Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 27.03.2019, Az.: 9 LA 99/19

Abschiebungsverbot, nationales; Ausnahmefall; Autonomiegebiet, kurdisches; Bedingungen, humanitäre; Erbil; Existenz; Existenzgefährdung; Gefahrenlage, extreme; Irak; Kurdistan; Schutz, subsidiärer; Versorgungslage

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
27.03.2019
Aktenzeichen
9 LA 99/19
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2019, 69676
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 12.11.2018 - AZ: 5 A 512/17

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Die Frage, "ob selbst männlichen Rückkehrern in die autonome Region Kurdistan im Irak eine existenzielle Gefährdung einhergehend mit Gefahr für Leib und Leben in Folge fehlender Existenzmittel und damit einhergehender Verelendung droht", ist einer fallübergreifenden Klärung in einem Berufungsverfahren nicht zugänglich.

Tenor:

Die Anträge des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das auf die mündliche Verhandlung vom 12. November 2018 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Osnabrück – Einzelrichterin der 5. Kammer – und auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe werden abgelehnt.

Der Kläger trägt die außergerichtlichen Kosten des gerichtskostenfreien Zulassungsverfahrens. Die außergerichtlichen Kosten des gerichtskostenfreien Prozesskostenhilfeverfahrens werden nicht erstattet.

Gründe

Der Antrag des Klägers, die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Osna-brück zuzulassen, mit dem dieses seine auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise auf die Gewährung subsidiären Schutzes und weiter hilfsweise auf die Feststellung nationaler Abschiebungsverbote gerichtete Klage abgewiesen hat, bleibt ohne Erfolg.

Die Berufung ist nicht wegen einer vom Kläger allein geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache nach § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG zuzulassen.

Eine Rechtssache ist grundsätzlich bedeutsam i. S. d. § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG, wenn sie eine höchstrichterlich oder – soweit es eine Tatsachenfrage betrifft – obergerichtlich noch nicht beantwortete Frage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die im angestrebten Berufungsverfahren entscheidungserheblich und klärungsfähig wäre und im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Weiterentwicklung des Rechts einer fallübergreifenden Klärung in einem Berufungsverfahren bedarf.

Das diesbezügliche Darlegungserfordernis nach § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG setzt die Formulierung einer bestimmten, ungeklärten und für die Berufungsentscheidung erheblichen Tatsachen- oder Rechtsfrage und die Angabe voraus, worin die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung besteht. Es muss erläutert werden, dass und inwiefern die Berufungsentscheidung zur Klärung einer bisher ungeklärten fallübergreifenden Tatsachen- oder Rechtsfrage führen kann. Die Darlegung muss sich auch auf die Entscheidungserheblichkeit des geltend gemachten Zulassungsgrunds erstrecken (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 5.11.2018 – 1 B 77.18 – juris Rn. 9; vom 20.9.2018 – 1 B 66.18 – juris, jeweils zu §§ 132 Abs. 2 Nr. 1, 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO).

Ausgehend davon hat der Kläger eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nicht in einer den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG genügenden Weise dargelegt.

Der Kläger, der nach eigenen Angaben vor seiner Ausreise aus dem Irak in C. lebte, hat die Frage aufgeworfen, „ob selbst männlichen Rückkehrern in die autonome Region Kurdistan im Irak eine existenzielle Gefährdung einhergehend mit Gefahr für Leib und Leben in Folge fehlender Existenzmittel und damit einhergehender Verelendung droht.“

Er hat bereits nicht dargelegt, dass diese Frage entscheidungserheblich ist. Das Verwaltungsgericht hat festgestellt, dass er eine innerstaatliche Fluchtalternative in Bagdad hätte. Dem ist der Kläger nicht mit durchgreifenden Zulassungsrügen entgegen getreten.

Allerdings hat das Verwaltungsgericht die Feststellung zur innerstaatlichen Fluchtalternative ausschließlich im Rahmen der Ablehnung der Flüchtlingseigenschaft des Klägers getroffen. Daher könnten die ergänzenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts zur Situation in der Region Kurdistan bei der Prüfung des subsidiären Schutzes und sein Verweis im Rahmen der Prüfung nationaler Abschiebungsverbote auf den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, in dem keine innerstaatliche Fluchtalternative angesprochen wurde, so verstanden werden, dass es den Kläger insoweit nicht auf eine innerstaatliche Fluchtalternative verwiesen hat.

Auch dann aber hätte der Kläger eine grundsätzliche Bedeutung der genannten Frage nicht hinreichend dargelegt. Denn er hat nicht substantiiert erläutert, dass die Frage einer fallübergreifenden Klärung in einem Berufungsverfahren zugänglich ist.

Die Maßstäbe für die Prüfung, ob die Abschiebung eines Ausländers in sein Heimatland wegen der dortigen humanitären Bedingungen gegen Art. 3 EMRK verstößt – was zu subsidiärem Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG (dazu EuGH, Urteile vom 24.4.2018 – C-353/16, MP v. Secretary of State for the Home Department – ABl. EU 2018, C 211, 4 = juris Rn. 58; vom 18.12.2014 – C-542/13, M’Bodj – ABl. EU 2015, C 65, 12 = juris Rn. 36 und 41; BVerwG, Beschluss vom 13.2.2019 – 1 B 2.19 – juris Rn. 6) oder zu einem nationalen Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG (dazu BVerwG, Beschluss vom 13.2.2019, a. a. O., Rn. 6; Urteil vom 31.1.2013 – 10 C 15.12BVerwGE 146, 12 = juris Rn. 36) führen kann – sind in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte geklärt.

Danach haben die sozio-ökonomischen und humanitären Bedingungen im Abschiebungszielstaat weder notwendig noch einen ausschlaggebenden Einfluss auf die Frage, ob eine Person tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein (vgl. EGMR, Urteile vom 29.1.2013 – 60367/10, S. H. H. v. The United Kingdom – HUDOC Rn. 74; vom 28.6.2011 – 8319/07 und 11449/07, Sufi and Elmi v. The United Kingdom – HUDOC Rn. 278; vom 20.1.2009 – 32621/06, F. H. v. Sweden – HUDOC Rn. 92; vom 11.1.2007 – 1948/04, Salah Sheekh v. The Netherlands] – HUDOC Rn. 141). Denn Art. 3 EMRK dient hauptsächlich dem Schutz bürgerlicher und politischer Rechte (vgl. EGMR, Urteil vom 27.5.2008 – N. v. The United Kingdom – HUDOC Rn. 44).

Schlechte humanitäre Bedingungen im Abschiebungszielstaat, die ganz oder in erster Linie auf Armut oder auf fehlende staatliche Mittel zurückzuführen sind, um mit auf natürlichen Umständen beruhenden Gegebenheiten umzugehen, können in Anwendung des in einem solchen Fall maßgeblichen (vgl. EGMR, Urteil vom 28.6.2011, a. a. O., Rn. 282), im Verfahren N. v. The United Kingdom entwickelten Maßstabs nur in ganz besonderen Ausnahmefällen zu einem Verstoß gegen Art. 3 EMRK führen, in denen humanitäre Gründe zwingend gegen eine Abschiebung sprechen (vgl. EGMR, Urteile vom 28.6.2011, a. a. O., Rn. 278; vom 29.1.2013, a. a. O., Rn. 75; siehe auch EGMR, Urteil vom 13.12.2016 – 41738/10, Paposhvili v. Belgium – HUDOC Rn. 183 zu solchen ganz besonderen Ausnahmefällen). Sind die schlechten humanitären Verhältnisse im Abschiebungszielstaat hingegen primär auf direkte oder indirekte Handlungen oder Unterlassungen dortiger Konfliktparteien zurückzuführen, hält der EGMR seinen im Verfahren M. S. S. v. Belgium and Greece (Urteil vom 21.1.2011 – 30696/06 – HUDOC) entwickelten und im Verfahren Sufi and Elmi v. The United Kingdom (Urteil vom 28.6.2011, a. a. O., Rn. 282 f.) auch im Hinblick auf die humanitären Bedingungen in Flüchtlingslagern in Süd- und Zentralsomalia angewandten Maßstab für besser geeignet, um einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK festzustellen (vgl. EGMR, Urteil vom 29.1.2013, a. a. O., Rn. 77). Danach muss die Fähigkeit des Betroffenen berücksichtigt werden, seine elementaren Bedürfnisse wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft zu befriedigen, weiter seine Anfälligkeit für Fehlbehandlungen sowie seine Aussicht auf eine Verbesserung der Lage in angemessener Zeit (vgl. EGMR, Urteil vom 29.1.2013, a. a. O., Rn. 89 ff.).

Damit hängt die Frage einer Verletzung von Art. 3 EMRK aufgrund schlechter humanitärer Verhältnisse im Abschiebungszielstaat unabhängig davon, welcher der beiden Maßstäbe im Fall der Abschiebung eines aus dem kurdischen Autonomiegebiet im Irak stammenden irakischen Staatsangehörigen dorthin anzuwenden ist, von den persönlichen Merkmalen und individuellen Umständen des Betroffenen (Alter, Gesundheitszustand, Ausbildung, Berufserfahrungen, familiäre oder sonstige Unterstützung usw.) ab. Aus den Darlegungen des Klägers ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit die humanitären Bedingungen im gesamten kurdischen Autonomiegebiet im Irak derart schlecht sind, dass eine Abschiebung eines jeden von dort stammenden irakischen männlichen Staatsangehörigen dorthin ungeachtet seiner persönlichen Situation als ganz besonderer Ausnahmefall i. S. d. genannten Rechtsprechung anzusehen sein könnte. Der Kläger verweist insoweit allein auf eine Anfragebeantwortung von ACCORD zum Irak („Autonome Region Kurdistan: Lage von Rückkehrern aus dem Ausland, Schikanen, Diskriminierungen, Wohnraum, Kosten, Arbeitslosenrate, Erwerbsrestriktionen; Sozialsystem; Schwierigkeiten für Rückkehrer aus Europa“) vom 29. März 2018. Dieses Erkenntnismittel enthält indes keine hinreichenden Anhaltspunkte für einen solchen fallübergreifenden Rückschluss.

In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist auch abstrakt geklärt, dass ein Ausländer im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die ihn im Abschiebungszielstaat erwarten, insbesondere die dortigen wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, nationalen Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur ausnahmsweise beanspruchen kann, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre (BVerwG, Beschluss vom 8.8.2018 – 1 B 25.18 – Asylmagazin 2018, 376 = juris Rn. 13). Dabei sieht das Bundesverwaltungsgericht diesen Maßstab als strenger an als den bei der Prüfung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK anzulegenden Maßstab (vgl. BVerwG, Beschluss vom 8.8.2018, a. a. O., Rn. 13).

Dementsprechend lassen sich den Darlegungen des Klägers erst Recht keine Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass die humanitären Bedingungen im gesamten kurdischen Autonomiegebiet im Irak derart schlecht sind, dass jeder von dort stammender irakischer männlicher Staatsangehöriger im Fall seiner Rückkehr dorthin ungeachtet seiner persönlichen Situation mit hoher Wahrscheinlichkeit einer solchen extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre.

Die Bewilligung der vom Kläger beantragten Prozesskostenhilfe kommt nicht in Betracht, weil der Antrag auf Zulassung der Berufung nicht die nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO erforderliche hinreichende Erfolgsaussicht bietet.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO und § 83b AsylG sowie auf § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 118 Abs. 1 Satz 4 ZPO.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).