Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 28.08.2002, Az.: 1 LA 176/02

Abschiebungshindernis; Angola; Tod Savimbis; Unterschenkelamputation; Überlebenssituation

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
28.08.2002
Aktenzeichen
1 LA 176/02
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2002, 43533
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 07.06.2002 - AZ: 4 A 1952/01

Gründe

1

Der rechtzeitig gestellte Zulassungsantrag hat keinen Erfolg.

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Die Zulassungsanträge der Kläger zu 2., 3., 5. und 6. sind schon deshalb unbegründet, weil die Beklagte gemäß § 42 AsylVfG an die Entscheidungen des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge über das Nichtvorliegen der Voraussetzungen des § 53 AuslG gebunden ist. Nach der Rechtsprechung des Senats (vgl. insbesondere Urteil vom 1. März 2001 - 1 L 593/00 - , V. n. b.) sind Ausländer berechtigt, beim Bundesamt isoliert eine Änderung der Entscheidung über Abschiebungshindernisse zu beantragen. Der Senat hat hierzu unter anderem ausgeführt:

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"Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts muss dem Umstand, dass die Befugnis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse mit Bindungswirkung für die Ausländerbehörden festzustellen, in der Hand des Bundesamtes monopolisiert ist (vgl. auch den Gegenschluss aus § 42 Satz 2 AsylVfG), im Interesse des Ausländers Rechnung getragen werden können, wenn sich die Verhältnisse im Zielstaat nach seiner Behauptung in einer die Abschiebung ausschließenden Weise geändert haben. In einem solchen Fall hat das Bundesamt nach pflichtgemäßem Ermessen darüber zu entscheiden, ob die bestandskräftige Entscheidung       über (das Fehlen der) Abschiebungshindernisse für die Zukunft Bestand haben kann. Dem Ausländer steht ein Anspruch auf fehlerfreie Ausübung dieses Ermessens zu. Die Ermächtigung zu einer neuen Entscheidung       über die Abschiebungshindernisse ergibt sich aus § 51 Abs. 5 i.V.m. § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG. Diese Entscheidung ist - gerade weil kein Asylfolgeantrag gestellt wird - nicht an die Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG gebunden. Diese Begünstigung rechtfertigt sich daraus, dass hier "nur" die Feststellung von Abschiebungshindernissen in Rede steht, welche die Vollziehbarkeit der Ausreiseaufforderung unangetastet lassen und nach der Rechts- (unter Umständen anders als nach der Tatsachen-) lage lediglich einen zeitlich begrenzten Aufschub gewähren (vgl. zum Vorstehenden Urt. v. 21.3.2000 - 9 C 41.99 -, a.a.O. am Ende der Entscheidung; Einstellungsbeschl. v. 23.11.1999 - 9 C 3.99 -, NVwZ 2000, 941 = Buchholz 402.25 § 71AsylVfG Nr. 5 unter  Hinweis auf Urteil v. 7.9.1999 - 1 C 6.99 -, NVwZ 2000, 204 = DVBl 2417 = EZAR 043 Nr. 39; zustimmend BVerfG - 1. Kammer des 2. Senats -, Beschl. v. 21.6.2000 - 2 BvR 1989/97 -, NVwZ 2000, 907 = DVBl 2000, 1279)."

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Solange die Kläger zu 2., 3., 5. und 6. diese Möglichkeit nicht ausnutzen, sind der Beklagten daher gemäß § 42 AsylVfG "die Hände gebunden" und für eine eigenständige Prüfung der Frage, ob Abschiebungshindernisse im Sinne des § 53 AuslG bestehen, kein Raum. Im Übrigen muss deren Zulassungsantrag aus den nachstehenden Gründen ohne Erfolg bleiben.

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Hinsichtlich der Kläger zu 1. und 8. bestehen solche bindenden Entscheidungen zwar nicht. Es ist indes nicht im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ernstlich zweifelhaft, dass der für eine Klagestattgabe erforderliche Anspruch auf Duldung gem. §§ 55 Abs. 2, 53 Abs. 6, 30 Abs. 5 i. V. m. 3 AuslG nicht besteht. Es sprechen daher nicht - wie zum Erfolg des auf § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO gestützten Zulassungsangriffes erforderlich - "die besseren Gründe" für das von den Klägern gewünschte Ergebnis (vgl. Senatsbeschluss vom 31.7.1998 - 1 L 2696/98 -, NVwZ 1999, 431). Das Zulassungsvorbringen begründet nicht in ausreichend substantiiertem Umfang (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO n. F.) die Annahme, die Kläger könnten Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 AuslG verlangen.

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Die Rechtsgrundsätze hierzu sind in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt (vgl. etwa Urt. vom 19.11.1996 - 1 C 6.95 -, BVerwGE 102, 249 = NVwZ 1997, 685 = InfAuslR 1997, 193 = DVBl 1997, 902 = EZAR 033 Nr. 10). Sie lassen sich etwa wie folgt zusammenfassen:

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Unzumutbar ist eine Abschiebung hiernach dann, wenn der Kläger im Falle seiner Abschiebung dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen überantwortet würde und die Oberste Landesbehörde in verfassungswidriger Weise von ihrer Ermessensermächtigung nach § 54 AuslG keinen Gebrauch gemacht hat. Dazu muss eine extreme Gefahrenlage bestehen, welche landesweit existiert und so stark ist, dass praktisch jedem, der in diesen Staat abgeschoben wird, Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit in so erhöhtem Maße drohen, dass eine Abschiebung dorthin als unzumutbar erscheint. Eine derartig extreme allgemeine Gefahrenlage ist etwa dann anzunehmen, wenn der Bürgerkrieg ein solches Ausmaß erreicht hat, dass der Ausländer im Falle seiner Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde. Eine derartig extreme allgemeine Gefahrenlage ist dadurch gekennzeichnet, dass der Bürgerkrieg gewissermaßen für jeden Betroffenen mit so erheblichen Gefährdungen verbunden ist, dass auch dem einzelnen Ausländer eine Abschiebung in dieses Land nicht zugemutet werden kann. Dies oder etwa aufgrund schlechter Versorgungslage bestehende Rechtsgutbeeinträchtigungen müssen so erheblich, konkret unmittelbar bevorstehend sein, dass eine Abschiebung nur unter Verletzung der zwingenden Verfassungsgebote aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 1 Abs. 1 GG erfolgen könnte. Maßgeblich ist insoweit eine objektive Beurteilung. Wann die Furcht eines Einzelnen angesichts einer allgemeinen Gefährdung als begründet anzusehen ist und damit zu einem zwingenden Abschiebungshindernis führt, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts dieser Gefahr ist von einem erhöhten Maßstab auszugehen.

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Der Zulassungsantrag begründet keine Anhaltspunkte für die Annahme, entgegen der vom Senat in der Entscheidung vom 1. März 2001 - 1 L 593/00 - (V. n. b.) ausführlich begründeten Einschätzung habe der Tod des UNITA-Führers Savimbi eine derartige extreme Gefahrenlage zur Folge oder bestünden in der Person der Kläger Anhaltspunkte für eine abweichende Beurteilung.

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Zum erstgenannten Punkt ist auszuführen:

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Die von der Klägerseite angeführten Zeitungsartikel rechtfertigen nicht die Annahme, landesweit habe sich die Versorgungssituation dramatisch so verschlechtert, dass jedenfalls jetzt einem Angolaner in der Regel die Rückkehr in seine Heimatland nicht zuzumuten sei. Gerade der Artikel vom 11. Mai 2002 aus Die Tageszeitung belegt lediglich, dass - was allerdings keine Überraschung sein konnte - in den einst von den UNITA-Rebellen kontrollierten Gebieten dramatische, katastrophale Zustände herrschen. Nur auf diese Gebiete beziehen sich die Darstellungen dieses Berichts, die Vorräte reichten nicht aus, die Hilfsorganisationen hätten daher keine andere Wahl, als die Rationen für einige Gruppen zu verkleinern, damit stärker Hungernde etwas abbekämen. Für die übrigen Landesteile, namentlich diejenigen, welche schon bislang nicht unter der Kontrolle der UNITA-Rebellen standen, trifft dieser Zeitungsartikel keine Aussage. Dasselbe ergibt sich im Übrigen auch aus der dpa-Meldung vom 16. Mai 2002. Die darin geschilderten katastrophalen Zustände hinsichtlich der Ernährungs- und medizinischen Versorgung der Bevölkerung beziehen sich gleichfalls ausschließlich auf die Gebiete, welche bislang von der UNITA kontrolliert worden waren und dementsprechend von den zahlreichen dort operierenden internationalen Organisationen vor dem Tode Savimbis nicht hatten erreicht werden können. Es bestehen indes keine ausreichenden Anhaltspunkte für die Einschätzung, die Kläger müssten oder würden im Falle ihrer Rückkehr just in diese nach wie vor schwer zugänglichen (verminte Straßen!) Gebiete gelangen. Maßgeblich für die anzustellende realistische Einschätzung (vgl. BVerwG, B. v. 21. September 1999 - 9 C 12/99 -, BVerwGE 109, 305 = InfAuslR 2000, 93 = DVBl 2000, 419 = EzAR 043 Nr 41) sind dementsprechend die Verhältnisse, wie sie namentlich in Luanda, dem voraussichtlichen Ankunftsort, anzutreffen sind. Für diese gibt es keine ausreichenden Anhaltspunkte für die Annahme, die durch Beginn der Abgabe der Waffen tatsächlich in die Tat umgesetzte Auflösung der UNITA-Rebellengruppen habe direkt oder indirekt zu einer derartigen Verknappung der Lebensmittelressourcen geführt, dass jedenfalls jetzt jeder Angolaner im Falle seiner Rückkehr gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert werde. Die Existenz der von der Klägerseite behaupteten marodierenden Banden ist nicht belegt. Selbst wenn es sie gäbe - etwa weil es schwierig sein mag, diese in ein halbwegs zivilisiertes Zusammenleben zu integrieren -, wäre mit diesem Zulassungsantragsvorbringen noch nicht belegt, dass deren "Wirkungsbereich" über die einst von der UNITA kontrollierten Gebiete hinausginge und daher auch die Bereiche erfasste, in welche die Kläger bei realistischer Prognose im Falle der Rückkehr allein gelangen können. Sollten versprengte Rebellgruppierungen tatsächlich in Teilbereichen die bisherige Praxis der UNITA fortführen, würde dies - im Gegenteil - sogar u.U. zu Lasten der dortigen Bevölkerung bewirken, dass neue Personen dorthin nicht gelangen können und die vorhandene Bevölkerung "zum Vorteil der übrigen" von den Lebensmittellieferungen abgeschnitten würde.

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Zum zweiten oben angesprochenen Zulassungsangriff ist das Folgende auszuführen:

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Für die Klägerin zu 2. wird ein gesundheitliches oder sonstiges Defizit, welches sie außerstande setzte, sich in ihrem Heimatland um Lebensmittelrationen aus den internationalen Hilfsorganisationen zu bemühen, auf Seite 3 der Zulassungsantragsschrift vom 5. Juli 2002 lediglich behauptet, nicht aber dargelegt.

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Der Umstand allein, dass der Kläger zu 1. einen Unterschenkel eingebüßt hat, rechtfertigt gleichfalls nicht die Einschätzung, er und seine Familie würden im Falle der Rückkehr - das ist das von der Ausländerbehörde zugrunde zu legende realistische "Szenario" - sehenden Auges den oben beschriebenen extremen Gefahren ausgesetzt und sei ihnen deshalb eine Rückkehr nicht zuzumuten. Hinzuweisen ist insoweit auf mehreres:

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Erstens mag den Kläger dies hindern, schwere körperliche Arbeiten auszuüben. Allein in solchen bestehen die Möglichkeiten, welche der informelle Dienstleistungssektor in Angola allein bietet, indes nicht. Der Umstand, dass der Kläger - offensichtlich mit Hilfe einer Prothese - ins Ausland hat reisen können und dann einen illegalen Wiedereinreiseversuch unternommen hat (vgl. Seite 7 des Bescheides der Beklagten vom6.3.2000) zeigt, dass sich der Kläger zu 1. zu behelfen weiß. Dementsprechend hätte es eingehenderer Darlegung bedurft, weshalb ihn dieser (bedauernswerte) Umstand hindern soll, wenigstens zum Teil zu seinem und der Familie erforderlichen Lebensunterhalt beizutragen.

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Es kommt - zweitens - hinzu, dass es zum Überleben der Familie nicht zwingend erforderlich ist, dass der Kläger zu 1 vollen Umfangs einsatzfähig ist. Sowohl seine Frau als auch ein Teil seiner Kinder - die Kläger zu 3. und 5. sind 17 bzw. 15 Jahre alt - sind imstande, durch Beteiligung an einer der Aktionen der zahlreich in Angola operierenden internationalen Hilfsorganisationen zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen.

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Drittens ergibt sich schließlich aus dem von der Klägerseite zitierten Artikel der taz vom 11. Mai 2002, dass diese Hilfsorganisationen gerade in Zeiten verknappter Lebensmittelressourcen ihre Hilfe nach sozialen Gesichtspunkten ausrichten. Dazu dürften gerade Minenopfer gehören, die - wie der Kläger zu 1. - (unter anderem) einen Unterschenkel eingebüßt haben. Angesichts der Zahl der in Angola (vermutlich) verstreuten Landminen (das Institut für Afrikakunde schätzt sie in seiner Auskunft vom 31. 8. 1995 an das VG Neustadt/Weinstraße auf 10 - 15 Millionen) ist damit zu rechnen, dass eine ganze Reihe von Personen durch Minen geschädigt worden sind und auf internationale Hilfe angewiesen sind (vgl. auch FR vom 29.10.1999: zahlreiche Minenopfer; ebenso UNHCR in: Asylmagazin 2000, 24 vom 4.7.2000).  Als Personenkreis, der speziell ohne echte Überlebenschancen ist, werden diese in den vorliegenden Berichten des Auswärtigen Amtes und anderer Stellen wie namentlich ai oder UNHCR nicht genannt.

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Aus den vorstehenden Ausführungen ergibt sich, dass die von der Klägerseite unterbreiteten Unterlagen auch nicht die grundsätzliche Klärungsbedürftigkeit der vom Senat bereits beantworteten Frage begründen, ob und welchen Umfangs Angolanern die Rückkehr wegen der dort bestehenden Versorgungslage im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG zugemutet werden kann.

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Aus den vorstehenden Ausführungen folgt zugleich, dass der Zulassungsantrag keine hinreichenden Aussichten auf Erfolg im Sinne des § 166 VwGO iVm § 114 ZPO hatte. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (B. v. 13. März 1990 - 2 BvR 94/88 - BVerfGE 81, 347 = DVBl 1990, 926 = NJW 1991, 413) darf das Fachgericht zwar die Beantwortung schwieriger Tatsachen- oder Rechtsfragen nicht gleichsam in das Prozesskostenhilfeverfahren verschieben und die Bewilligung von Prozesskostenhilfe von der Beantwortung dieser Fragen abhängig machen; denn das Grundgesetz gebietet eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes. Auch dieser Gesichtspunkt führt zur Bewilligung von Prozesskostenhilfe indes nicht, wenn der Sachantrag - wie hier - in wesentlichen wegen fehlender Substantiierung ohne Erfolg bleibt.