Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 10.09.1996, Az.: 13 Sa 574/96

Geltendmachung der Verjährungseinrede bei einem Lohnzahlungsanspruch

Bibliographie

Gericht
LAG Niedersachsen
Datum
10.09.1996
Aktenzeichen
13 Sa 574/96
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1996, 10773
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LAGNI:1996:0910.13SA574.96.0A

Verfahrensgang

vorgehend
ArbG Oldenburg - AZ: 4 Ca 328/95

Prozessführer

...

Prozessgegner

...

Langenstr. 30, 28195 Bremen,

Amtlicher Leitsatz

Der Arbeitgeber ist auch bei Verzicht auf die Einrede der Verjährung an den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz gebunden, wenn er nicht im Einzelfall, sondern in Anwendung allgemeiner Kriterien entscheidet.

In dem Rechtsstreit
hat die 13. Kammer des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen
auf die mündliche Verhandlung vom 10.09.1996
durch
den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht ...
die ehrenamtlichen Richter

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Oldenburg vom 01.12.1995, 4 Ca 328/95, abgeändert.

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 2.724,87 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 01.12.1991 zu zahlen.

Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.

Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 2.724,87 DM festgesetzt.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

1

Mit Klage aus 1995 begehrt die Klägerin für den Zeitraum 01.01.1989 bis 31.08.1991 gestützt auf § 10 Abs. 6 des Tarifvertrages für die Arbeiter der ... st (TV-Arbeiter) Zahlung einer Lohnzulage von 5 %. Der Anspruch ist nach Grund und Höhe (2.724,87 DM) unstreitig. Die Beklagte macht die Einrede der Verjährung geltend.

2

Die Klägerin war langjährig im ... beschäftigt mit einer Wochenarbeitszeit von weniger als 20 Stunden. Das Arbeitsverhältnis ist zum 31.08.1991 wegen Rentenbezuges beendet worden. Nach Behauptung der Klägerin war sie Mitglied der .... Ist aber mit Rentenbezug ausgetreten.

3

Weil § 9 Abs. 1 TV-Arbeiter als ... Zeiten einer Beschäftigung mit weniger als der Hälfte der regelmäßigen Arbeitszeit nicht berücksichtigte, erhielt die Klägerin wie auch andere Teilzeitbeschäftigte die Lohnzulage nicht. Im Zusammenhang mit anhängigen bzw. anstehenden Klageverfahren schloß die Beklagte mit dem ... am 23.12.1991 und mit der ... am 08.01.1992 Musterprozeßvereinbarungen.

4

In der Musterprozeßvereinbarung vom 08.01.1992 (Bl. 10 u. 11. d. A.) ist in Ziff. 1 vereinbart:

5

Diese Musterprozeßvereinbarung bezieht sich auf die Arbeiterinnen/Arbeiter, die ab dem 01.01.1989 Anspruch auf die Alterszulage in Höhe von 5 % gemäß § 10 Abschnitt I, Abs. 6 TV Arb hätten und nur deshalb diese Zahlung nicht erhalten, weil sie Teilzeitbeschäftigte sind. Ausgenommen sind Jedoch diejenigen Arbeiterinnen/Arbeiter, die im Sinne des § 8 Abs. 1 SGB IV geringfügig beschäftigt sind.

6

In Urteilen vom 16.09.1993 (6 AZR 691/92, AP Nr. 2 zu§ 9 TV Arb ... 6 AZR 708/92) entschied das BAG, daß auch Zelten unterhälftiger Beschäftigung als Postdienstzeiten zu berücksichtigen sind und einen Anspruch auf die Lohnzulage begründen.

7

Mit Schreiben vom 15.08.1994 beantragte die Klägerin Nachzahlung der Lohnzulage. Nach Personalakte handelt es sich um die erste feststellbare Antragstellung. Mit Schreiben vom 15.12.1994 (Bl. 5 d. A.) erhielt sie vom ... eine Berechnung der Nachzahlung. Mit weiterem Schreiben vom 28.12.1994 (Bl. 6 d. A.) wurde ihr mitgeteilt, aufgrund ergänzender Verfügung der Generaldirektion vom 13.10.1994 bekämen ausgeschiedene Arbeiter/innen die Zulage nur im Rahmen einer zweijährigen Verjährungsfrist, frühestens ab 01.01.1992.

8

Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, die Beklagte könne sich wegen der abgeschlossenen Musterprozeßvereinbarung nicht auf Verjährung berufen.

9

Sie hat beantragt,

10

die Beklagte zu verurteilen, an sie einen Betrag in Höhe von 2.724,87 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 01.12.1991 zu zahlen.

11

Die Beklagte hat beantragt,

12

die Klage abzuweisen.

13

Sie hat vorgetragen, die Musterprozeßvereinbarung beziehe sich nach dem Wortlaut nur auf aktive Arbeitnehmer, zum Zeitpunkt des Abschlusses der Vereinbarung ausgeschiedene Arbeitnehmer würden nicht erfaßt.

14

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Auf Tenor und Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils wird Bezug genommen.

15

Mit Berufung macht die Klägerin geltend, die Musterprozeßvereinbarung sei nach ihrem Sinn und Zweck nicht auf aktive Arbeitnehmer beschränkt, die Differenzierung nach aktiven Arbeitnehmern und ausgeschiedenen Arbeitnehmern sei unsachlich und stelle eine Ungleichbehandlung dar. Ergänzend wird Bezug genommen auf die Berufungsbegründung.

16

Die Klägerin beantragt:

17

Das Urteil des Arbeitsgerichts vom 01.12.1995, Az. 4 Ca 328/95, wird abgeändert. Es wird nach den Schlußanträgen der ersten Instanz erkannt.

18

Die Beklagte beantragt,

19

die Berufung zurückzuweisen.

20

Sie verteidigt nach Maßgabe der Berufungserwiderung das erst instanzliche Urteil.

Entscheidungsgründe:

21

Die Berufung der Klägerin ist statthaft, sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und damit insgesamt zulässig, §§ 64, 66 ArbGG, 518, 519 ZPO. Die Berufung ist begründet. Die Beklagte kann sich auf die Einrede der Verjährung nicht berufen, die Erhebung der Verjährungseinrede verstößt gegen den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz.

22

Der Klageanspruch ist nach § 10 Abs. 6 TV-Arbeiter begründet. Die zweijährige Verjährungsfrist (§ 196 Abs. 1 Ziff. 8 und 9 BGB) ist abgelaufen, die Beklagte ist aber trotzdem nicht berechtigt, gem. § 222 Abs. 1 BGB die Leistung zu verweigern.

23

Der Erhebung der Verjährungseinrede steht nicht der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung entgegen. Die Klägerin behauptet zwar Geltendmachung der Zulage noch während ihrer Berufstätigkeit. Eine solche Geltendmachung war aber nach Personalakte nicht feststellbar. Der Vortrag ist im übrigen, weil Datum und Inhalt der Geltendmachung nicht mitgeteilt werden, unsubstantiiert. Es ergeben sich dann aber keine Anhaltspunkte dafür, daß die Klägerin in Kenntnis möglicher Ansprüche und in schutzwürdigem Vertrauen auf die Musterprozeßvereinbarung von einer Klageerhebung abgesehen hat. Die Voraussetzungen für eine unzulässige Rechtsausübung sind nicht gegeben.

24

Die Erhebung der Verjährungseinrede verstößt aber gegen den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz. Der Gleichbehandlungsgrundsatz verlangt vom Arbeitgeber, Arbeitnehmer oder Gruppen von Arbeitnehmern in vergleichbarer Lage gleich zu behandeln, er verbietet willkürliche Schlechterstellung einzelner Arbeitnehmer und sachfremde Gruppenbildung. Vorrang vor dem Gleichbehandlungsgrundsatz hat insbesondere im Vergütungsbereich der Grundsatz der Vertragsfreiheit, allerdings nur für Individuell vereinbarte Löhne und Gehälter. Der Gleichbehandlungsgrundsatz ist jedoch anwendbar, wenn Leistungen nach einem bestimmten erkennbaren und generalisierenden Prinzip gewährt werden, etwa nach einem vorgegebenen Vergütungssystem (z. B. BAG AP Nr. 102 und Nr. 134 zu § 242 BGB Gleichbehandlung).

25

Der Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes steht nicht entgegen, daß vorliegend nicht über die Begründung von Ansprüchen, sondern über ein Leistungsverweigerungsrecht zu entscheiden ist. Zwar hat das BAG (AP Nr. 6 zu § 242 BGB Unzulässige Rechtsausübung - Verwirkung) insoweit Bedenken geäußert, die aber nicht gerechtfertigt erscheinen, über Ausübung der Verjährungseinrede oder Verzicht auf Verjährungseinrede kann der Arbeitgeber grundsätzlich frei entscheiden, ebenso wie etwa bei Gewährung freiwilliger Leistungen. z. B. Gratifikationen oder übertariflichen Entgelten. Nur dann, wenn er nicht im Einzel fall entscheidet, sondern wenn er nach bestimmten generalisierenden Prinzipien verfährt, ist er an den Gleichbehandlungsgrundsatz gebunden. Es ist dann aber kein Grund ersichtlich, bei Gewährung von Gratifikationen Bindung an den Gleichbehandlungsgrundsatz vorzunehmen, bei der Geltendmachung der Vorjährungseinrede dagegen nicht (Hueck, Anmerkung zu BAG AP Nr. 6 zu § 242 BGB Unzulässige Rechtsausübung - Verwirkung).

26

Die Entscheidung über die Erhebung der Verjährungseinrede war vorliegend keine Einzelfallentscheidung, die Beklagte hat vielmehr über die Nachzahlung nach allgemeinen Kriterien entschieden und war damit an den Gleichbehandlungsgrundsatz gebunden. Sie hat eine Gruppenbildung vorgenommen und an aktive Arbeitnehmer ausgezahlt unter Verzicht auf Verjährungseinrede und bei ausgeschiedenen Mitarbeitern Verjährungseinrede geltend gemacht. Grundlage der Entscheidung war, wie sich aus dem Beklagtenschreiben vom 28.12.1994 ergibt, eine Verfügung der Generaldirektion.

27

Ein sachlicher Grund für die Differenzierung zwischen ausgeschiedenen und aktiven Mitarbeitern besteht nicht. Maßgeblich für die Bestimmung eines sachlichen Grundes für die Differenzierung ist der Leistungszweck. So hat das BAG (AP Nr. 47 zu§ 242 BGB Gleichbehandlung) bei rückwirkenden Lohnerhöhungen entschieden, daß der Ausschluß ausgeschiedener Mitarbeiter sachlich nicht gerechtfertigt sei, weil die Arbeitsleistung erbracht sei. Nach der Entscheidung des DAG AP Nr. 5 zu§ 27 BAT soll dies sogar dann gelten, wenn die Gehaltserhöhung zu dem Zweck gewährt wird, die Deckung des Personalbedarfs sicherzustellen. Auch dann sei die Differenzierung nach dem Bestand des Arbeitsverhältnisses Willkür. Zum Verzicht auf die Einrede der Verjährung bei Musterprozeßvereinbarung hat das BAG allerdings in einer älteren Entscheidung (AP Nr. 6 zu§ 242 BGB Unzulässige Rechtsausübung - Verwirkung) entschieden, daß die Differenzierung zwischen gekündigten Arbeitnehmern und ungekündigten Arbeitnehmern sachlich gerechtfertigt ist.

28

Die Differenzierung zwischen beendeten Arbeitsverhältnissen und bestehenden Arbeitsverhältnissen ist nach Auffassung der Kammer nicht sachlich gerechtfertigt. Der Verzicht auf die Verjährungseinrede - begrenzt auf ungekündigte Arbeitsverhältnisse - bewirkt, daß ein Teil der Arbeitnehmer die Zulage erhält, ein anderer dagegen nicht.

29

Da beide Arbeitnehmergruppen gleichermaßen Anspruch auf die Zulage hatten und die Arbeitsleistung erbracht worden ist, ist die Differenzierung ausgehend vom Leistungszweck/Entgelt nicht gerechtfertigt. Dies muß Jedenfalls dann gelten, wenn der Arbeitnehmer wie hier die Klägerin nicht aufgrund einer Kündigung, sondern wegen Rentenbezugs ausgeschieden ist.

30

Die Differenzierung ist auch nicht mit der Begründung zu rechtfertigen, bei aktiven Mitarbeitern diene der Einredeverzicht der Motivationssteigerung und dem Betriebsfrieden, Gesichtspunkte, die auf ausgeschiedene Mitarbeiter nicht zutreffen. Eine solche Motivation ist sachfremd, weil es um Vergütung für geleistete Arbeit geht, nicht etwa um Prämien oder Gratifikationen mit dem Ziel der Leistungssteigerung oder Bindung an das Unternehmen.

31

Die Ungleichbehandlung ist nicht deshalb gerechtfertigt, weil die Klägerin im Zeitpunkt des Abschlusses der Musterprozeßvereinbarung unstreitig nicht Mitglied der vertragschließenden Gewerkschaft war. Für eine Differenzierung nach Gewerkschaftszugehörigkeit gibt es keine Anhaltspunkte. Die Beklagte hat den Einredeverzicht nicht von Gewerkschaftszugehörigkeit abhängig gemacht. Dies ergibt bereits ihr Vortrag im Schriftsatz vom 09.08.1996, wonach sie meint, nicht berechtigt zu sein, die Mitgliedschaft in der Gewerkschaft zu registrieren.

32

Schließlich ergibt sich auch aus der abgeschlossenen Musterprozessvereinbarung kein sachlicher Grund. Ob die Musterprozeßvereinbarung auf am 08.01.1992 bestehende Arbeitsverhältnisse beschränkt ist oder auch ausgeschiedene Mitarbeiter erfaßt, kann für die hier fragliche Gleichbehandlungsproblematik offenbleiben. Anzumerken ist lediglich, daß viel für eine Einbeziehung auch ausgeschiedener Mitarbeiter spricht. Allein aus der Wahl des Präsens "sind" Schlußfolgerung zu ziehen, ist wenig überzeugend. Naheliegender ist es, aus dem Relativsatz den Kreis der erfaßten Arbeitnehmer abzuleiten, nämlich alle, die Ansprüche ab 01.01.1989 haben könnten. Nur diese Auslegung wird dem Sinn und Zweck der Musterprozeßvereinbarung gerecht. Klageverfahren auf wenige Einzelfalle zu beschränken. Entscheidender als diese Auslegung ist allerdings, daß die Musterprozeßvereinbarung kein normativ wirkender Tarifvertrag ist, sondern eine schuldrechtliche Abrede zwischen den Tarifvertragsparteien. Das bedeutet, daß der einzelne Arbeitnehmer aufgrund der Musterprozeßvereinbarung nicht unmittelbar von der Beklagten Verzicht auf die Verjährungseinrede verlangen kann. Auswirkungen der Musterprozeßvereinbarung auf einzelne Arbeitsverhältnisse können sich nur ergeben über z. B. § 242 BGB (Unzulässige Rechtsausübung) oder im Rahmen der Gleichbehandlung, Letzteres ist hier entscheidend. Die Beklagte hat die Musterprozeßvereinbarung umgesetzt, sie hat unter Verzicht auf die Verjährungseinrede an aktive Arbeitnehmer gezahlt. Bei der Erfüllung der schuldrechtlichen Verpflichtung gegenüber der Deutschen Postgewerkschaft und bei der Umsetzung der Musterprozeßvereinbarung ist sie aber, wie dargelegt, an den Gleichbehandlungsgrundsatz gebunden. Diese auf dem Arbeitsvertrag beruhende Verpflichtung zur Gleichbehandlung besteht unabhängig davon, ob die Musterprozeßvereinbarung ausgeschiedene Arbeitnehmer erfaßt oder nicht.

33

Auf Berufung war deshalb der Klage stattzugeben. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO, die Streitwertentscheidung auf § 3 ZPO. Die Revisionszulassung erfolgt gemäß § 72 Abs. 2 Satz 1 ArbGG.