Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 21.08.2002, Az.: 1 LB 140/02

Zulässigkeit der Errichtung eines Wohnheims für altersverwirrte Menschen in einem reinen Wohngebiet

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
21.08.2002
Aktenzeichen
1 LB 140/02
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2002, 23088
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2002:0821.1LB140.02.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Hannover - 28.09.2000 - AZ: 4 A 2586/00

Fundstelle

  • ZfBR 2003, 281 (amtl. Leitsatz)

Amtlicher Leitsatz

Ein Baugebiet, das aus Wohnhäusern und einem Altenpflegeheim gebildet wird, kann sich durch die BauNVO 1990 vom faktischen Allgemeinen Wohngebiet zum Reinen Wohngebiet wandeln.

Ein Wohnheim für verwirrte alte Menschen ohne medizinische Leitung, in dem die Bewohner mit eigenen Möbeln wohnen und von ihren eigenen Hausärzten betreut werden, ist nach § 3 Abs. 4 BauNVO 1990 im Reinen Wohngebiet zulässig.

Zur erdrückenden Wirkung einer Nachbarbebauung

Tatbestand

1

Die Kläger wenden sich gegen einen Vorbescheid für ein Wohnheim für desorientierte Menschen, das im Anschluss an ein von dem Beigeladenen seit längerem betriebenes Altenheim inzwischen bereits errichtet worden ist.

2

Die Kläger sind Eigentümer der Grundstücke G. Allee 5 (1 LB 140/02 - nachfolgend "Kläger" genannt) und G. Allee 7 (1 LB 141/02 - nachfolgend "Klägerin" genannt). Diese sind ebenso wie das Grundstück des Beigeladenen, welches südwestlich und südlich davon liegt, unbeplant und liegen am Ortsrand von H. am Nordhang des I.. Die Grundstücke der Kläger liegen an der Südostseite der G. Allee, die etwa von Osten kommend den J. hang hinaufführt. Beide Grundstücke sind bebaut. Der winkelförmige Bungalow der Klägerin ist - als einziges der Wohnhäuser, die im Dreieck zwischen der G. Allee im Nordwesten, der K. straße im Osten und dem Grundstück des Beigeladenen im Süden stehen - weit von der Straße zurückgesetzt errichtet; die Entfernung zwischen seiner Nordwand und der Straße beträgt rund 50 m. Das Wohnhaus des Klägers steht - durch das Grundstück G. Allee 5 a nach Osten vom Grundstück der Klägerin getrennt - etwa mittig auf seinem Grundstück in einer Entfernung von rund 15 m zur Straße.

3

Der Komplex, in dem der Beigeladene ältere Menschen betreut, ist in mehreren Bauabschnitten entstanden. Der älteste, zweigeschossige Teil ("Altenheim") steht parallel zum L. weg, der südöstlich parallel und oberhalb der G. Allee verläuft. An sein Nordostende angefügt ist ein Flügel, der nach Nordwesten weist. An diesen baute der Beigeladene mit Genehmigung des Rechtsvorgängers der Beklagten vom 23. August 1983 ein dreigeschossiges Gebäude an, dessen Nordwestwand - gemessen vom L. weg - rund 85 m in den Grundstücksbereich hineinragt, etwa auf einer Höhe liegt mit der Südostwand des Winkelbungalows der Klägerin und zu deren Haus einen Abstand von rund 16 m einhält. In diesem Flügel sind nach der genehmigten Betriebsbeschreibung "Altenwohnungen" eingerichtet, in denen ältere Personen die Möglichkeit haben, weiterhin selbstständig zu wohnen. Die Nähe des Altenheimes eröffnet die Möglichkeit, bei schlechter werdendem Gesundheitszustand die umfassende Heimversorgung in Anspruch nehmen zu können oder in das Heim umzuziehen, in dem seinerzeit eine Pflegestation mit ca. 40 Betten sowie ca. 36 Altenheimplätzen vorhanden und 38 Mitarbeiter beschäftigt waren.

4

Diese Genehmigung von 1983 war Gegenstand des Eilverfahrens zum Aktenzeichen 6 OVG B 151/83, in dem sich der Rechtsvorgänger der Klägerin ohne Erfolg gegen den ihm nachteiligen Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover vom 24. November 1983 - 4 VG D 40/83 - wehrte. Der 6. Senat des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg führte darin unter anderem aus, das angegriffene Vorhaben halte nicht nur den Grenzabstand ein, sondern genüge auch dem Gebot der Rücksichtnahme. Es treffe zwar zu, dass alle Grundstücke östlich des Heimes und zwischen den beiden oben erwähnten Straßen ausschließlich zu Wohnzwecken genutzt würden. Die schon vorhandene Bebauung des Altenheimes präge die Eigenart der Umgebung indes maßgeblich mit und belaste das Grundstück des Antragstellers (des damaligen Verfahrens) damit vor. Deshalb sei das Vorhaben weder seiner Art noch seinem gewählten Standort nach rücksichtslos. Gewisse Beeinträchtigungen durch den Baukörper seien zwar nicht zu verkennen; die "Schokoladenseite" seines Grundstücks werde durch die angegriffene Maßnahme indes nicht verbaut.

5

Am 10. Februar 1999 erhielt die Beigeladene vom Rechtsvorgänger der Beklagten den hier angegriffenen Bauvorbescheid zur Errichtung eines zweieinhalbgeschossigen Wohnheimes für desorientierte Menschen, das - ohne mit dem vorhandenen Komplex baulich verbunden zu sein - rund 9 m nordöstlich davon auf den Flurstücken 76/4 und 74/2 errichtet werden soll, welche sich südöstlich an das Grundstück der Klägerin anschließen. Das ca. 35 m lange Gebäude soll in Nordwest-/Südostrichtung errichtet werden und mit seiner Schmalseite (Nordwestwand) etwa 8,5 m an das Grundstück der Klägerin heranreichen. Es ist zwischenzeitlich auf der Grundlage einer ebenfalls angefochtenen Baugenehmigung fertig gestellt worden, welche nicht Gegenstand dieser Verfahren ist. Nach der genehmigten Betriebsbeschreibung soll darin "eine geronto-psychiatrische Abteilung" mit zwei Stationen untergebracht werden, in der je zehn verwirrte oder teilverwirrte Personen nach der Art von Großfamilien zu Gruppen von je sechs bis zehn Personen betreut werden, wobei die Pflege zusätzlich zu ihren normalen Aufgaben eine Art Führungsaufgabe übernimmt. Jedem der Bewohner steht nach den zugleich eingereichten Bauzeichnungen ein 15 qm bis 20 qm großer Raum mit anschließender Nasszelle (Duschbad) zur Verfügung, der bis auf das Pflegebett vom Bewohner möbliert wird. In der Mitte beider Stockwerke sind je ein Wohn- und Essraum mit Küche untergebracht; daneben Schwesternzimmer und Nebengelasse wie Abstell- und Pflegearbeitsraum. Das Obergeschoss soll außerdem ein größeres Bad erhalten; im unteren Geschoss ist an dessen Stelle ein Friseur vorgesehen.

6

Die Widersprüche der Kläger hat die Bezirksregierung mit Widerspruchsbescheiden vom 20. April 2000 zurückgewiesen.

7

Zur Begründung ihrer Klagen haben die Kläger im Wesentlichen vorgetragen: Das Vorhaben stelle seiner Art nach eine Klinik dar und sei daher nicht mehr in dem reinen Wohngebiet zulässig, als das sich die maßgebliche Umgebung auch unter Einschluss der bisherigen Nutzung auf dem Grundstück des Beigeladenen darstelle. Daher seien sie befugt, das Vorhaben schon wegen der Art seiner Nutzung abzuwehren. Es verletze aber auch wegen des gewählten Standortes das Gebot der Rücksichtnahme; denn nunmehr werde erstmals der unbebaute Binnenbereich baulich in Anspruch genommen. Das rufe bodenrechtliche Spannungen hervor, weil nunmehr auch andere Grundstückseigentümer ihre straßenabgewandten Flächen zu bebauen sich entschließen könnten. Schließlich würden die Gebäude der Kläger der Gefahr negativer Einwirkungen von Wasser ausgesetzt.

8

Das Verwaltungsgericht hat die Klagen nach Durchführung einer Ortsbesichtigung mit den angegriffenen Urteilen, auf deren Einzelheiten Bezug genommen wird, abgewiesen. Zur Begründung hat es insbesondere ausgeführt: Entgegen der Annahme der Kläger und der Bezirksregierung C. sei die maßgebliche Umgebung nicht als reines, sondern als allgemeines Wohngebiet einzustufen. Die Einstufung als reines Wohngebiet komme auch angesichts § 3 Abs. 4 BauNVO n.F. nicht in Betracht, weil dort nur Pflegeheime zugelassen werden könnten, welche anders als das vorhandene der Zweckbestimmung des Gebietes entsprächen; dies seien im Regelfall nur kleine, der Funktion der umgebenden Wohnnutzung angepasste Alten- und Pflegeheime. Das Heim des Beigeladenen sei zu groß, um als Fremdkörper angesehen und daher bei der Ermittlung des Gebietscharakters ausgespart bleiben zu können. In allgemeinen Wohngebieten seien Pflegeheime mit krankenhausmäßiger Betreuung zulässig. Das Vorhaben verletze nicht das Gebot der Rücksichtnahme, weil die vorhandene Bebauung, namentlich die der Klägerin, schon in den Binnenbereich vorgedrungen sei. Neue bodenrechtliche Spannungen verursache es daher nicht. Erdrückende Wirkungen gingen von einem nur zweieinhalbgeschossigen Gebäude zu Lasten der Kläger nicht aus, weil dieses optisch sich dem größeren, zudem leicht bergauf gelegenen baulichen Altbestand unterordne. Die Einhaltung der abstandsrechtlichen Vorschriften sei nicht in diesem Verfahren zu prüfen, in dem allein die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit in Rede stehe.

9

Nach Zulassung der Berufung (Senatsbeschl. v. 22.05.2002 - 1 LA 838 und 840/01 -) machen die Kläger geltend: Entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts lägen ihre Grundstücke und das Baugrundstück in einem reinen Wohngebiet. Die vom Verwaltungsgericht in diesem Zusammenhang für richtig gehaltene Differenzierung nach der Größe der Einrichtung finde im Gesetz keinen Anhaltspunkt. Im reinen Wohngebiet sei das Vorhaben ersichtlich nicht zulässig, weil damit erstmals ein Klinikteil, das heißt eine Art Langzeitkrankenhaus errichtet werden solle, welches nicht mehr unter § 3 Abs. 4 BauNVO subsumiert werden könne. Zudem verstoße das Vorhaben gegen das Gebot der Rücksichtnahme. Ein bislang durchgrünter Binnenbereich werde zu ihren Lasten geopfert. Erstmals dringe - noch dazu in einer solchen Größe - Bebauung dorthin vor und raube ihnen die gerade durch die Grünfläche vermittelte Wohnruhe. Die nächtlichen Ruhestörungen seit der Inbetriebnahme des Vorhabens April 2002 belegten dies nachdrücklich. Das Vorhaben habe ungeachtet des vorhandenen Baubestandes zu Lasten des Grundstücks der Kläger erdrückende Wirkung; denn es liege aufgrund der topografischen Besonderheiten höher als ihre Grundstücke. Das Vorhaben belaste in einer sie verletzenden Weise die hydrologischen Verhältnisse. Die Ausführungen des Verwaltungsgerichts zur Einhaltung des Grenzabstandes wichen von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschl. v. 11.01.1999 - 4 B 128.98 -, BauR 1999, 615 = NVwZ 1999, 879) ab.

10

Die Kläger beantragen,

die Urteile des Verwaltungsgerichts zu ändern und den Bauvorbescheid des Rechtsvorgängers der Beklagten vom 10. Februar 1999 sowie die Widerspruchsbescheide der Bezirksregierung C. vom 20. April 2000 aufzuheben.

11

Die Beklagte und der Beigeladene beantragen,

die Berufung zurückzuweisen.

12

Die Beklagte erwidert, die maßgebliche Umgebung sei mit dem Verwaltungsgericht als allgemeines Wohngebiet einzustufen; dort sei die in Rede stehende Nutzung zulässig. Es stelle sich zudem die Frage nach der Zulässigkeit der Berufung, nachdem die Kläger gegen die Baugenehmigung keinen Eilantrag gestellt und damit tatenlos zugesehen hätten, wie der Beigeladene die Baugenehmigung vollständig ausgenutzt habe.

13

Der Beigeladene macht geltend: Nach jeder in Betracht kommenden Weise sei das Vorhaben seiner Art nach zulässig. Bei der Einordnung der maßgeblichen Umgebung sei zu berücksichtigen, dass die Personen, welche in dem Neubau untergebracht werden sollten (50 % von diesen litten unter Demenzerscheinungen) vor Verwirklichung des Vorhabens in dem alten Baubestand untergebracht gewesen seien. Hindere das die Einordnung als reines Wohngebiet nicht, folge die Zulässigkeit aus § 3 Abs. 4 BauNVO 1990. Führe das zur Einordnung als allgemeines Wohngebiet, gelte das erst recht. Die Einordnung als allgemeines Wohngebiet sei vor allem deshalb zu bevorzugen, weil § 3 Abs. 4 BauNVO 1990 keineswegs schon bis zum Inkrafttreten der Novelle geltendes Recht klargestellt, sondern erstmals die Möglichkeit geschaffen habe, in reinen Wohngebieten Pflegeheime als Regelnutzung betreiben zu dürfen. Daraus sei zu schließen, dass die maßgebliche Umgebung bis zum Inkrafttreten des neuen Rechts nicht als reines Wohngebiet habe eingestuft werden können. Das neue Recht habe nicht zu einer Veränderung des Gebietscharakters geführt, sondern es dabei belassen, dass es sich um ein allgemeines Wohngebiet handele. Dort sei das Vorhaben schon deshalb zulässig, weil es sich seiner Art nach im Rahmen der schon bisher betriebenen Tätigkeiten halte. Das Vorhaben sei aber auch wegen des Maßes der baulichen Nutzung nicht zu beanstanden. Das habe die Ortsbesichtigung ergeben und folge insbesondere daraus, dass der nun bebaute Geländestreifen schon durch den 1983 genehmigten Erweiterungsbau so beeinflusst worden sei, dass er keine Erholungsfunktion zugunsten der klägerischen Grundstücke habe erfüllen können.

14

Der Senat hat die Örtlichkeit am 21. August 2002 in Augenschein genommen. Wegen des Ergebnisses wird auf die Niederschrift vom gleichen Tage Bezug genommen.

15

Wegen der weiteren Einzelheiten von Vortrag und Sachverhalt wird auf die gewechselten Schriftsätze und die vorgelegten Verwaltungsvorgänge verwiesen, welche in ihren wesentlichen Teilen Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

16

Die zulässigen Berufungen der Kläger haben keinen Erfolg. Die Erteilung der Baugenehmigung für das umstrittene Vorhaben führt nicht zum Fortfall des Rechtsschutzinteresses der Nachbarklage gegen den Bauvorbescheid (vgl. Urt. d. 6. Sen. v. 24.04.1997 - 6 L 5476/95 -, NdsVBl. 1998, 142). Auch die Errichtung und Inbetriebnahme des Vorhabens lassen das Rechtsschutzbedürfnis nicht entfallen, denn im Falle einer Aufhebung des Bauvorbescheides müsste auch die angefochtene Baugenehmigung aufgehoben werden mit der Folge, dass die Kläger einen Anspruch auf Einschreiten gegen das ungenehmigte Vorhaben hätten.

17

Die Kläger haben aber keinen Anspruch auf Aufhebung des Bauvorbescheides, weil das Vorhaben des Beigeladenen Rechte der Kläger nicht verletzt.

18

Nach der Art der baulichen Nutzung ist das Vorhaben des Beigeladenen nach § 34 Abs. 2 BauGB zu beurteilen, weil die nähere Umgebung nach ihrer Eigenart einem reinen Wohngebiet entspricht. Die Bebauung an der G. Allee, der K. straße und dem L. weg besteht in dem hier maßgebenden Bereich ausschließlich aus Wohnhäusern und dem vorhandenen Altenheim des Beigeladenen. Das Altenheim des Beigeladenen bestand bis zur Errichtung des umstrittenen Vorhabens aus einem Alten- und Pflegeheim mit 36 Altenheim- und 40 Pflegeplätzen, die nach Einführung der Pflegeversicherung 1996 als 76 Pflegeplätze abgerechnet werden, und dem 1983 errichteten Altenwohnheim mit 24 Ein- bis Zweizimmerwohnungen. Unabhängig davon, in welchem Umfang im Bereich der 76 Pflegeplätze eine Eigengestaltung der Haushaltsführung und des häuslichen Wirkungskreises vorhanden ist (zu diesen Kriterien des Wohnens vgl. BVerwG, Beschl. v. 25.03.1996 - 4 B 302.95 -, BRS 58 Nr. 56), ist das vorhandene Altenheim als ganz oder teilweise der Betreuung und Pflege der Bewohner dienendes Gebäude nach § 3 Abs. 4 BauNVO 1990 den Wohngebäuden zuzurechnen, so dass die nähere Umgebung einem "lupenreinen" reinen Wohngebiet im Sinne der BauNVO 1990 entspricht. Dem steht nicht entgegen, dass die nähere Umgebung bis zur Einführung des § 3 Abs. 4 BauNVO 1990 wohl als allgemeines Wohngebiet einzuordnen war (vgl. Beschl. d. 6. Sen. v. 21.02.1984 - 6 B 151/83 -), weil nach der BauNVO 1977 Altenpflegeheime in Ermangelung des Wohncharakters im reinen Wohngebiet nicht zulässig waren (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 17.05.1989 - 3 S 3650/88 -, BRS 49 Nr. 47). § 34 Abs. 2 BauGB stellt mit der Verweisung auf die aufgrund des § 2 Abs. 5 BauGB erlassene Verordnung auf die jeweils aktuelle Baunutzungsverordnung ab, so dass eine Änderung der Baunutzungsverordnung auch dazu führen kann, dass sich die Einstufung der näheren Umgebung nach der Art der Nutzung ändern kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 03.02.1984 - 4 C 54.80 -, BVerwGE 68, 342/51; vgl. auch allgemein Lemmel, Festschrift Schlichter, 1995, S. 353 ff.). Die Einordnung des hier maßgeblichen Bereichs als allgemeines Wohngebiet im Beschluss des 6. Senats vom 21. Februar 1984 (a.a.O.) steht der Rechtsauffassung des erkennenden Senats daher nicht entgegen.

19

Das von den Klägern angegriffene Vorhaben der Beigeladenen stellt sich als Gebäude dar, das der Betreuung und Pflege der Bewohner dient und damit nach § 3 Abs. 4 BauNVO 1990 im reinen Wohngebiet zulässig ist. Entgegen der Annahme von Fickert/ Fieseler (BauNVO, 9. Aufl. 1998, § 3 Rdn. 20.2) zählen zu den Wohngebäuden im Sinne des § 3 Abs. 4 BauNVO auch Wohnheime für verwirrte alte Menschen, denn diese Heime dienen der Pflege und Betreuung der Bewohner und nicht einer wie auch immer gearteten Behandlung. Der Verordnungsgeber der BauNVO 1990 reagierte mit § 3 Abs. 4 auf die Rechtsprechung, die bis zur BauNVO 1990 Altenpflegeheime städtebaulich nicht als Wohngebäude einstufte (vgl. VGH BW, Urt. v. 17.05.1989, a.a.O.). Deshalb zählen auch Wohnheime, bei denen die Eigengestaltung der Haushaltsführung und des häuslichen Wirkungskreises gegenüber der Betreuung und Pflege der Bewohner in den Hintergrund tritt oder sogar aufgegeben wird, zu den Wohngebäuden im Sinne des § 3 Abs. 4 BauNVO (vgl. Bielenberg in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg, BauGB, Stand: Januar 2002, § 3 BauNVO, Rdn. 10; Ziegler in: Kohlhammer Kommentar zum BauGB, Stand: November 2001, § 3 BauNVO, Rdn. 16 f.; Stock in: König/Roeser/Stock, BauNVO, 1999, § 3 Rdn. 4, 23). Wesentlich ist in diesem Zusammenhang lediglich eine wohnartige Unterbringung im Unterschied zur krankenhausähnlichen Unterbringung. Krankenhäuser und Kliniken dienen der Erkennung und Behandlung von Krankheiten einschließlich der Nachsorge und stehen unter ärztlicher Leitung. Das Wohnheim des Beigeladenen für desorientierte (alte) Menschen stellt ungeachtet der Bezeichnung als geronto-psychiatrische Abteilung keinen klinikartigen Betrieb dar, sondern ein Wohnheim zur Betreuung alter verwirrter Menschen. Das wird daran deutlich, dass die Bewohner - vom Pflegebett abgesehen - in Zimmern mit eigenen Möbeln wohnen, von ihren jeweiligen Hausärzten betreut werden und die Einrichtung keine medizinische Leitung und Aufsicht hat. Als Vorhaben, das der Betreuung und Pflege der Bewohner dient, ist das Wohnheim für desorientierte Menschen daher nach § 3 Abs. 4 BauNVO im reinen Wohngebiet zulässig, so dass ein Abwehranspruch der Kläger ausscheidet (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.09.1993 - 4 C 28.91 -, BVerwGE 94, 151 = DVBl. 1994, 284).

20

Das Vorhaben des Beigeladenen ist auch nicht unzulässig, weil es nach Anzahl, Lage, Umfang oder Zweckbestimmung der Eigenart des Baugebietes widerspricht oder von ihm Belästigungen oder Störungen ausgehen können, die nach der Eigenart des Baugebietes im Baugebiet unzumutbar sind. Wohnheime für desorientierte alte Menschen zeichnen sich nicht durch besondere Lärmbelästigungen aus. Auch wenn es nach den Bekundungen der Kläger bei dem Betrieb des Beigeladenen in der Vergangenheit immer wieder zu Lärmbelästigungen in der Nacht gekommen ist, kann bei der planungsrechtlichen Beurteilung von Wohnheimen für verwirrte alte Menschen nicht davon ausgegangen werden, dass diese typischerweise mit Lärmbelästigungen für die Nachbarschaft verbunden sind. Das gilt auch unter Berücksichtigung des hohen Schutzniveaus, das ein reines Wohngebiet genießt.

21

Das bedeutet nicht, dass die Kläger gegenüber tatsächlichen Störungen der Nachtruhe schutzlos sind. Der Beigeladene muss vielmehr voraussehbaren Störungen der Nachtruhe vorbeugen. Ob dazu äußerstenfalls eine Verlegung eines Bewohners in einen anderen Flügel des umfangreichen Baubestands ins Auge gefasst werden muss, bedarf hier keiner Entscheidung.

22

Den Klägern stehen auch im Hinblick auf das Maß der baulichen Nutzung und die überbaute Grundstücksfläche keine Abwehrrechte gegen den Bauvorbescheid für das hier umstrittene Vorhaben zu. Dabei kann offen bleiben, ob sich das Vorhaben des Beigeladenen nach dem Maß der baulichen Nutzung und der überbaubaren Grundstücksfläche in jeder Hinsicht in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt oder seine Lage zwischen dem Haus der Klägerin und dem Haus L. weg 1 in dem bis dahin durchgrünten rückwärtigen Bereich den durch die Bebauung der näheren Umgebung gebildeten Rahmen überschreitet und bodenrechtliche Spannungen begründet. Dem Nachbarn stehen nämlich nicht gegen jede Bebauung Abwehrrechte zu, die sich nicht nach § 34 Abs. 1 BauGB einfügt, vielmehr nur gegen eine solche, die das Gebot der nachbarlichen Rücksichtnahme verletzt, das im Gebot des Einfügens enthalten ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 23.05.1986 - 4 C 34.85 -, DVBl. 1986, 1271). Die Anforderungen des Gebotes der Rücksichtnahme hängen wesentlich von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab und dem was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge billiger Weise zuzumuten ist.

23

Zwar rückt das Vorhaben des Beigeladenen recht nahe an das Grundstück der Kläger heran und ragt wegen des stark hängigen Geländes im Verhältnis zum Haus der Klägerin recht hoch auf, jedoch kann von einer erdrückenden Wirkung des Vorhabens des Beigeladenen keine Rede sein. Zum einen passt sich das Gebäude des Beigeladenen in seiner gestuften Geschossigkeit dem starken Gefälle an. Zum anderen ist das Haus der Klägerin nicht nach Südosten zum Vorhaben des Beigeladenen, sondern als Winkelbungalow nach Westen ausgerichtet. Das Haus der Klägerin ist weit von der G. Allee zurückgesetzt an der südöstlichen Grundstücksgrenze errichtet und an seiner südöstlichen und südwestlichen Grenze so stark durch Büsche und Bäume eingegrünt, dass nicht die Baumasse auf dem Grundstück des Beigeladenen das Haus der Klägerin "erdrückt", sondern die dichte Begrünung es an diesen Seiten "einengt". Auf der Südost- und Südwestseite des Hauses der Klägerin befinden sich keine Außenwohnbereiche, vielmehr bleibt zwischen dem Haus und der Eingrünung gerade so viel Platz, dass man um das Haus herumgehen kann. Auch wenn man vom Grundstück das nach Nordwesten zweigeschossig erscheinende Vorhaben des Beigeladenen wahrnehmen kann, schließt die dichte Eingrünung eine "erdrückende Wirkung" aus.

24

Das Grundstück des Klägers G. Allee 5 liegt vom Vorhaben des Beigeladenen weiter entfernt als das Grundstück der Klägerin und wiederum tiefer als deren Grundstück. Das Haus ist mit seiner Terrasse nach Süden ausgerichtet, der Garten steigt, durch Stufen erschlossen, deutlich nach Süden an und bietet mehrere Sitzgelegenheiten. Dieses Grundstück weist vielfältigen Bewuchs - Büsche und Bäume - auf, so dass das Vorhaben des Beigeladenen optisch nicht auffällt. Die Entfernung der Außenwohnbereiche und des Hauses schließen ebenso wie die dichte Eingrünung eine erdrückende Wirkung des Vorhabens des Beigeladenen aus.

25

Die Kläger können schließlich auch aus der behaupteten Änderung der hydrologischen Verhältnisse keine Abwehrrechte herleiten. Der Bauvorbescheid lässt die Gründung des Gebäudes offen, die möglicherweise hydrologische Verhältnisse beeinflussen mag. Vor allem aber ist - wie der Kläger in der mündlichen Verhandlung selbst betont hat - nicht belegt, dass die vom Kläger beobachteten hydrologischen Veränderungen auf den umstrittenen Bau des Beigeladenen zurückzuführen sind oder ihre Ursache in anderen Umständen haben.