Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 20.08.2002, Az.: 11 LB 44/02
einheitliches Verfolgungsschicksal; Fisleme; Rückkehrgefährdung; Sippenhaft; Türkei
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 20.08.2002
- Aktenzeichen
- 11 LB 44/02
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2002, 43499
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 24.09.2001 - AZ: 5 A 246/01
Rechtsgrundlagen
- § 26a AsylVfG
- § 71 Abs 1 AsylVfG
- § 51 Abs 1 AuslG
- Art 16a Abs 1 GG
- § 51 Abs 1 VwVfG
- § 51 Abs 2 VwVfG
- Art 16a Abs 2 GG
- § 51 Abs 3 VwVfG
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Zur Annahme einer sippenhaftähnlichen Gefährdungslage bei Rückkehr in die Türkei
Tatbestand:
Der Kläger wendet sich dagegen, dass die Beklagte den Beigeladenen aufgrund seines zweiten Asylfolgeantrages als Asylberechtigten anerkannt und festgestellt hat, dass hinsichtlich der Türkei die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen.
Der im Februar 1982 in D. /Provinz Erzurum geborene Beigeladene ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit. Er reiste nach seinen Angaben am 13. Dezember 1996 im Alter von 14 Jahren mit Hilfe von Schleppern und mit einem gefälschten Reisepass auf dem Luftweg nach Deutschland ein und stellte am 23. April 1997 einen ersten Asylantrag mit der Begründung, dass er die Türkei wegen der Unterdrückung durch die Sicherheitskräfte verlassen habe. Er habe die Grundschule fünf Jahre lang besucht und anschließend seinem Vater in der Landwirtschaft geholfen. Verwandte von ihm hätten sich der PKK angeschlossen und deshalb seien er und auch andere Dorfbewohner von den Militärs häufig zusammengetrieben und gefoltert worden. Die Militärs seien ungefähr einmal in der Woche in sein Heimatdorf E. /Kreis Tekman/Provinz Erzurum gekommen. Zuletzt seien er und die anderen Dorfbewohner am frühen Morgen des 25. November 1996 von dem Soldaten zusammengetrieben und frühmorgens in der Schule versammelt worden. Er sei gefoltert und ihm seien Fragen gestellt worden. Auch habe man ihm vorgehalten, dass Verwandte in die Berge gegangen seien. Ihm sei eine Waffe an den Kopf gehalten und ihm sei gedroht worden, ihn zu erschießen. Er und die anderen Dorfbewohner seien aufgefordert worden, das Dorf zu verlassen. Gegen 18.30 Uhr sei er freigelassen worden. Die Soldaten hätten ihn aufgefordert, sich auf der Militärwache in Tekman zu melden. Daraufhin habe er sich versteckt und sein Heimatdorf schließlich am 1. Dezember 1996 verlassen. In Deutschland seien zahlreiche seiner Verwandten als Asylberechtigte anerkannt oder genössen Abschiebungsschutz. Er sei mit dem Flugzeug der Fluggesellschaft F. gegen 17.00 Uhr in Ankara abgeflogen und um 20.15 Uhr in Düsseldorf gelandet, dort habe ihn sein Cousin abgeholt. Sämtliche Reiseunterlagen habe ihm der Schlepper noch im Flughafengebäude abgenommen.
Mit Bescheid vom 28. August 1997 erkannte die Beklagte den Beigeladenen als Asylberechtigten an und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich der Türkei vorliegen. Es stehe aufgrund der Angaben des Beigeladenen fest, dass dieser auf dem Luftweg eingereist sei, so dass die Nichtvorlage entsprechender Unterlagen unschädlich sei. Es sei auch davon auszugehen, dass der Kläger im Fall seiner Rückkehr in die Türkei asylrechtlich relevanten Maßnahmen ausgesetzt sei.
Auf die dagegen gerichtete Klage des Klägers hob das Verwaltungsgericht G. diesen Bescheid der Beklagten durch Urteil vom 8. Dezember 1997 - 5 A 721/97 - mit der Begründung auf, der Beigeladene sei nicht vorverfolgt ausgereist und habe im Falle einer Rückkehr nicht mit asylrelevanten Maßnahmen zu rechnen, da er eine inländische Fluchtalternative habe. Ein Antrag des Beigeladenen auf Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung wurde vom erkennenden Senat abgelehnt (Beschl. v. 12.2.1998 - 11 L 764/98 -).
Mit einem weiteren Bescheid vom 18. August 1999 stellte die Beklagte auf Antrag des Beigeladenen vom 24. März 1998 wegen einer Rückkehrgefährdung des Beigeladenen aufgrund seines familiären Hintergrundes das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 4 AuslG fest. Zur näheren Begründung führte die Beklagte an, der Beigeladene habe glaubhaft vorgetragen, als Minderjähriger im Alter von 12 und 14 Jahren zweimal durch türkische Sicherheitskräfte gefoltert worden zu sein. Darüber hinaus seien einige Angehörige seiner Familie PKK-Kämpfer gewesen oder seien dies noch, andere Familienangehörige seien in hervorgehobener Stellung exilpolitisch aktiv. Sein Onkel Harun H. sei mittlerweile auch Mitglied des kurdischen Exilparlaments. Daher bestehe die konkrete Gefahr, dass der Beigeladene bei einer Rückkehr in die Türkei von türkischen Sicherheitskräften verhört und misshandelt werde, um Informationen über das Umfeld seiner Verwandten zu gewinnen.
Auf die hiergegen gerichtete Klage des Klägers hob das Verwaltungsgericht G. mit rechtskräftigem Urteil vom 8. November 1999 - 5 A 525/99 - den Bescheid vom 18. August 1999 auf, da § 53 Abs. 4 AuslG nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats nur Abschiebungshindernisse erfasse, die nicht im Zusammenhang mit einer politischen Verfolgung stünden.
Bereits zuvor hatte der Beigeladene mit Schriftsatz seiner Prozessbevollmächtigten vom 11. Januar 1999 einen ersten Asylfolgeantrag gestellt, den er in dem genannten Schriftsatz damit begründete, dass seine gesamte Familie mittlerweile das Heimatdorf verlassen habe, nachdem Familienmitglieder durch die türkischen Sicherheitskräfte ermordet worden seien, da sie sich der PKK angeschlossen hätten. Anlässlich des Todes seines in der Türkei am 2. Dezember 1998 verstorbenen Vaters habe er bei einem Familientreffen am selben Tage von seinem Cousin Ferit I. erfahren, dass dieser im Oktober 1998 als einer der letzten Familienmitglieder das Dorf verlassen habe, aber sowohl in Ankara als auch in Istanbul von den Sicherheitskräften festgenommen und unter Androhung von Folter verhört worden sei. Dieser Cousin sei auch nach seinem, des Beigeladenen, Verbleib befragt worden, weil die Sicherheitskräfte seiner wegen der unterstellten Unterstützungshandlungen der PKK habhaft werden wollten. Schließlich habe Ferid J. bei einem Verhör in Istanbul angegeben, dass er, der Beigeladene, nach Deutschland geflüchtet sei. Daraufhin sei er, der Beigeladene, nach Mitteilung seines Cousins zur Festnahme ausgeschrieben worden. Sein Cousin F. J., der das gleiche Verfolgungsschicksal wie er erlitten habe, sei in Deutschland als Asylberechtigter anerkannt worden. Aufgrund der erlittenen Misshandlungen durch die türkischen Militär- und Polizeiangehörigen bestünden bei ihm, dem Beigeladenen, schwere psychische und depressive Krankheitszustände. Hierzu legte der Beigeladene ein Schreiben des Gesundheitsamtes des Landkreises K. vom 21. April 1998 an das Sozialamt der Stadt L. zur Frage seiner Arbeitsfähigkeit vor.
In seiner persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge am 29. März 1999 trug der Beigeladene im Wesentlichen vor: Er stamme aus der politisch aktiven Großfamilie M. (kurdisch), zu der die Familien J. und N. gehörten. Sie stammten alle aus dem Dorf Küllü Köyü (kurdisch: Kulli ), in dem inzwischen kein Familienangehöriger mehr lebe. Sein Vater sei am 2. Dezember 1998 verstorben. In der Türkei sei er zweimal gefoltert worden. Im September 1994 hätten die Sicherheitskräfte das Dorf umzingelt, weil ein Verwandter, der bei der PKK gewesen sei, getötet worden sei. Die Dorfbewohner, u. a. er und sein Cousin Ferid J., seien auf dem Schulgelände versammelt worden. Die Sicherheitskräfte hätten ihn herausgegriffen und ins "Folterzimmer" gebracht, wo er gefoltert worden sei. Er sei aufgefordert worden, "mit dieser Sache", d. h. mit der Unterstützung der PKK aufzuhören. Im Jahre 1996 hätten die Sicherheitskräfte am frühen Morgen wiederum das Dorf umzingelt und die Dorfbewohner, u.a. ihn, auf dem Schulplatz versammelt. Alle Dorfbewohner seien verhört und gefoltert worden. Auch er sei für mehrere Stunden verhört und gefoltert worden. Sie hätten ihm gedroht, ihn nach Tekman zu bringen und dort mit der Folter fortzufahren. Daraufhin habe er sich bis zu seiner Ausreise in einem leerstehenden Haus in seinem Heimatdorf versteckt gehalten. Auf die Frage nach Verwandten im Westen der Türkei erklärte der Beigeladene, dass sich sein Cousin Adnan N. in Istanbul im Gefängnis befinden solle. Sie hätten keine Nachricht von ihm, er sei zeitlich vor ihm geflüchtet und sitze vermutlich im Gefängnis.
Das Bundesamt vernahm während der Anhörung des Beigeladenen dessen Cousin Ferid J. als Zeugen. Dieser bekundete, er habe sowohl im Heimatdorf als auch später, als er, Ferid J., sich in Ankara aufgehalten habe, aufgrund von Telefongesprächen mit Dorfbewohnern erfahren, dass die Sicherheitskräfte nach dem Beigeladenen suchen würden. Er könne bestätigen, dass man nach der ganzen Familie suche. Die Jugendlichen seien für die Miliz tätig gewesen, überwiegend aber nur in untergeordneter Funktion als Kuriere. Er, Ferid J., habe die Türkei am 14. Juni 1998 verlassen. Den Beigeladenen habe er anlässlich des Todes seines Vaters vor ungefähr vier oder fünf Monaten in O. getroffen.
Mit Schriftsatz seiner Prozessbevollmächtigten vom 23. September 1999 wies der Beigeladene des Weiteren darauf hin, dass fast alle Angehörigen der Familien J. und N. zwischenzeitlich aus der Türkei geflohen oder sich in der Türkei im Gefängnis befänden. Es sei mithin zutreffend, wenn sein Cousin Ferid J. schildere, dass man nach wie vor seiner habhaft werden wolle und er per Haftbefehl zur Fahndung ausgeschrieben sei. Diverse Familienmitglieder seien entweder in leitenden Funktionen von PKK-Organisationen oder sonstigen Volksvereinigungen der Kurden tätig. Sein Onkel Harun J. sei vor ca. 1 ½ Jahren in das kurdische Exilparlament gewählt worden. Nach ihm werde per Haftbefehl gesucht. Mithin bestünde auf Seiten der türkischen Behörden ein großes Interesse, Mitglieder gerade dieser Familie habhaft zu werden, um Näheres über die Strukturen und die Funktionen der einzelnen Familienangehörigen zu erfahren.
Mit Bescheid vom 27. Oktober 1999 erkannte die Beklagte den Beigeladenen wiederum als Asylberechtigten an und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich der Türkei vorliegen. Zur Begründung führte das Bundesamt an, dass der Beigeladene einer sippenhaftähnlichen Gefährdungslage ausgesetzt sei.
Auf die hiergegen gerichtete Klage des Klägers hob das Verwaltungsgericht G. durch rechtskräftiges Urteil vom 31. Januar 2000 - 5 A 655/99 - den Bescheid vom 27. Oktober 1999 auf. Das Verwaltungsgericht Osnabrück hatte in der mündlichen Verhandlung Herrn Ferid J. als Zeugen vernommen und in den Urteilsgründen hierzu ausgeführt, dass dieser Zeuge nicht die in sein Wissen gestellten Behauptungen, nämlich nach dem Beigeladenen anlässlich einer Verhaftung befragt worden zu sein, habe bestätigen können. Der Zeuge sei auch nicht mehrfach in Ankara und Istanbul verhaftet und gefoltert und hierbei nach seinem, des Beigeladenen, Verbleib befragt worden. Die Nachfragen der örtlichen Sicherheitskräfte ließen nur den Schluss zu, dass sie den Verdacht hätten, der Beigeladene sei "in die Berge" gegangen. Diesem Verdacht könne der Beigeladene aber problemlos unter Hinweis auf seinen mittlerweile vierjährigen Aufenthalt entgegentreten. Der Beigeladene werde offensichtlich auch nicht mit Haftbefehl gesucht und habe daher im Westen der Türkei eine inländische Fluchtalternative. Auch wegen seiner Verwandten wie seines Onkels Harun J. habe der Beigeladene nicht mit sippenhaftähnlichen Maßnahmen zu rechnen.
Daraufhin stellte der Beigeladene mit Schriftsatz seiner Prozessbevollmächtigten vom 23. Februar 2001 einen zweiten Asylfolgeantrag mit der Begründung, sein weiterer Cousin Refik N., der seit 1993 in Istanbul gelebt habe, sei im Oktober 2000 nach Deutschland gekommen und inzwischen vom Bundesamt als Asylberechtigter anerkannt; er habe von ihm im Januar 2001 erfahren, er könne bekunden, dass nach ihm, dem Beigeladenen, gefahndet werde. Dies könne auch ein weiterer Zeuge aus der Verwandtschaft, Herr C. (richtig: C.) J., der auch als Asylberechtigter anerkannt sei, bekunden. Hinsichtlich des im vorhergehenden Verfahren vernommenen Zeugen Ferid J. sei vorzutragen, dass dessen Aussage vor dem Verwaltungsgericht aus Furcht vor Verfolgung und aufgrund einer Fehleinschätzung der Rolle deutscher Gerichte und Rechtsanwälte falsch gewesen sei.
Bei seiner daraufhin vom Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge am 8. Mai 2001 durchgeführten Anhörung gab der Beigeladene an, ein erstes Mal in der Türkei im August 1994 festgenommen worden zu sein. Bei seiner zweiten Festnahme am 25. November 1996 sei er morgens gegen 3.00 Uhr festgenommen und bis 19.00 Uhr auf der Wache festgehalten und währenddessen schwer gefoltert worden. Bereits im Jahr 2000 habe er von C. J. erfahren, dass die örtlichen Sicherheitskräfte im Heimatdorf nach ihm fragten.
Das Bundesamt vernahm Herrn Refik N. als Zeugen. Dieser gab an, jedes Mal, wenn er Schwierigkeiten gehabt und deshalb bei der Polizei gewesen sei, nach dem Beigeladenen gefragt worden zu sein. Ihm sei gesagt worden, dass dieser wegen Unterstützung und Unterschlupfgewährung der Terroristen gesucht würde. Im Laufe eines Verhörs unter Folter im Dezember 1998 in Istanbul sei er ebenfalls u. a. nach dem Beigeladenen befragt worden, wobei die vernehmenden Personen gesagt hätten, dass sie den Beigeladenen umbringen würden.
Die Beklagte erkannte den Beigeladenen durch Bescheid vom 6. Juni 2001 erneut als Asylberechtigten an und stellte zudem wiederum fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich der Türkei in seiner Person gegeben seien. Zur Begründung führte das Bundesamt an, nunmehr bestehe aufgrund der Aussagen des Zeugen Refik N. fest, dass nach dem Beigeladenen landesweit gefahndet werde. Zudem seien aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Familie N., von denen mehrere Angehörige auf Grund ihrer politischen Aktivitäten in der Türkei oder wegen herausragender prominenter exilpolitischer Betätigungen anerkannt worden seien, Verfolgungsmaßnahmen unter dem Gesichtspunkt der Sippenhaft zu befürchten.
Gegen diesen - ihm am 13. Juni 2001 zugestellten - Bescheid hat der Kläger am 19. Juni 2001 unter Hinweis auf die früheren Gerichtsentscheidungen Klage mit der Begründung erhoben, dieser letzten Entscheidung des Bundesamtes stehe immer noch die Rechtskraft der früheren Urteile entgegen. Bei der Zeugenaussage des Cousins des Beigeladenen handele es sich nicht um ein geeignetes Beweismittel im Sinne der §§ 71 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG, 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG, das eine andere Betrachtungsweise als zuvor rechtfertige.
Der Kläger hat beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 6. Juni 2001 aufzuheben.
Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt und sich nicht zur Sache geäußert.
Der Beigeladene hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung hat er die Entscheidung des Bundesamtes vom 6. Juni 2001 verteidigt. Die Aussage seines Cousins Refik N. sei sehr wohl glaubhaft. Zu dem Zeitpunkt seiner, des Cousins, Anhörung vor dem Bundesamt habe dieser noch gar nicht gewusst, dass er, der Beigeladene, sich in Deutschland aufhalte. Sein weiterer Cousin Ferid J. habe lediglich aus Angst und Unkenntnis des deutschen Justizsystems zuvor eine völlig unzulängliche Aussage vor Gericht gemacht.
Mit Urteil vom 24. September 2001 - dem Beigeladenen zugestellt am 16. Oktober
2001 -, auf dessen Begründung wegen der Einzelheiten verwiesen wird, hat das Verwaltungsgerichts Osnabrück nach Vernehmung des Ferid J., des C. J. und des R. N. als Zeugen den Bescheid der Beklagten vom 6. Juni 2001 aufgehoben. Auch die Aussage des Zeugen Refik N. sei nicht geeignet, die Annahme einer Verfolgungsgefahr zu rechtfertigen. Der Zeuge habe sowohl bei dem Bundesamt als auch vor der Kammer in unsubstantiierter und pauschalierter Weise behauptet, seit 1993 in Istanbul gelebt zu haben. Sein Haus in Istanbul sei immer dann überfallen worden, wenn es zu besonderen Vorkommnissen gekommen sei. Jedes Mal hätten die Sicherheitskräfte auch nach dem Beigeladenen gefragt. Das sei auch während seiner Haftzeit im Dezember 1998 gewesen. Dem Beigeladenen sei Unterstützung und Unterschlupfgewährung der Terroristen vorgeworfen worden. Die vernehmenden Personen hätten angegeben, den Beigeladenen umbringen zu wollen. Zur Überzeugung des Einzelrichters stelle sich die Aussage des Zeugen Refik N. als reine Gefälligkeitsaussage dar. Gegen die inhaltliche Richtigkeit spreche zunächst, dass es sich bei dem Zeugen um einen Angehörigen des Beigeladenen handele. Darüber hinaus sei es ausgeschlossen, dass man den Zeugen, der seit 1993 in Istanbul gelebt habe, ständig nach dem Aufenthaltsort des Beigeladenen befragt haben solle, obwohl den Sicherheitsbehörden zumindest bis zum November 1996, dem Zeitpunkt der Ausreise des Beigeladenen aus der Türkei, der Aufenthaltsort des Beigeladenen bekannt gewesen sei. Darüber hinaus halte der Einzelrichter es angesichts des damaligen Alters des Beigeladenen für in hohem Maße unwahrscheinlich, dass die Sicherheitsbehörden gerade gegen den Beigeladenen gezielte Fahndungsmaßnahmen ergriffen haben sollten. Schließlich sei es auch unwahrscheinlich, dass die Sicherheitsbehörden dem Zeugen gegenüber geäußert haben sollen, den Beigeladenen im Falle seiner Ergreifung umbringen zu wollen.
Gegen dieses Urteil richtet sich die vom Senat gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG i. V. m. § 138 Nr. 3 VwGO zugelassene Berufung des Beigeladenen. Er macht zur Begründung im Wesentlichen geltend, dass er im Falle seiner Rückkehr in die Türkei sehr wohl gefährdet sei. Dies ergebe sich zum einen aus den diversen Zeugenaussagen seiner Cousins, aber zum anderen auch daraus, dass nahe Verwandte in Deutschland in verschiedenen Kurdenorganisationen führende Positionen auf Regional- und Bundesebene einnähmen.
Der Beigeladene beantragt,
das angefochtene Urteil zu ändern und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge zu verpflichten, ihm Abschiebungsschutz nach § 53 AuslG zu gewähren.
Der Kläger und die Beklagte stellen keinen Antrag und äußern sich nicht zur Sache.
Der Senat hat zu der Frage der Rückkehrgefährdung des Beigeladenen Beweis erhoben durch Vernehmung des Herrn Refik N.. Wegen des Ergebnisses wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.
Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten dieses Verfahrens sowie der Verfahren 5 A 721/97, 5 A 525/99, 5 A 655/99 und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten hinsichtlich des Beigeladenen Bezug genommen. Der Senat hat die die Asylverfahren des Bruders des Beigeladenen, Herrn A. N., seiner Cousins S. N., T. N. (geb. 3.4.1955), Refik N., C. J. und M. J., seines Großonkels H. J., seines Onkels T. N. (geb. 4.1.1933) und des weiteren Verwandten Ferid J. betreffenden Akten beigezogen. Die in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel ergeben sich aus den Anlagen zum gerichtlichen Schreiben vom 18. Juli 2002.
Entscheidungsgründe
Die Berufung des Beigeladenen hat aus dem im Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg. Der Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 6. Juni 2001 ist aufzuheben, soweit der Beigeladene als Asylberechtigter anerkannt worden ist (1.). Im Übrigen, d. h. hinsichtlich der Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG, ist die Klage des Bundesbeauftragten gegen den Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 6. Juni 2001 hingegen nicht begründet (2.).
1. Der Beigeladene hat keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter gemäß Art. 16 a Abs. 1 GG. Das Verwaltungsgericht hat auf die Klage des Klägers den Anerkennungsbescheid des Bundesamtes deshalb insoweit im Ergebnis zu Recht aufgehoben.
Nach Art. 16 a Abs. 1 GG genießen politisch Verfolgte Asylrecht. Hierauf kann sich gemäß Art. 16 a Abs. GG, § 26 a AsylVfG aber nicht berufen, wer aus einem sicheren Drittstaat und damit auf dem Landweg nach Deutschland einreist. Behauptet der Asylbewerber, auf dem Luftweg eingereist zu sein, alle schriftlichen Unterlagen aber weggegeben zu haben, so führen zwar weder die damit verbundene Selbstbezichtigung einer Verletzung der asylverfahrensrechtlichen Mitwirkungspflichten noch der fehlende urkundliche Nachweis der Luftwegeinreise zum Verlust des Asylrechtes; den Asylbewerber trifft insoweit keine Beweisführungspflicht. Das Gericht kann aber bei der Feststellung des Reiseweges die behauptete Weggabe wichtiger Beweismittel wie bei einer Beweisvereitelung zu Lasten des Asylbewerbers würdigen. Bleibt der Einreiseweg unaufklärbar, trägt der Asylbewerber die materielle Beweislast für seine Behauptung, ohne Berührung eines sicheren Drittstaates i. S. d. Art. 16 a Abs. 2 GG, § 26 a AsylVfG auf dem Luft- oder Seeweg nach Deutschland eingereist zu sein (BVerwG, Urt. v. 29.6.1999 - 9 C 36.98 -, NVwZ 2000, 81). Ein derartiger Fall liegt hier vor.
Der Beigeladene hat während seiner ersten Anhörung vor dem Bundesamt am 1. August 1997 auf Nachfrage zwar Angaben zu seiner Flugreise gemacht und will von einem - auch im Laufe des Verfahrens namentlich nicht genannten - Cousin am Flughafen in Düsseldorf abgeholt worden sein. Gegen den Beigeladenen spricht aber, dass er sich im Übrigen auf den pauschalen Vortrag beschränkt hat, der Schlepper habe ihm noch im Flughafengebäude, also gleichsam unter den Augen der deutschen Grenzbehörden, alle Dokumente, die eine Einreise auf dem Luftweg belegen könnten, abgenommen. Damit hat er ohne Not die Beweismittel, die die behauptete Einreise auf dem Luftweg belegen könnten, aus der Hang gegeben. Zudem hätte es dem Beigeladenen, wenn er denn tatsächlich bereits am 13. Dezember 1996 auf dem Flughafen in Düsseldorf angekommen sein sollte, jedenfalls oblegen, sich auch ohne Papiere unverzüglich bei der Grenzbehörde im Flughafen zu melden und dort um den begehrten asylrechtlichen Schutz nachzusuchen. Der Beigeladene hat demgegenüber erst am 23. April 1997 und damit über vier Monate nach der behaupteten Einreise einen Asylantrag gestellt. Diese Säumnis hat der Beigeladene nicht hinreichend entschuldigt. Nicht ausreichend ist der Umstand, dass für den im Zeitpunkt seiner Einreise erst 14 Jahre alten und damit nach § 12 Abs. 1 AsylVfG handlungsunfähigen Beigeladenen erst durch Beschluss des Amtsgerichtes Lingen (Ems) vom 17. April 1997 sein Bruder A. K. als Vormund bestellt worden ist. Im Fall einer Meldung unmittelbar bei der Grenzbehörde im Flughafen hätten die Bestellung eines Vormundes und die Asylantragstellung zeitnah vorgenommen werden können. Dass seine Verwandten und auch der Cousin, der ihn am Flughafen abgeholt haben soll, nach seiner Darstellung in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat "einfach strukturierte" Menschen seien, führt zu keiner anderen Beurteilung. Denn seine im Zeitpunkt seiner Einreise sich in Deutschland aufhaltenden Familienangehörigen und offenbar auch der - namentlich nicht genannte - Cousin sind alle als Asylberechtigte anerkannt oder genießen Abschiebungsschutz und sind deshalb mit den formellen Erfordernissen eines Asylverfahrens vertraut. Insbesondere wird ihnen bewusst gewesen sein, dass auch Minderjährige, die sich in Deutschland auf das Asylgrundrecht berufen wollen, einen Asylantrag stellen müssen. Ihnen hätte deshalb auch die Bedeutung einer möglichst zeitnahen Antragstellung bekannt sein müssen.
Da nach alledem die vom Beigeladenen behauptete Einreise auf dem Luftweg nicht mehr aufklärbar ist, trägt er die Beweislast mit der Folge, dass ein Asylanspruch nach Art. 16 a Abs. 2 GG, § 26 a Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG ausscheidet. Die Ausnahmetatbestände des § 26 a Abs. 1 Satz 3 AsylVfG sind nicht gegeben.
2. Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichtes hat der Beigeladene aber einen Anspruch auf die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG.
a) Die Voraussetzungen der §§ 71 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG, 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens sind gegeben.
Hier liegt der Wiederaufgreifensgrund der §§ 71 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG, 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG vor. Der Beigeladene hat mit seinem Cousin R. K. als Zeuge in seinem erneuten Asylfolgeantrag im Schriftsatz seiner Prozessbevollmächtigten vom 23. Februar 2001 ein neues Beweismittel vorgelegt, das eine ihm günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würde. "Neu" ist dieses Beweismittel, weil dieser Ende Oktober 2000 nach Deutschland eingereiste Cousin bis zum rechtskräftigen Abschluss des Klageverfahrens 5 A 655/99 im Januar/Februar 2000 noch gar nicht in Deutschland war und deshalb auch nicht als Zeuge zur Verfügung stand. Die Aussage dieses Zeugen ist auch geeignet, eine für den Beigeladenen günstigere Entscheidung herbeizuführen. Durch die schlüssig vorgetragene Beweistatsache, der Zeuge sei noch im Dezember 1998 während seiner Inhaftierung in Istanbul unter Folter nach dem Verbleib auch des Beigeladenen befragt worden, ist die Richtigkeit der tragenden Annahme des Urteils des VG Osnabrück vom 31. Januar 2000 - 5 A 655/99 -, der Beigeladene habe jedenfalls im Westen der Türkei eine inländische Fluchtalternative, in Frage gestellt (vgl. hierzu Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Stand: Februar 2002, § 71 Rdnr. 106.1).
Die Drei-Monats-Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG ist gewahrt, da der Beigeladene glaubhaft vorgetragen hat, erst am 23. Januar 2001 erfahren zu haben, dass sich der Zeuge R. K. in Deutschland aufhalte und dass dieser während seiner Inhaftierung in Istanbul im Dezember 1998 von den türkischen Sicherheitskräften nach ihm befragt worden sei. Der Asylfolgeantrag datiert vom 23. Februar 2001 und ist am 26. Februar 2001 und damit innerhalb der Drei-Monats-Frist beim Bundesamt eingegangen.
Auch wenn der Beigeladene jedenfalls ausdrücklich Wiederaufgreifensgründe, die ein Abweichen von der durch das rechtskräftige Urteil des Verwaltungsgericht vom 31. Januar 2000 - 5 A 655/99 - verneinten sippenhaftähnlichen Gefährdungslage wegen der exponierten Stellung einiger Verwandter innerhalb der PKK-Struktur rechtfertigten, nicht vorgetragen hat, ist auch der Gesichtspunkt der Sippenhaft im vorliegenden Verfahren Prüfungsgegenstand. Gegenstand der behördlichen und gerichtlichen Prüfung sind zwar grundsätzlich nur solche Wiederaufgreifensgründe, die vom Antragsteller auch vorgetragen werden. Hierbei darf es aber zu keinem willkürlichen Zerreißen eines in Wahrheit einheitlichen Verfolgungsschicksales kommen (Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG, a. a. O., § 71 Rdnr. 79 f.). Wie sich aus den weiteren Ausführungen ergibt, liegt hier ein solches einheitliches Verfolgungsschicksal vor, da sich die landesweite Gefährdungslage des Beigeladenen auch und gerade aus seiner Zugehörigkeit zu den Familien Sever und K. ableitet. Bei der Prüfung, ob eine landesweite Gefährdungslage vorliegt, sind daher die Gesichtspunkte einer sippenhaftähnlichen Gefährdungslage wegen der exponierten Stellung von Familienangehörigen hier ebenfalls mit in den Blick zu nehmen.
Im Ergebnis liegen mithin die Voraussetzungen der "ersten Stufe" der §§ 71 Abs. 1 Satz 1 AuslG, 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG für ein Wiederaufgreifen des Asylverfahrens vor.
b) Dem Beigeladenen ist Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG zu gewähren.
Nach dieser Vorschrift darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift und des Art. 16 a Abs. 1 GG sind deckungsgleich, soweit es die Verfolgungshandlung, das geschützte Rechtsgut und den politischen Charakter der Verfolgung betrifft. Sie führen auch hinsichtlich der Frage, ob die Gefahr politischer Verfolgung droht, zu keinen unterschiedlichen Ergebnissen. Deshalb geht der Senat auch im Rahmen der Prüfung des § 51 Abs. 1 AuslG von den Grundsätzen aus, die für die Auslegung des Art. 16 a Abs. 1 GG gelten (Urt. v. 18.1.2000 - 11 L 3404/99 -).
Hieran gemessen hat der Beigeladene im Ergebnis bei einer Rückkehr in die Türkei mit abschiebungsschutzrelevanten Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen.
(1) Unabhängig davon, dass der Beigeladene in seinem zweiten Asylfolgeantrag Gründe, die hinsichtlich der allgemeinen Lage in der Türkei eine andere Einschätzung als bisher rechtfertigen, nicht dargelegt hat, und der Senat daher insoweit gehindert ist, in eine sachliche Prüfung einzusteigen (vgl. hierzu Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, a. a.O., § 78 Rdnr. 79 m. w. N.) gilt allerdings insoweit Folgendes: Ob dort lebende kurdische Volkszugehörige einer regionalen Gruppenverfolgung oder einer Einzelverfolgung wegen ihrer Gruppenzugehörigkeit ausgesetzt sind, lässt der Senat in ständiger Rechtsprechung letztlich ebenso dahinstehen wie die Frage, ob es sich möglicherweise um eine "örtlich begrenzte" Gruppenverfolgung im Sinne der neueren Rechtsprechung des BVerwG (Urt. v. 9.9.1997 - 9 C 43.96 -, DVBl. 1998, 274) handelt. Denn ihnen steht auch unter Berücksichtigung der Entwicklung der Verhältnisse in der Türkei nach der Festnahme und späteren Verurteilung des PKK-Vorsitzenden Öcalan und unter Auswertung der "problematischen" Rückkehrerfälle und aktueller Erkenntnismittel nach der Rechtsprechung des Senats (vgl. zuletzt Urteil v. 16.4.2002 - 11 LB 34/02 -) in Übereinstimmung mit den neueren Entscheidungen anderer Obergerichte (vgl. etwa OVG Rh.-Pf., Urt. v. 17.9.1999 - 10 A 12219/98.OVG -; Urt. v. 18.2.2000 - 10 A 11821/98.OVG -; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 7.10.1999 - A 12 S 1021/97 -; Urt. v. 24.2.2000 - A 12 S 1825/97 -; Urt. v. 7.5.2002 - A 12 S 196/00 -; OVG Hamburg, Beschl. v. 3. 12. 1999 - 5 Bf 5/95.A -; Hess. VGH, Urt. v. 13.12.1999 -12 UE 2984/97.A -; Urt. v. 27.3.2000 - 12 UE 583/99.A -; Beschl. v. 14.12.2001 - 6 UE 3681/98.A -; OVG NW, Urt. v. 27.6.2002 - 8 A 4782/99. A -; Urt. v. 25.1.2000 - 8 A 1292/96.A -) in der Regel in den westlichen Landesteilen, insbesondere in den dortigen Großstädten, weiterhin eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung, die sie grundsätzlich auch ohne die Gefahr asylrelevanter Übergriffe erreichen können.
(2) Der Beigeladene kann sich aber mit Erfolg auf eine individuelle landesweite Rückkehrgefährdung berufen. Der Senat hält es nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens für beachtlich wahrscheinlich, dass der Beigeladene bei Rückkehr in die Türkei einer sippenhaftähnlichen Gefährdungslage ausgesetzt ist.
Das Institut der Sippenhaft ist dem türkischen Strafrecht zwar fremd. Kein türkischer Staatsangehöriger kann deshalb wegen der Tat eines Familienangehörigen strafrechtlich verfolgt werden. Gleichwohl kommt es nach den vorliegenden Erkenntnismitteln in der Praxis relativ häufig zu Übergriffen auf nahe Verwandte von politischen Straftätern bzw. flüchtigen Verdächtigen, insbesondere von Mitgliedern illegaler kurdischer Organisationen. Dies ist angesichts des bisherigen rigorosen Vorgehens der türkischen Sicherheitskräfte gegen separatistische Bestrebungen und der weiterhin landesweit verbreiteten Anwendung von Folter im Polizeigewahrsam auch durchaus glaubhaft. Es lässt sich jedoch nicht feststellen, dass in der Türkei landesweit generell und regelmäßig sippenhaftähnliche Maßnahmen praktiziert werden. Vielmehr geht der Senat nach Auswertung des vorliegenden Erkenntnismaterials in weitgehender Übereinstimmung mit der Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte (vgl. z. B. OVG NW, Urt. v. 27.6.2002 - 8 A 4782/99.A -, Urt. v. 25.1.2000 - 8 A 1292/96.A -, Urt. v. 28.10.1998 - 25 A 1284/96.A -; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 5.4.2001 - A 12 S 198/00 -, Urt. v. 2.7.1998 - A 12 S 1006/97 -; Sächs. OVG, Urt. v. 27.2.1997 - A 4 293/96 -; OVG Bremen, Urt. v. 13.6.2001 - 2 A 17/95.A -) in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass von derartigen Übergriffen grundsätzlich nur nahe Verwandte von Personen betroffen sind, die dem führenden Kreis der PKK angehören bzw. angehört haben oder aufgrund eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens per Haftbefehl gesucht werden, weil sie im Verdacht stehen, die politischen Ziele von militanten staatsfeindlichen Organisationen, insbesondere der PKK, aktiv zu unterstützen. Eine derartige Gefährdung ist allerdings nicht ohne Weiteres anzunehmen, sondern hängt von den jeweiligen Umständen des Einzelfalles ab (vgl. etwa Urt. v. 16.4.2002 - 11 LB 33/02 -, Urt. v. 19.7.1999 - 11 L 5513/97 - und Urt. v. 27.2.1997 - 11 L 196/92 -).
Auch die neueren Erkenntnismittel stützen diese Einschätzung. Nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes (vgl. Lagebericht Türkei v. 20.3.2002 und Auskunft an das VG Bremen v. 18.2.2002) wird weiterhin kein türkischer Staatsangehöriger wegen der Tat eines Familienangehörigen strafrechtlich verfolgt. Allerdings können Familienangehörige zu Vernehmungen geladen und zu Verdächtigen befragt werden. Es ist hiernach auch nicht ausgeschlossen, dass es hierbei in Einzelfällen zu Übergriffen kommt. Nach der Einschätzung von Kaya (vgl. Auskunft v. 25.7.2001 an das VG Köln) kommt eine sippenhaftähnliche Gefährdungslage dann in Betracht, wenn gegen einen Familienangehörigen wegen einer im Zusammenhang mit einer illegalen Organisation stehenden Straftat ein Verfahren eingeleitet worden ist.
Nach diesen Kriterien besteht für den Beigeladenen die Gefahr einer sippenhaftähnlichen Inanspruchnahme. Er stammt aus einer politisch aktiven kurdischen Großfamilie, die nach seinen glaubhaften Angaben seitens des türkischen Staates in der Vergangenheit mit erheblichen Verfolgungsmaßnahmen überzogen worden ist. Er selbst ist als Jugendlicher zweimal festgehalten und gefoltert worden. Sein Cousin Adnan verbüßt seit ungefähr 1993/94 eine Haftstrafe wegen PKK-Tätigkeiten, ein weiterer Cousin ist 1993 von den Sicherheitskräften umgebracht worden. Deshalb sind - soweit ersichtlich - inzwischen alle in Deutschland befindlichen Verwandte des Beigeladenen aus dieser Großfamilie als Asylberechtigte anerkannt oder genießen Abschiebungsschutz. Auch wenn dieser Umstand allein für sich betrachtet noch nicht ausreicht, um unter dem Gesichtspunkt der sippenhaftähnlichen Gefährdungslage eine Gefährdung auch gerade des Beigeladenen anzunehmen, kommen hier weitere Umstände mit erheblichem Gewicht hinzu, die ein erhöhtes Interesse der türkischen Sicherheitskräfte am Beigeladenen belegen.
Zum einen haben bzw. hatten Verwandte von ihm innerhalb der PKK/ERNK in Westeuropa herausgehobene Funktionen inne: Sein Großonkel P. ist Mitglied des Exilparlamentes der Kurden in Europa und war nach seiner glaubhaften Einlassung unmittelbarer Vertrauter und Sprecher des bisherigen Vorsitzenden Abdullah Öcalan der bisherigen PKK (die sich seit April diesen Jahres in Kadek - Freiheit und Demokratie Kongress Kurdistan - umbenannt hat). Seine weiteren Verwandten Metin J. und Menderes J., die ebenso wie Harun J. in Deutschland als Asylberechtigte anerkannt sind, sind Vorsitzende von Regionalverbänden der bisherigen PKK in Nordrhein-Westfalen und waren ebenfalls Vertraute von Öcalan. Wenn auch in der Regel zu den nahen Angehörigen, die von sippenhaftähnlichen Maßnahmen in der Türkei betroffen sein können, nur Ehegatten, Eltern und Kinder ab 14 Jahren sowie Geschwister des politisch Verfolgten gehören (vgl. etwa Senat, Urt. v. 19.7.1999 - 11 L 5513/97 -), kommt hier ein weiterer Umstand hinzu, der es rechtfertigt, auch den Beigeladenen in den Kreis der von Sippenhaft gefährdeten Personen einzubeziehen.
Es steht nämlich nach dem Vortrag des Beigeladenen und dem Ergebnis der Beweisaufnahme fest, dass dieser nicht nur in seiner Heimatregion im Südosten, sondern auch in Istanbul und damit im Westen der Türkei individualisierbar verstärkt ins Blickfeld der türkischen Sicherheitskräfte geraten ist.
Sein Cousin Refik N. hat sowohl bei seinen eigenen Anhörungen vor dem Bundesamt am 8. November 2000 und 15. Januar 2001 als auch in seiner Zeugenvernehmung während der Anhörung des Beigeladenen durch das Bundesamt am 10. Mai 2001und auch in seiner Zeugenvernehmung durch das Verwaltungsgericht am 24. September 2001 im Kern stets bekundet, dass er während der Zeit seines Aufenthaltes in Istanbul von den Sicherheitskräften immer wieder unter Folter auch nach dem Beigeladenen befragt worden sei. Die Sicherheitskräfte hätten den Beigeladenen als PKK'ler bezeichnet. Auch bei seiner Zeugenvernehmung durch den Senat hat er im Wesentlichen gleichlautende Angaben gemacht. Die Sicherheitskräften hätten ihm eine Liste gezeigt, auf der sich neben anderen Mitglieder der Familie N. auch der Name des Beigeladenen befunden habe. Sie hätten von ihm wissen wollen, wo sich dieser aufhalte. Sie hätten behauptet, dass er als Kurier für die PKK tätig gewesen sei. Die Sicherheitskräfte hätten alle Mitglieder der Familie N. als Helfershelfer der PKK angesehen.
Der Senat hält den Zeugen für glaubwürdig. Während er bei seinen eigenen Anhörungen am 8. November 2000 und 15. Januar 2001 diesen Umstand nur am Rande erwähnte, ist er bei den zwei anderen, zeitlich späteren Befragungen als Zeuge und auch in seiner Vernehmung vor dem Senat hierauf näher eingegangen. Hierin kann aber nicht ein gesteigertes Vorbringen gesehen werden, nur um dem Beigeladenen zu einem Bleiberecht zu verhelfen. Die Anhörungen des Herrn Refik N. in eigener Sache betrafen vorrangig sein eigenes Schicksal, andere Personen spielten nur am Rande eine Rolle. Dies war bei den Befragungen als Zeuge anders, da es hierbei um die Frage ging, ob gerade der Beigeladene einer landesweiten Verfolgungsgefahr ausgesetzt ist. In diesem Zusammenhang hat der Zeuge erstmals auch einzelne den Beigeladenen betreffende Details genannt. Für die Glaubwürdigkeit dieser Darstellung spricht auch gerade, dass Herr Refik N. nicht nur als Zeuge von den Nachfragen der Sicherheitskräfte nach dem Beigeladenen berichtet hat, sondern dies bereits in seiner eigenen Anhörung und damit zu einem Zeitpunkt, als er nach seinem glaubhaften Vorbringen noch nichts davon wusste, dass der Beigeladene sich in Deutschland aufhält, getan hat. Dass die Sicherheitskräfte in Istanbul nicht nur 1998, sondern bereits seit 1993 u. a. nach dem Aufenthaltsort des Beigeladenen gefragt haben, erweckt entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichtes keine Zweifel an dem Wahrheitsgehalt seiner Aussage. Dass es sich bei Herrn Refik N. um einen Verwandten handelt, gibt ebenfalls keinen Anlass für derartige Bedenken. Anzeichen für eine "Gefälligkeitsaussage" bestehen nach dem Eindruck, den der Senat von dem Zeugen in der mündlichen Verhandlung gewonnen hat, unter keinem Gesichtspunkt.
Die vom Zeugen dargelegte Vorgehensweise der türkischen Sicherheitskräfte stimmt im Übrigen auch mit den dem Senat vorliegenden Erkenntnismitteln überein. Nach Auskunft von amnesty international an das VG Augsburg vom 23. November 2000 führen die Sicherheitskräfte über auffällig gewordene Personen vertrauliche Datenblätter, sog. "Fis" oder "Fisleme". Es sei weiter davon auszugehen, dass Festnahmen mitunter in diesen "Fis" aufgenommen würden. Wenn das Vorliegen eines solchen "Fis" bei der Einreise bekannt werde, sei davon auszugehen, dass eine Überstellung in Polizeigewahrsam zu weiteren Verhören erfolge. Die Erkenntnisse des Bundesamtes decken sich im Wesentlichen mit dieser Auskunft (vgl. Einzelentscheider-Brief 10/1998, S. 3 m. w. N.). Im Fall des Beigeladenen liegt es nahe anzunehmen, dass es sich bei der Liste, die dem Zeugen gezeigt worden war, um ein "Fis" über den Beigeladenen und andere Familienmitglieder handelte.
Schließlich droht dem Beigeladene noch aus einem anderen Grund im Fall einer Rückkehr in die Türkei eine besondere Überprüfung seiner Person. Der Beigeladene ist inzwischen 20 Jahre alt und damit in der Türkei wehrpflichtig. Dieser Personenkreis wird bei einer Einreise in die Türkei einer verstärkten Kontrolle unterzogen, bei der auch überprüft wird, ob gegen den Betroffenen etwas vorliegt. Im Rahmen dieser Überprüfung ist davon auszugehen, dass die gegen den Beigeladenen im Zusammenhang mit seinem familiären Hintergrund und die gegen ihn persönlich bestehenden Verdachtsmomente offenbar werden.
In einer Gesamtschau der genannten Umstände besteht mithin die ernsthafte Gefahr, dass dem Beigeladenen bei einer Einreise in die Türkei im Rahmen eines Verhörs Folter oder andere menschenrechtswidrige Maßnahmen zugefügt werden, um an Informationen zum einen über seine Verwandten und deren politisches Umfeld, zum anderen aber auch über seine eigenen Aktivitäten zu gelangen.