Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 14.08.2002, Az.: 4 LB 629/01
Bagatellgrenze; Begrenzung; Erstattung; Kosten; Kostenerstattung; Kostenerstattungsanspruch; Leistungszeitraum; Sozialhilfe; Sozialhilfeträger; Träger der Sozialhilfe
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 14.08.2002
- Aktenzeichen
- 4 LB 629/01
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2002, 43961
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 31.08.1999 - AZ: 15 A 5872/98
Rechtsgrundlagen
- § 107 Abs 2 S 2 BSHG
- § 111 Abs 2 S 2 BSHG
- § 111 Abs 1 S 2 BSHG
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
§ 111 Abs. 2 Satz 2 BSHG F. 1996, wonach die Begrenzung des Kostenerstattungsanspruchs zwischen Trägern der Sozialhilfe auf 5.000 DM (2.560 Euro) für alle Mitglieder eines Haushalts i. S. d. § 11 Abs. 1 Satz 2 BSHG zusammen gilt, ist auf Leistungszeiträume vor dem 01.08.1996 anzuwenden, wenn unter der Geltung des alten Rechts der Zweijahreszeitraum des § 107 Abs. 2 Satz 2 BSHG noch nicht abgeschlossen gewesen und die Hilfe über den 01.08.1996 hinaus fortgesetzt worden ist (wie OVG NRW, FEVS 53, 273).
Tatbestand:
Der Kläger verlangt vom Beklagten Erstattung von Leistungen zum Lebensunterhalt, die er für die Zeit vom 1. November 1995 bis zum 31. Oktober 1996 Mitgliedern der Familie D. gewährt hat, nachdem diese aus dem Bereich des Beklagten in seinen Bereich umgezogen waren. Wegen der Einzelheiten nimmt der Senat auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug (§ 130 b Satz 1 VwGO).
Durch dieses Urteil hat das Verwaltungsgericht den Beklagten verurteilt, dem Kläger die für Frau D. und fünf minderjährige Kinder für den genannten Zeitraum aufgewandten Kosten in Höhe von 13.866,18 DM zu erstatten. Es hat zur Begründung u. a. ausgeführt: Dem Erstattungsanspruch des Klägers nach den §§ 107, 111 Abs. 1 BSHG stehe die Regelung des § 111 Abs. 2 Satz 1 BSHG über die Bagatellgrenze von 5.000,-- DM nicht entgegen. Zwar habe er für jedes einzelne Familienmitglied - außer für Herrn D., für den der Beklagte Aufwendungen in Höhe von insgesamt 7.417,02 DM erstattet habe, weniger als 5.000,-- DM aufgewandt. Nach § 111 Abs. 2 Satz 2 BSHG, der durch das Gesetz zur Reform des Sozialhilferechts vom 23. Juli 1996 (BGBl. I, 1008) mit Wirkung ab 1. August 1996 eingefügt worden sei, gelte die Begrenzung auf 5.000,-- DM aber für alle Mitglieder des Haushalts im Sinne des § 111 Abs. 1 Satz 2 BSHG zusammen. Danach sei hier die Bagatellgrenze überschritten. Diese neue Vorschrift sei, da der Gesetzgeber eine andere Übergangsregelung nicht getroffen habe, nach dem Grundsatz der sofortigen Anwendung neuen Rechts auch auf solche Sachverhalte anzuwenden, die - wie hier - zwar vor dem Inkrafttreten schon begonnen hätten, zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht abgeschlossen gewesen seien. Dies führe nicht zu einer (verfassungsrechtlich unzulässigen) echten Rückwirkung. Denn die Bagatellgrenze räume dem erstattungspflichtigen Sozialhilfeträger lediglich (zeitweise) ein Leistungsverweigerungsrecht ein, betreffe also - ähnlich wie die Einrede der Verjährung - nur die Durchsetzung des Kostenerstattungsanspruchs. Die Einfügung des Satzes 2 in § 111 Abs. 2 BSHG berühre also nur die Durchsetzbarkeit bereits entstandener und noch nicht befriedigter Kostenerstattungsansprüche. Dies führe lediglich zu einer unechten Rückwirkung, da die Norm auf gegenwärtige, noch nicht abgewickelte Rechtsbeziehungen für die Zukunft einwirke. Die unechte Rückwirkung sei nur dann ausnahmsweise verfassungsrechtlich unzulässig, wenn Grundsätze des Vertrauensschutzes oder der Verhältnismäßigkeit verletzt würden. Das sei hier offensichtlich nicht der Fall.
Gegen dieses Urteil wendet sich der Beklagte mit der vom Senat wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassenen Berufung. Er macht u. a. geltend: Die Bagatellgrenze räume - entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts - nicht lediglich ein Leistungsverweigerungsrecht ein, sondern lasse den Erstattungsanspruch von vornherein nicht entstehen, solange die Bagatellgrenze nicht erreicht sei. Durch die Anwendung des § 111 Abs. 2 Satz 2 BSHG in der vom Verwaltungsgericht für richtig gehaltenen Auslegung würde deshalb verfassungsrechtlich unzulässig in einen zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Neuregelung abgeschlossenen Sachverhalt eingegriffen. Denn der dem Erstattungsanspruch zugrunde liegende Sachverhalt sei nicht erst mit dem Ende des Erstattungszeitraums von bis zu zwei Jahren (§ 107 Abs. 2 Satz 2 BSHG) abgeschlossen, sondern, da Sozialhilfe keine rentengleiche Dauerleistung sei, mit jeder einzelnen Sozialhilfeleistung. Somit sei der dem Erstattungsanspruch zugrunde liegende Sachverhalt am 1. August 1996 in Bezug auf die bis dahin geleistete Sozialhilfe abgeschlossen gewesen. Darauf dürfe die Neuregelung nicht rückwirkend angewandt werden. Die für die Zeit vom 1. August bis zum 31. Oktober 1996 für alle Familienmitglieder aufgewandten Kosten überschritten die Bagatellgrenze nicht.
Der Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil zu ändern und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verteidigt das angefochtene Urteil.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beteiligten ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist zulässig, aber nicht begründet.
Der Senat weist die Berufung aus den Gründen des angefochtenen Urteils als unbegründet zurück und sieht deshalb insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 130 b Satz 2 VwGO). Auch nach der Rechtsprechung des OVG NRW ist § 111 Abs. 1 Satz 2 BSHG auf vor dem 1. August 1996 noch nicht abgeschlossene Leistungszeiträume insgesamt anzuwenden (Urt. v. 29. Mai 2001 - 16 A 455/01 -, ZfSH/SGB 2002, 20 = FEVS 53, 273). Auch danach ist ein Leistungszeitraum vor dem 1. August 1996 noch nicht abgeschlossen gewesen, wenn - wie hier - unter der Geltung des alten Rechts der Zweijahreszeitraum des § 107 Abs. 2 Satz 2 BSHG noch nicht abgeschlossen gewesen und die Hilfe über den 1. August 1996 hinaus fortgesetzt worden ist. Die Auffassung des Beklagten, "mit jeder einzelnen Sozialhilfezahlung" (täglich oder monatlich -) sei der dem Erstattungsanspruch zugrunde liegende Sachverhalt bereits jeweils abgeschlossen, trifft offensichtlich nicht zu. Denn schon nach dem unverändert gebliebenen § 111 Abs. 2 Satz 1 BSHG ist zu prüfen, ob die aufgewendeten Kosten "bezogen auf einen Zeitraum der Leistungsgewährung von bis zu zwölf Monaten" den Betrag von 5.000,-- DM erreichen. Ist das der Fall, ist der gesamte Kostenbetrag zu erstatten; die nachfolgenden Kosten müssen die Bagatellgrenze nicht erneut erreichen (BVerwG, Urt. v. 19. 12. 2000 - 5 C 30.99 - BVerwGE 112, 294 = FEVS 52, 221).
Der auch vom Senat für richtig gehaltenen Auslegung und Anwendung des § 111 Abs. 2 Satz 2 BSHG steht schließlich das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 23. März 2000 (5 C 13.99 - NVwZ-RR 2000, 794 = FEVS 51, 443 = NDV-RD 2000, 83 = DVBl. 2000, 1687) nicht entgegen. Dort hat das Bundesverwaltungsgericht - unter ausdrücklicher Ablehnung der gegenteiligen Auffassung des erkennenden Senats im Urteil vom 28. April 1999 (4 L 5085/98 - FEVS 51, 331) - entschieden, ein Kostenerstattungsanspruch nach § 107 BSHG in seiner vom 1. Januar 1994 an geltenden Fassung setze einen Aufenthaltswechsel nach dem 1. Januar 1994 voraus. Begründet hat es seine Auffassung damit, dass diese neu geschaffene Erstattungsregelung daran anknüpfe, dass eine Person "verzieht", also unter der Geltung der neuen Vorschrift umziehe; das schließe ihre Anwendung auf Umzüge vor ihrem Inkrafttreten aus. Dagegen schafft § 111 Abs. 2 Satz 2 BSHG nicht einen neuen Erstattungsanspruch, sondern modifiziert lediglich die Regelung über die Bagatellgrenze, die es auch schon vorher gegeben hat.
Die Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 154 Abs. 2, 173 VwGO i. V. m. § 708 Nr. 10 ZPO.
Der Senat lässt nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zu, da die hier maßgebliche Frage der Auslegung des § 111 Abs. 2 Satz 2 BSHG in der Literatur umstritten und - soweit ersichtlich - bisher höchstrichterlich nicht entschieden ist.