, Stand: 131. Erg.Lfg. 2012, § 233a, Rn. 1- 3 m. w. Nw.). Ausweislich der Begründung zum Gesetzentwurf des Steuerreformgesetzes 1990 soll die durch § 233a AO eingeführte allgemeine Verzinsung von Steuernachforderungen und Steuererstattungen einen Ausgleich dafür schaffen, dass die Steuern bei den einzelnen Steuerpflichtigen - aus welchen Gründen auch immer - zu unterschiedlichen Zeitpunkten festgesetzt und fällig werden. Steuernachforderungen und -erstattungen sollen daher grundsätzlich nach Ablauf einer Karenzzeit von 15 Monaten seit Ende des Steuerjahrs bis zur Fälligkeit des Anspruchs verzinst werden (BT-Drucks. 11/2157, S. 194). Hiervon ausgehend dient die Verzinsung von Steuernachforderungen und Steuererstattungen gemäß § 233a AO gerade nicht vorrangig der Finanzierung öffentlicher Haushalte, zumal dieser Zinsanspruch nicht einseitig zugunsten der öffentlichen Hand entsteht. Vielmehr sollen nach dem Sinn und Zweck der Regelung Zins- oder Liquiditätsvorteile aus Gründen der Gleichmäßigkeit der Besteuerung abgeschöpft werden (hierzu BFH, Urteil vom 2.7.1997 - I R 25/96 - BFHE 183, 33), und zwar sowohl zugunsten des Steuergläubigers (als Nachzahlungszinsen) als auch zu seinen Lasten (als Erstattungszinsen). Der beschriebene Zweck der gesetzlichen Zinsregelung schließt es aus, die Zinsansprüche gemäß § 233a AO pauschal mit anderen akzessorischen Zinsansprüchen mit vorrangiger Finanzierungsfunktion - wie Aussetzungszinsen - gleichzusetzen und sie als öffentliche Abgaben im Sinne des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 VwGO anzusehen (a. A. VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 22.2.2013 - 5 L 1774/12 - unter Bezugnahme auf VG Ansbach, Beschluss vom 11.4.2006 - AN 11 S 05.04308 -; VG München, Beschluss vom 4.2.2008 - M 10 S 07.5861 - jeweils zitiert nach juris).“
B. Darüber hinaus ist der Eilantrag im Hinblick auf beide Bescheide unbegründet.
Gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1, 1. Alt. VwGO kann das Gericht die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage in den Fällen des § 80 Abs. 2 Nr. 1 VwGO durch Beschluss anordnen. In entsprechender Anwendung des § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO soll eine Aussetzung der Vollziehung bei öffentlichen Abgaben dann erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgabenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.
Bei der vom Gericht gemäß § 80 Abs. 5 VwGO zu treffenden Interessenabwägung kann nicht außer Acht gelassen werden, dass der Gesetzgeber in § 80 Abs. 2 Nrn. 1 - 3 VwGO eine generalisierende Interessenabwägung getroffen hat, wonach für bestimmte Arten von Entscheidungen ein Vorrang des öffentlichen Vollzugsinteresses statuiert wird. Das Gericht hat deshalb die in § 80 Abs. 2 Nr. 1 VwGO getroffene Wertung, dass das Vollzugsinteresse hinsichtlich öffentlicher Abgaben in der Regel Vorrang vor den Belangen des Betroffenen hat, vor der rechtskräftigen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Einforderung von Abgaben von Vollzugsmaßnahmen verschont zu bleiben, nachzuvollziehen (Bayerischer VGH, Beschluss vom 03.12.2015 - 7 AS 15.2585 - juris; vgl. auch Schmidt in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 80 Rn. 69). Ernstliche Zweifel können dabei auch verfassungsrechtlicher Art sein und sich etwa auf die den angefochtenen Bescheiden zugrundeliegenden Rechtsvorschriften beziehen. In diesem Fall müssen sich diese Zweifel bei summarischer Prüfung aber geradezu aufdrängen, d.h. die Rechtswidrigkeit muss überwiegend wahrscheinlich sein.
Dass der Bundesfinanzhof den Begriff der ernstlichen Zweifel in § 69 Abs. 3 Satz 1 FGO i.V.m. § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO in ständiger Rechtsprechung anders auslegt, ändert daran nichts (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 25.02.2019 - 14 B 1759/18 -, Rn. 4 f.; vom 14.09.2017 - 14 B 939/17 -, Rn. 2 - 7; jeweils juris).
I. Der Gewerbesteuerbescheid 2010 begründet weder eine unbillige Härte (1.) noch ist er mit überwiegender Wahrscheinlichkeit rechtswidrig (2.).
1. Eine unbillige Härte ist nicht gegeben.
Eine unbillige Härte i.S.d. § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO ist anzunehmen, wenn die Zahlung dem Betroffenen nicht wiedergutzumachenden Schaden zufügt, weil er auch durch eine etwaige spätere Rückzahlung nicht ausgeglichen werden kann, etwa wenn die Zahlung die Insolvenz herbeiführt oder sonst zur Existenzvernichtung führen kann (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 25.02.2019 - 14 B 1759/18 -, juris, Rn. 19 f. m.w.N.). Die unbillige Härte ist vergleichbar mit der Erlassbedürftigkeit des Steuerpflichtigen im Rahmen eines Steuererlasses wegen persönlicher Unbilligkeit i.S.d. § 227 AO (dazu: Sächsisches OVG, Urteil vom 05.11. 2018 - 5 A 99/16 -, juris, Rn. 20). Insoweit hat die Antragstellerin als juristische Person nichts Substantiiertes vorgetragen und ist auch nichts ersichtlich.
Soweit die Antragstellerin im Hinblick auf eine Unbilligkeit aus sachlichen Gründen in ihrem behördlichen Aussetzungsantrag auf §§ 36 Abs. 2 c, 7 b GewStG, Rundschreiben des Bundesfinanzministeriums und einen geänderten Körperschaftssteuerbescheid verweist, vermag dies ebenfalls keine unbillige Härte nach § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO zu begründen. Zum einen kann eine Aussetzung aus allgemeinen sachlichen Billigkeitsgründen nicht auf § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO gestützt werden (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 07.07.1997 - 3 B 1179/95 -, juris, Rn. 16 f.; Kopp/Schenke, VwGO, 24. Aufl. 2018, § 80 Rn. 116). Zum anderen greifen die Argumente auch in der Sache nicht durch:
a) Aus der Neuregelung über die steuerliche Behandlung von Sanierungsgewinnen in §§ 36 Abs. 2 c, 7 b GewStG i. V. m. § 3a und § 3c Abs. 4 EStG folgt, dass die Frage des Vorliegens von Sanierungsmaßnahmen durch das Finanzamt im Rahmen des Festsetzungsverfahrens des Gewerbesteuermessbetrags zu klären ist und nicht durch die Gemeinde bei der Erhebung der Gewerbesteuer (so auch: Ziffer I des Schreibens des Landesamts für Steuern Niedersachsen vom 14.03.2019, G 1498-16-St 252, FMNR09b340019, Gewerbesteuerliche Behandlung von Sanierungsgewinnen; hier: Steuerstundung und Steuererlass aus sachlichen Billigkeitsgründen durch die Gemeinde; Behandlung von Altfällen; juris).
Das Verwaltungsgericht Dresden (Urteil vom 26.02.2019 - 2 K 1719/18 -, juris Rn. 20 - 22) hat insoweit in einem vergleichbaren Fall zu § 36 Abs. 2 c GewStG ausgeführt:
„Ist es infolge einer Sanierung eines Unternehmens zu einer Gewinnerhöhung gekommen, scheidet insofern ein Anspruch gegen die Gemeinde aus § 227 AO aus. Eine sachliche Unbilligkeit ist nicht zu prüfen, denn der Bundesgesetzgeber ordnet Fälle, in denen Gläubiger Schulden erlassen haben, um ein Unternehmen zu sanieren, der Ebene der Festsetzung des Gewerbesteuermessbetrags und damit nach § 22 AO dem Finanzamt zu. Das folgt aus § 36 Abs. 3c GewStG in der Fassung des "Gesetzes zur Vermeidung von Umsatzsteuerausfällen beim Handel im Internet und zur Änderung weiterer steuerrechtlicher Vorschriften" vom 11. Dezember 2018. Danach ist § 7b GewStG in der Fassung des Art. 4 des Gesetzes vom 27. Juni 2017 erstmals in den Fällen anzuwenden, in denen Schulden ganz oder teilweise nach dem 8. Februar 2017 erlassen wurden (§ 36 Abs. 3c Satz 1 GewStG). § 36 Abs. 3c Satz 3 GewStG erweitert den Anwendungsbereich der Regelung, indem er bestimmt, dass auf Antrag des Steuerpflichtigen § 7b GewStG auch in den Fällen anzuwenden ist, in denen die Schulden vor dem 9. Februar 2017 erlassen wurden. Gemäß § 7b GewStG sind die § 3a und § 3c Abs. 4 EStG vorbehaltlich der nachfolgenden Absätze des § 7b GewStG bei der Ermittlung des Gewerbeertrags entsprechend anzuwenden. Damit ordnet der Bundesgesetzgeber Fälle, in denen es durch eine unternehmensbezogene Sanierung zu einer Steigerung des Gewinns und daher der Gewerbesteuerschuld gekommen ist, auch rückwirkend der Ebene der Festsetzung des Gewerbesteuermessbetrags zu. Gemäß § 3a Abs. 1 Satz 1 EStG sind Betriebsvermögensmehrungen oder Betriebseinnahmen aus einem Schuldenerlass zum Zweck einer unternehmensbezogenen Sanierung im Sinne des § 3a Abs. 2 EStG (Sanierungsvertrag) steuerfrei. Eine unternehmensbezogene Sanierung liegt vor, wenn der Steuerpflichtige für den Zeitpunkt des Steuererlasses die Sanierungsbedürftigkeit und die Sanierungsfähigkeit des Unternehmens, die Sanierungseignung des betrieblich begründeten Schuldenerlasses und die Sanierungsabsicht der Gläubiger nachweist. Die Entscheidung über die gewerbesteuerrechtlichen Auswirkungen eines Sanierungsgewinns ist dem zuständigen Finanzamt des Freistaates Sachsen zugewiesen, denn für die Festsetzung und Zerlegung der steuerlichen Messbeträge ist bei einer Gewerbesteuer das Betriebsfinanzamt (§ 18 Abs. 1 Satz 1 AO) zuständig (vgl. § 22 Abs. 1 AO). Da sich § 36 Abs. 3c Satz 3 GewStG Rückwirkung beimisst, ist er hier anzuwenden, ungeachtet des Umstandes, dass es für die Prüfung einer Erlassentscheidung auf den Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung ankommt.
[...]
Die oben genannten steuerrechtlichen Bestimmungen der § 36c Abs. 3c, § 7b GewO i. V. m. § 3a und § 3c EStG sind leges speciales gegenüber der allgemeinen Regelung des § 227 AO. Solange der Gewerbesteuermessbetrag, den das Finanzamt durch Grundlagenbescheid i.S.d. § 171 Abs. 10 AO festgesetzt hat, nicht geändert wird, entspricht die in Rede stehende Steuerhöhe der gesetzlichen Konzeption.“
Diesen Ausführungen schließt sich die Kammer für den vorliegenden Fall an. Die Anwendbarkeit der gewerbesteuerrechtlichen Neuregelung ergibt sich daraus, dass die Kammer zu Gunsten der Antragstellerin deren Auffassung folgt, sie habe einen Antrag nach § 36 Abs. 2 c Satz 3 GewStG gestellt.
b) Die Antragstellerin vermag sich im verwaltungsgerichtlichen Verfahren nicht auf den "Sanierungserlass" des Bundesministeriums der Finanzen vom 27.03.2003, ergänzt durch Schreiben vom 27.04.2017 und 29.03.2018 zu stützen. Denn diese Verfügung ist unwirksam. Sie verstößt gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung.
Wenn ein Sanierungsgewinn dadurch entstanden ist, dass die Schulden vor dem 09.02.2017 erlassen worden sind, kommt in einem (finanz)gerichtlichen Verfahren nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs weder eine Befreiung von Ertragssteuern noch eine Billigkeitsmaßnahme nach den Schreiben des Bundesfinanzministeriums vom 27.03.2003 (- IV A 6 - S 2140 - 8/03, BStBl. I 2003, 240) oder vom 27.04.2017 (- IV C 6 - S 2140/13/10003 - DOK 2017/0322100, BStBl. I 2017, 741 = GmbHR 2017, 608) in Betracht. Dies gilt auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass die Finanzverwaltung die diesbezüglichen Entscheidungen des Bundesfinanzhofs gemäß Schreiben des Bundesfinanzministeriums vom 29.03.2018 (- IV C 6 - S 2140/13/10003, 2018/0193836 -, BStBl I 2018, 588 = GmbHR 2018, 496) nicht anwendet. In finanzgerichtlichen Verfahren können Billigkeitsmaßnahmen in Sanierungsfällen nur auf besondere, außerhalb des Schreibens des Bundesfinanzministeriums vom 27.03.2003 liegende Gründe des Einzelfalls, insbesondere auf persönliche Billigkeitsgründe gestützt werden (BFH, Beschluss vom 08.05.2018, VIII B 124/17, juris = GmbHR 2018, 862, Rn. 7 f.; vom 16.04.2018 - X B 13/18 -, juris = GmbHR 2018, 760).
Dies gilt auch im vorliegenden Fall. Ergänzend folgt die Kammer auch hier der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts Dresden (Urteil vom 26.02.2019 - 2 K 1719/18 -, juris Rn. 24 f.):
„Art. 20 Abs. 3 GG bindet die vollziehende Gewalt und damit auch ein Ministerium an Gesetz und Recht. Die Finanzbehörden sind nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, die wegen Verwirklichung eines steuerrechtlichen Tatbestands entstandenen Ansprüche (§ 38 AO) gleichmäßig (vgl. § 85 Abs. 1 AO) festzusetzen und zu erheben. Mit der Aufhebung des § 3 Nr. 3 a EStG a.F. durch das Gesetz zur Unternehmenssteuerreform vom 29. Oktober 1997 kam der Wille des Gesetzgebers deutlich zum Ausdruck, Sanierungsgewinne künftig nicht mehr zu privilegieren. Ein Sanierungsgewinn ist danach steuerrechtlich genauso zu behandeln wie jeder andere durch Betriebsvermögensvergleich ermittelte Gewinn. Dies entspricht seit jeher der Rechtsprechung der Kammer (vgl. zuletzt VG Dresden, Urteil vom 20. Februar 2018 – 2 K 4467/17).
Der Kläger kann sich nicht auf ein Vertrauen in die bisherige Rechtslage berufen. Ein schützenswertes Vertrauen des Steuerpflichtigen ist nur gegeben, wenn als Grundlage eine gesicherte, für die Meinung des Steuerpflichtigen sprechende Rechtsauffassung bestanden hat und die Rechtslage nicht zweifelhaft erschien (vgl. BFH, Urteil vom 23. August 2017 – IR 52/14 – mwN). Die Kammer hat bereits mit Urteil vom 16. Februar 2010 – 2 K 1662/07 –, das zwischen den Streitbeteiligten ergangen ist, darauf hingewiesen, dass dem Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom 27. März 2003 für die Gemeinden angesichts von deren alleiniger Zuständigkeit für die Erhebung der Gewerbesteuer nach § 1 GewStG keine Bindungswirkung zukommt und das Schreiben auch im Übrigen rechtlich erheblichen Bedenken begegnet. Ebenso ist dessen Legalität im Schrifttum (vgl. Schmidt/ Heinicke, Einkommensteuergesetz, § 4 Rand Ziffer 460) und der Rechtsprechung sowohl der Verwaltungsgerichte als auch der Finanzgerichte (vgl. FG München, Urteil vom 12. Dezember 2007 – 1 K 4487/06) schon frühzeitig infrage gestellt worden.“
c) Auch das Argument der Antragstellerin, der Erlass der Körperschaftssteuer 2010 müsse den Erlass der Gewerbesteuer nach sich ziehen, teilt die Kammer nicht. Die Antragsgegnerin ist bei der Festsetzung der Gewerbesteuer nicht an eine Entscheidung eines Finanzamts zur Körperschaftssteuer gebunden.
2. Anhaltspunkte für eine Rechtswidrigkeit des Gewerbesteuerbescheids 2010 sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Unterbleibt eine - nach § 163 Abs. 1 Satz 1 AO mögliche - Billigkeitsentscheidung im Festsetzungsverfahren, ist der Festsetzungsbescheid selbst dann nicht rechtswidrig, wenn der Billigkeitsgrund von Amts wegen hätte berücksichtigt werden müssen (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 07.07.1997 - 3 B 1179/95 -, juris, Rn. 12 f. m.w.N.). Daher kann von einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit, dass die Klage der Antragstellerin Erfolg haben wird, nicht ausgegangen werden. Es verbleibt somit bei der in § 80 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zum Ausdruck kommenden Interessenbewertung.
II. Bezüglich des Bescheids zu den Nachzahlungszinsen auf die Gewerbesteuer 2010 ist für eine unbillige Härte bereits nichts vorgetragen bzw. kann nach oben verwiesen werden. Auch ist der Bescheid nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit rechtswidrig.
Bei summarischer Überprüfung besteht keine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür, dass die in § 238 Abs. 1 Satz 1 AO geregelte Höhe der Nachzahlungszinsen auf verschiedene Steuern in Höhe von 0,5 % pro Monat für den hier in Rede stehenden Zinszeitraum vom 01.04.2012 bis zum 29.11.2018 verfassungswidrig ist.
Von einer übermäßigen Belastung der Steuerpflichtigen kann auch in Anbetracht der seit der Finanzkrise geltenden ungewöhnlich niedrigen Zinssätze nicht ausgegangen werden. Eine so weitgehende Veränderung der wirtschaftlichen Verhältnisse, dass selbst bei Einbeziehung der für den Kreditnehmer ungünstigsten Sollzinssätze namentlich bei unbesicherten Kreditformen bzw. der für den Vermögensanleger günstigsten Renditen ein Zinsfuß von 0,5% pro Monat als gänzlich markt- und realitätsfremd und damit als wirtschaftlich unzumutbar erschiene, hat die höchstrichterliche Rechtsprechung nicht nur für eine Reihe früherer Steuerjahre (vgl. BVerfG, Beschluss vom 03.09.2009 - 1 BvR 2539/07-, juris, Rn. 29; BFH, Urteil vom 01.07.2014 - IX R 31/13 - BFHE 246, 193 = juris, Rn. 12 ff.), sondern bisher auch für den Zeitraum bis Ende 2013 nicht zu erkennen vermocht (BFH, Beschluss vom 19.02.2016 - X S 38/15 [PKH] -, juris, Rn. 29).
Weshalb sich an dieser rechtlichen Beurteilung für das nachfolgende Jahr bis Ende 2014 etwas Grundlegendes geändert haben könnte, ist nicht ersichtlich. Das bloße Fortdauern der Niedrigzinsphase kann jedenfalls nicht dazu führen, dass sich eine bisher verfassungsmäßige Zinshöhe nunmehr für die Steuerpflichtigen übermäßig belastend auswirken würde (Bayerischer VGH, Beschluss vom 10.08.2017 - 4 ZB 17.279 -, juris, Rn. 15, 20, für den Zeitraum bis Ende Juni 2014; Verfassungsbeschwerde anhängig; 1 BvR 2422/17).
Dies sieht die Kammer auch für die folgenden Jahre bis zum Ende des her streitgegenständlichen Zeitraums (29.11.2018) so. Insoweit folgt sie vollumfänglich den überzeugenden Ausführungen des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen im Beschluss vom 25.10.2018 (- 14 B 1366/18 -, juris, Rn. 6-22; ergänzend: Beschluss vom 25.02.2019 - 14 B 1759/18 -, juris, Rn. 18; vorangehend: Beschluss vom 14.09.2017 - 14 B 939/17 -, Rn. 8 ff.):
„§ 238 Abs. 1 Satz 1 AO ist nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit verfassungswidrig. Nach dieser Vorschrift betragen die Zinsen für jeden Monat einhalb Prozent. Dies verstößt nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Nach dieser Vorschrift sind alle Menschen vor dem Gesetz gleich. Sie gebietet, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Im Bereich des Steuerrechts hat der Gesetzgeber dabei einen weitreichenden Entscheidungsspielraum. Steuergesetze betreffen in der Regel Massenvorgänge des Wirtschaftslebens. Sie müssen daher, um praktikabel zu sein, Sachverhalte, an die sie dieselben steuerlichen Folgen knüpfen, typisieren und damit in weitem Umfang die Besonderheiten des einzelnen Falls vernachlässigen. Die wirtschaftlich ungleiche Wirkung auf die Steuerzahler darf allerdings ein gewisses Maß nicht übersteigen. Vielmehr müssen die steuerlichen Vorteile der Typisierung im rechten Verhältnis zu der mit der Typisierung notwendig verbundenen Ungleichheit der steuerlichen Belastung stehen. Außerdem darf eine gesetzliche Typisierung keinen atypischen Fall als Leitbild wählen, sondern muss sich realitätsgerecht am typischen Fall orientieren.
Vgl. BVerfG, Beschluss vom 3. September 2009 - 1 BvR 2539/07 -, NVwZ 2010, 902 (903), Rdnr. 16 f.
Ausgehend von diesen Maßstäben besteht nach summarischer Prüfung keine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür, dass sich § 238 Abs. 1 Satz 1 AO mit der vorgeschriebenen Verzinsung von einhalb Prozent pro Monat (6 Prozent pro Jahr) für den hier in Rede stehenden Zinszeitraum vom 1. April 2017 bis zum 9. Juli 2018 nicht mehr realitätsgerecht am typischen Fall orientiert.
Mit der Verzinsung von Steuerforderungen und Steuererstattungen wollte der Gesetzgeber einen Ausgleich dafür schaffen, dass die Steuern bei den einzelnen Steuerpflichtigen zwar jeweils spätestens zum Jahresende entstehen, aber zu unterschiedlichen Zeiten festgesetzt und fällig werden. Insoweit beruhen die Vorschriften über die Verzinsung von Steuernachforderungen auf der zulässig typisierenden Annahme, dass derjenige, dessen Steuer ganz oder zum Teil zu einem späteren Zeitpunkt festgesetzt wird, gegenüber demjenigen, dessen Steuer bereits frühzeitig festgesetzt wird, einen Liquiditäts- und damit auch einen potentiellen Zinsvorteil hat. Dieser Vorteil ist umso größer, je höher der nachzuzahlende Betrag ist und je später die Steuer festgesetzt wird. Durch die Sollverzinsung sollen der Liquiditätsvorteil des Steuerpflichtigen und seine damit verbundene erhöhte steuerliche Leistungsfähigkeit abgeschöpft werden. Gleichzeitig soll der vorhandene Zinsnachteil des Fiskus, der den nichtgezahlten Steuerbetrag nicht anderweitig nutzen kann, ausgeglichen werden.
Vgl. BVerfG, Beschluss vom 3. September 2009 - 1 BvR 2539/07 -, NVwZ 2010, 902 (903), Rdnr. 21.
Nach summarischer Prüfung besteht keine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Liquiditäts- und damit potentielle Zinsvorteil der Steuernachzahlungspflichtigen im Zeitraum vom 1. April 2017 bis zum 9. Juli 2018 typischerweise weniger als 6 Prozent pro Jahr betrug.
Allerdings lagen die Einlagen- und Kreditzinsen für private Haushalte (darunter wirtschaftlich selbständige Privatpersonen) und nichtfinanzielle Kapitalgesellschaften in diesem Zeitraum ganz überwiegend weit unterhalb von 6 Prozent pro Jahr. Sie stellen sich für den Zeitraum von April 2017 bis Juli 2018 wie folgt dar:
[…]
Damit lagen nur die Zinsen für kurz- und langfristige Konsumentenkredite, revolvierende und Überziehungskredite und echte Kreditkartenkredite an private Haushalte um 6 Prozent pro Jahr, teilweise auch deutlich darüber. Ob die Inanspruchnahme solcher Kredite für von Steuernachforderungen betroffene Steuerpflichtige typisch ist, erscheint eher zweifelhaft. Von Steuernachforderungen - insbesondere solchen nach Ablauf der 15-Monats-Frist des § 233a Abs. 2 Satz 1 AO - dürften in erster Linie Selbständige und Unternehmen betroffen sein, während bei Arbeitnehmern die Abgabe einer Steuererklärung eher zu einer Steuererstattung führen dürfte.
Hinsichtlich der von Steuernachforderungen wahrscheinlich eher betroffenen Selbständigen und Unternehmen ist aber auch zu berücksichtigen, dass vorhandenes Kapital auch für Investitionen in die eigene selbständige Tätigkeit oder das eigene Unternehmen genutzt werden kann und dies üblicherweise vor allem dann geschieht, wenn sich daraus eine höhere Rendite erzielen lässt als im Bereich der variablen oder festverzinsten Einlagen bei Geldinstituten.
Vgl. BFH, Urteil vom 9. November 2017 - III R 10/16 -, juris, Rdnr. 37.
Aktuelle Zahlen hinsichtlich der Kapitalrendite von Selbständigen und Unternehmen für den hier relevanten Zinszeitraum vom 1. April 2017 bis zum 9. Juli 2018 liegen dem Senat nicht vor. Für das Jahr 2016 nahm die Deutsche Bundesbank auf der Basis der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung für nichtfinanzielle Kapitalgesellschaften eine durchschnittliche Gesamtkapitalrendite von ca. 12 Prozent und eine durchschnittliche Eigenkapitalrendite von ca. 15 Prozent (jeweils bezogen auf alle Anlagegüter) an. Auf der Basis der Jahresabschlussdaten von über 100.000 Unternehmen gelangte sie für das Jahr 2016 zu einer durchschnittlichen Gesamtkapitalrendite (Jahresergebnis vor Gewinnsteuern zuzüglich Zinsaufwendungen und abzüglich Zinserträgen) bezogen auf die Sachanlagen einschließlich immaterieller Vermögensgegenstände von ca. 28 %, bezogen auf das Sachvermögen (Sachanlagen einschließlich immaterieller Vermögensgegenstände + Vorräte) von ca. 17 % und bezogen auf die Bilanzsumme (Sachvermögen + Forderungsvermögen) von ca. 7 % und zu einer durchschnittlichen Eigenkapitalrendite (= Jahresergebnis vor Gewinnsteuern) bezogen auf die Sachanlagen einschließlich immaterieller Vermögensgegenstände von ca. 23 %, bezogen auf das Sachvermögen von ca. 14 % und bezogen auf die Bilanzsumme von etwas über 5 %.
Vgl. Deutsche Bundesbank, Monatsbericht Oktober 2017, S. 40 - 42.
Angesichts dieser Tatsachenlage vermag der Senat im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes keine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür zu erkennen, dass der Zinssatz des § 238 Abs. 1 Satz 1 AO von 6 Prozent pro Jahr nicht mehr realitätsgerecht wäre. Dass der Bundesfinanzhof im Beschluss vom 25. April 2018 - IX B 21/18 - zu einem anderen Ergebnis gelangt ist, ändert daran nichts. Der Bundesfinanzhof hat die mögliche Kapitalrendite für Selbständige und Unternehmer nicht in den Blick genommen.
Vgl. dazu, dass nicht nur Kreditzinssätze in die Bewertung einbezogen werden dürfen, OVG NRW, Beschluss vom 10. Juli 2014 - 14 A 1196/13 -, NRWE, Rdnr. 19, = juris, Rdnr. 17.
Das Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom 14. Juni 2018 ist für die Entscheidung des Senats ohne Bedeutung.“
Dass für Verzinsungszeiträume ab dem 01.01.2010 (1 BvR 2237/14) und dem 01.01.2012 (1 BvR 2422/17) Verfassungsbeschwerden beim Bundesverfassungsgericht anhängig sind sowie für Verzinsungszeiträume ab dem 01.01.2012 (VIII R 36/16) und 01.04.2012 (III R 25/17) Revisionsverfahren bei dem Bundesfinanzhof, ändert an dieser Einschätzung nichts.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung stützt sich auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 3 Satz 1 GKG. Im Hauptsacheverfahren geht es um eine Geldforderung von 376.957,00 Euro (270.228,00 Euro Gewerbesteuer + 106.729,00 Euro Nachzahlungszinsen). Im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes beträgt der Streitwert ¼ dieser Summe (Nr. 1.5 Satz 1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit, NVwZ - Beilage 2013, 57 ff.).