Verwaltungsgericht Braunschweig
Urt. v. 16.03.2005, Az.: 2 A 388/04
Bibliographie
- Gericht
- VG Braunschweig
- Datum
- 16.03.2005
- Aktenzeichen
- 2 A 388/04
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2005, 42809
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGBRAUN:2005:0316.2A388.04.0A
Fundstellen
- DWW 2005, 383-386
- ÖffBauR 2005, 95
In der Verwaltungsrechtssache
wegen Anfechtung einer Baugenehmigung
hat das Verwaltungsgericht Braunschweig - 2. Kammer - auf die mündliche Verhandlung vom 16. März 2005 durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgericht Hirschmann, den Richter am Verwaltungsgericht Meyer, den Richter am Verwaltungsgericht Dr. Struß sowie die ehrenamtlichen Richter E. für Recht erkannt:
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Verfahrenskosten einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen, die für erstattungsfähig erklärt werden.
Hinsichtlich der Kostenentscheidung ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.
Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung gegenüber dem Beklagten und dem Beigeladenen in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte und der Beigeladene jeweils zuvor Sicherheit in jeweils derselben Höhe leisten.
Tatbestand
Die Klägerin wendet sich gegen die Nutzung eines Gebäudekomplexes auf einem Nachbargrundstück als Pflegeheim für geistig Behinderte.
Die Klägerin ist Eigentümerin des mit einem Wohnhaus bebauten Grundstücks F. (Flurstück G., Flur H. Gemarkung I.). An dieses Grundstück grenzt J. das Grundstück des Beigeladenen K. (bestehend aus den fünf Flurstücken L. der Flur H. Gemarkung I.), welches 11.937 m2 groß ist (s. Bl. 379, BA B). Die Nutzfläche der Gebäude beträgt 1.320 m2.
Das klägerische Grundstück liegt im Geltungsbereich des Bebauungsplanes M. vom 06.03.1964. Dieser setzte ursprünglich ein Reines Wohngebiet fest. Mit Nachtragssatzung vom 13.10.1967 änderte die Gemeinde I. die Art der baulichen Nutzung in Allgemeines Wohngebiet. Das Grundstück des Beigeladenen liegt im Geltungsbereich des von der Gemeinde I. am 25.03.1966 beschlossenen Bebauungsplanes N.. Dieser setzte für das Baugrundstück ebenfalls zunächst ein Reines Wohngebiet (für den Bereich des 1. Bauabschnitts, s.u.) und teilweise eine Grünfläche fest. Die Bekanntmachung dieser Pläne als Satzung ist nicht dokumentiert. Im Jahre 1971 wurde eine vereinfachte Änderung des Bebauungsplans beschlossen, wonach für den Bereich des ersten Bauabschnitts, Teile des zweiten Bauabschnitts sowie den dritten Bauabschnitt ein Allgemeines Wohngebiet festgesetzt wurde.
Den planerischen Vorgaben entsprechend wurden die Gebäude auf dem Grundstück des Beigeladenen in drei Bauabschnitten errichtet. Nachdem 1967 zunächst ein Wohnhaus genehmigt worden war, erteilte der Beklagte unter dem 15.04.1969 eine Baugenehmigung für die Umnutzung des Gebäudes in ein Alten- und Pflegeheim. In dem Gebäude befanden sich zu jener Zeit eine Wohnung sowie 16 Betten für ein Altenwohnheim und fünf "Bettpflegezimmer". Mit einer weiteren Baugenehmigung vom 21.04.1975 wurde die Errichtung eines zweiten Bauabschnitts, u. a. mit zehn Wohnräumen sowie sechs Zimmern einer Pflegestation gestattet. Schließlich erteilte der Beklagte unter dem 13.05.1983 eine Baugenehmigung für die Errichtung einer Aufnahmestation mit zwei Krankenzimmern sowie zwei Zweibettpflegezimmern (3. Bauabschnitt). Mindestens seit 1985 wird das Heim - zunächst mit einem anderen Betreiber - als Pflegeheim für geistig Behinderte genutzt.
Der im Jahre 2004 verstorbene Ehemann der Klägerin, O., beschwerte sich erstmals im Jahre 1988 gegenüber der Samtgemeinde P. darüber, dass die Behinderten zu unterschiedlichen Tages- und Nachtzeiten undefinierbare, unkontrollierte und laute Schreie ausstießen, die ihn und seine Frau erschreckten, bedrückten und psychisch erheblich belasteten. Durch Lautäußerungen der geistig behinderten Menschen fühlten sich der Kläger sowie die anderen Anwohner nicht nur psychisch beeinträchtigt, sondern - insbesondere im Sommer - auch erheblich in ihrer Grundstücksnutzung beeinträchtigt. Mit Schreiben vom 14.05.1996 beantragte der Ehemann der Klägerin bei dem Beklagten, die Nutzung des Grundstücks des Beigeladenen für ein psychiatrisches Pflegeheim zu untersagen.
Mit Bescheid vom 23.12.1996 lehnte der Beklagte ein Einschreiten mit der Begründung ab, das Vorhaben sei nach § 4 Abs. 2 Nr. 3 BauNVO 1968 als Anlage für soziale Zwecke zulässig. Gründe, die ein Einschreiten nach § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO rechtfertigten, seien nicht gegeben. Auf die daraufhin erhobene Untätigkeitsklage des Ehemanns hob die erkennende Kammer mit Urteil vom 11.03.1999 den Bescheid vom 23.12.1996 auf (Az.: 2 A 2538/96). Ferner verpflichtete die Kammer den Beklagten, den in der mündlichen Verhandlung formulierten Antrag des Klägers auf Einschreiten gegen die Nutzung der Gebäude auf dem Grundstück Q. als psychiatrisches Pflegeheim unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden. In den Entscheidungsgründen stellte die Kammer fest, dass die Nutzung als psychiatrisches Pflegeheim formell illegal sei. Der Beklagte habe das ihm in § 89 Abs. 1 Satz 1 NBauO eingeräumte pflichtgemäße Ermessen im Wesentlichen in zwei Richtungen auszuüben: Zum einen bestehe für ihn die Verpflichtung, ein - möglichst ergebnisoffenes - Baugenehmigungsverfahren hinsichtlich der aktuellen Nutzung des Gebäudekomplexes durchzuführen. Zum anderen habe der Beklagte durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen, dass der Ehemann der Klägerin während der Dauer des Genehmigungsverfahrens nicht mehr als objektiv unvermeidbar in seinen nachbarlichen Rechten beeinträchtigt werde. Die Kammer sprach als mögliche Maßnahmen an, den nördlichen, an das Grundstück der Klägerin angrenzenden Grundstücksteil für Patienten zu sperren, die Belegung einzelner Gebäudeteile anders zu organisieren und/oder Schallschutzmaßnahmen vorzusehen.
Auf Antrag des Beklagten und des Beigeladenen ließ das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht mit Beschluss vom 09.05.2000 die Berufung gegen das Urteil vom 11.03.1999 in dem Verfahren 2 A 2538/96 zu. Am 06.12.2000 fand eine öffentliche Sitzung des ersten Senats des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts mit einer Inaugenscheinnahme der Örtlichkeiten statt. Nach dem Sitzungsprotokoll schlug der Senat den Beteiligten vor, durch ein Lärmgutachten prüfen zu lassen, welche Maßnahmen zur Reduzierung der Lärmeinwirkungen auf das Grundstück des Klägers möglich seien. Messungen könnten die Beschwerden des Ehemanns der Klägerin objektivieren. Danach solle eine Verständigung zwischen den Beteiligten erfolgen. Der Beklagte und der Beigeladene nahmen die Berufung zurück.
Ein Lärmgutachten wurde von dem TÜV Nord, Hannover, mit Datum vom 08.06.2001 vorgelegt. Auf den Inhalt wird verwiesen. Zu einer Einigung kam es nicht. Der Ehemann der Klägerin betrieb die Vollstreckung des erstinstanzlichen Urteils der Kammer vom 11.03.1999. Der Beklagte erlies die bauaufsichtliche Anordnung vom 08.08.2002 (s. das Parallelverfahren 2 A 158/04).
Im Jahre 2002 stellte der Beigeladene einen Bauantrag für Umbaumaßnahmen wegen notwendiger Brandschutzmaßnahmen. Am 12.01.2004 beantragte er die Nutzungsänderung eines Wohngebäudes einschließlich Brandschutzmaßnahmen und die Errichtung eines Heimes nach § 1 Heimgesetz. Nach der Baubeschreibung und den Bauzeichnungen werden 56 erwachsene Menschen zwischen 30 und 65 Jahren von tagsüber 15 Mitarbeitern pro Schicht betreut. Die Bewohner sind geistig und mehrfach behindert. Sie leben in fünf Wohngruppen, die über jeweils einen eigenen Eingang, eine Terrasse bzw. (noch) einen Balkon, Sanitäranlagen, Küche, Aufenthaltsraum etc. verfügen. Es handelt sich um eine vollstationäre Einrichtung. Drei Gruppen befinden sich mit Beschluss des Vormundschaftsgerichts in einem "geschlossenen Zustand", weil dort schwerpunktmäßig desorientierte Menschen leben. Zu den weiteren Einzelheiten, auch zum Tagesablauf, wird auf die Betriebsbeschreibung verwiesen.
Unter dem 12.03.2004 erteilte der Beklagte eine Baugenehmigung für die Baumaßnahme "Nutzungsänderung eines Wohngebäudes zum Pflegeheim und Umnutzung eines Heimes zum Heim nach § 1 Heimgesetz einschließlich Brandschutzmaßnahmen". Die Baugenehmigung enthält die Auflage, dass die Bewohner aus dem Dachgeschoss "wegen des Gebots der Rücksichtnahme" in das Erdgeschoss des Hauptgebäudes umziehen. Außerdem darf eine nördlich des Gebäudekomplexes gelegene Fläche nur als "Durchgangsfläche" genutzt werden. Der Aufenthalt auf dieser Fläche ist nach der Auflage nicht zulässig. Während der Benutzungszeiten der Zimmer 141, 142, 143, 146 und 147 (Küchen, Bäder und WC-Räume) sind die Fenster und Außentüren dieser Räume geschlossen zu halten. Zusätzlich zu den in einer ergänzenden Baubeschreibung vom 11.03.2004 beantragten schallabsorbierenden Maßnahmen (Kunstrasen und Begrünung) müssen für die im Süden des Gebäudekomplexes gelegene Terrasse ebenfalls adäquate schallabsorbierende Maßnahmen für die Fenster der östlichen Außenwand des Raumes 173 getroffen werden.
Am 20.09.2004 hat die Klägerin im vorliegenden Verfahren Klage erhoben. Zur Begründung trägt sie vor, auch im Sommer 2004 sei sie wieder zu unterschiedlichen Tages- und Nachtzeiten durch Schreie der Behinderten erheblich belästigt und belastet worden. Insbesondere in der warmen Jahreszeit seien diese Schreie besonders deutlich wahrnehmbar gewesen, da eine Betreuerin der Behinderten sämtliche Fenster des Gebäudes weit geöffnet gehalten habe. Der Bebauungsplan R. vom 25.03.1966, der ein Reines Wohngebiet festsetze, sei bei der Überprüfung der Baugenehmigung zugrunde zu legen. Die Auflagen seien nicht hinreichend bestimmt und auch nicht geeignet, den Nachbarschutz zu wahren. So sei die Abgrenzung zwischen Durchgang und Aufenthalt bzgl. der nördlichen Fläche zur Konfliktbewältigung ungeeignet. Das Risiko der Nichteinhaltung dieser Auflage werde in unzumutbarer Weise auf die Nachbarn abgewälzt. Das gelte auch für die Auflage, während der Benutzung einzelner Zimmer die Fenster und Außentüren geschlossen zu halten.
Die Klägerin beantragt,
die dem Beigeladenen unter dem 12.03.2004 erteilte Baugenehmigung für das Baugrundstück S., aufzuheben.
Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Er ist der Auffassung, mit den Auflagen in der Baugenehmigung werde dem Nachbarschutz hinreichend Rechnung getragen. Nach T. zum Grundstück der Klägerin werde sich der Schall nicht mehr in störender Weise ausbreiten. Ein Behindertenheim sei in einem faktischen Reinen oder Allgemeinen Wohngebiet im Übrigen hinzunehmen.
Der Beigeladene beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er tritt dem Vorbringen der Klägerin im Wesentlichen mit denselben Argumenten wie der Beklagte entgegen.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten (auch in den abgeschlossenen Verfahren und dem Parallelverfahren 2 A 158/04) und die Verwaltungsvorgänge des Beklagten verwiesen. Diese Unterlagen haben dem Gericht bei der Entscheidung vorgelegen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist als Untätigkeitsklage i.S.d. § 75 VwGO zulässig.
Sie ist jedoch unbegründet.
Die Baugenehmigung vom 12.03.2004 verstößt nicht gegen nachbarschützende Vorschriften des öffentlichen Baurechts. Sie verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Die Klägerin kann sich gegen die Nutzungsänderung nicht mit einem Anspruch auf Bewahrung der Gebietsart nach §§ 30 Abs. 1, 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. den Vorschriften der Baunutzungsverordnung (BauNVO) wehren. Ein solcher Abwehranspruch wird grundsätzlich bereits durch die Zulassung eines mit einer - faktischen - Gebietsausweisung unvereinbaren Vorhabens ausgelöst, weil hierdurch das nachbarliche Austauschverhältnis gestört und eine Verfremdung des Gebiets eingeleitet wird. Der Gebietsgewährleistungsanspruch besteht sowohl in durch Bebauungspläne festgesetzten Baugebieten als auch in faktischen Baugebieten nach § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. der BauNVO (BVerwG, Urt. v. 16.09.1993 - 4 C 28.91 -, BRS 55 Nr. 110). Der Anspruch geht über das baurechtliche Rücksichtnahmegebot hinaus (BVerwG a.a.O.).
Die Nutzung des Grundstücks des Beigeladenen für ein psychiatrisches Pflegeheim ist mit dem Gebietscharakter, in dem sich die Grundstücke der Klägerin und des Beigeladenen befinden, vereinbar.
Der das Grundstück der Klägerin erfassende Bebauungsplan der Gemeinde U. "BaugebietV. vom 06.03.1964 ist unwirksam, da dessen Bekanntmachung gem. § 12 BBauG i.d.F. vom 23.06.1960 nicht nachgewiesen ist. Die Verwaltungsvorgänge enthalten dazu keinen Hinweis. Auch für die Änderung vom 13.10.1967 ("Nachtragssatzung" mit Festsetzung Allgemeines Wohngebiet) ist die Bekanntmachung nicht nachgewiesen. Dasselbe gilt für den Bebauungsplan der GemeindeW. X. vom 25.03.1966, der das Grundstück des Beigeladenen erfasst, und dessen 1. Änderung vom 09.11.1971.
Damit ist der Gebietscharakter nach § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. der Baunutzungsverordnung zu bestimmen. Danach dürfte die nähere Umgebung des Baugrundstücks der Beigeladenen wegen der ausschließlichen Wohnnutzung der Grundstücke zwischen den Straßen Y., Z. und AA. einem Reinen Wohngebiet, zumindest jedoch einem Allgemeinen Wohngebiet entsprechen. Die Nutzung des Grundstücks der Beigeladenen als psychiatrisches Pflegeheim ist dabei zu berücksichtigen, da der Beklagte diese Nutzung geduldet hat (vgl. Schrödter, BauGB, Komm., 6. Aufl., § 34, Rn. 24). Letztlich kann die genaue Einordnung offen bleiben, da sie keinen Einfluss auf das Ergebnis hat.
Das von der Beigeladenen betriebene Pflegeheim für geistig Behinderte ist nämlich sowohl in einem Reinen als auch in einem Allgemeinen Wohngebiet planungsrechtlich zulässig. Auf die streitgegenständliche Baugenehmigung vom 12.03.2004 ist die BauNVO 1990 (vom 27.01.1990, BGBl. I S. 132) anzuwenden. Nach § 3 Abs. 4 BauNVO gehören zu den nach § 3 Abs. 2 sowie den nach §§ 2, 4 bis 7 BauNVO zulässigen Wohngebäuden auch solche, die ganz oder teilweise der Betreuung und Pflege ihrer Bewohner dienen. § 3 Abs. 4 BauNVO wurde durch die BauNVO 1990 eingeführt, damit Pflegeheime in Reinen Wohngebieten zugelassen werden können. § 3 BauNVO enthielt in seiner ursprünglichen Fassung anders als § 4 BauNVO nicht die Möglichkeit einer ausnahmsweisen Zulassung von Anlagen für soziale Zwecke, unter die Pflegeheime gefasst wurden. Unter den Voraussetzungen des § 3 Abs. 4 BauNVO sind Pflegeheime nunmehr sowohl in Reinen als auch in Allgemeinen Wohngebieten zulässig (vgl. Jäde/Dirnberger/Weiss, BauGB/BauNVO, Komm., 4. Aufl., § 3 BauNVO Rn. 11 ff. sowie NdsOVG, Beschl. v. 27.07.1994 - 1 M 2021/94 -, BRS 56 Nr. 186). Als Wohngebäude sind deshalb auch die Einrichtungen zu verstehen, deren Bewohnern eine selbständige Haushaltsführung und Lebensgestaltung nicht möglich ist. Die Betreuung und die Pflege stehen dem Begriff des Wohnens nicht entgegen (vgl. zum Wohnen OVG NW, Urt. v. 09.01.1997 - 7 A 2175/95 -, Juris; BVerwG, Beschl. v. 25.03.1996 - 4 B 302.95 -, DÖV 1996, 746). Die Gleichstellung von Pflegeheimen mit Wohngebäuden in § 3 Abs. 4 BauNVO erfolgte vor dem Hintergrund, dass derartige Einrichtungen in aller Regel für die Umgebung keine stärkeren Belastungen mit sich bringen als eine sonstige reine Wohnnutzung (Jäde/Dirnberger/Weiss, a.a.O., Rn. 12). Daher gehören Einrichtungen mit einer krankenhausähnlichen Versorgung nicht mehr zu den privilegierten Vorhaben. Ein Wohnheim für psychisch Kranke ist jedoch unter § 3 Abs. 4 BauNVO zu subsumieren, wenn es sich um ein Modell des Betreuten Wohnens handelt (OVG NW, Urt. v. 09.01.1997, a.a.O.). Dasselbe gilt für ein Wohnheim für verwirrte alte Menschen ohne medizinische Leitung, in dem die Bewohner mit eigenen Möbeln wohnen und von ihren Hausärzten betreut werden (NdsOVG, Urt. v. 21.08.2002 - 1 LB 140/02 -, Juris, vgl. auch Hamb. OVG, Beschl. v. 27.04.2004 - 2 Bs 108/04, BauR 2004, 1571, [OVG Hamburg 27.04.2004 - 2 Bs 108/04] Juris, für Altenheim mit vollstationärer Demenzabteilung). Ausreichend ist ein Mindestmaß an selbstbestimmtem Wohnen (König/Roeser/Stock, BauNVO, Komm., 2. Aufl., § 3 Nr. 30).
Danach handelt es sich bei dem Pflegeheim des Beigeladenen um ein Wohngebäude i.S.d. § 3 Abs. 4 BauNVO. Nach dem Nutzungskonzept des Pflegeheims, das im Wesentlichen der Baubeschreibung und ergänzend den Erläuterungen der Beigeladenen in der mündlichen Verhandlung entnommen werden kann, ist dort ein Mindestmaß an selbstbestimmtem Wohnen gewährleistet. Die Behinderten "wohnen" in den Gebäuden auf dem Grundstück AB.. Die 56 Bewohner leben in fünf Wohngruppen mit Küche, Sanitäranlagen und Aufenthaltsraum, wobei in vier Gruppen regelmäßig zwei Bewohner ein eigenes Zimmer haben. Die psychisch Erkrankten und körperlich Behinderten sind zwar auf eine ständige Betreuung angewiesen, weil sie teilweise desorientiert sind und bei den täglichen Verrichtungen eine ständige - wenn auch unterschiedlich intensive - Hilfe benötigen. Eine ständige medizinische Versorgung, welche die Einrichtung mit einem Krankenhaus gleichstellt, findet jedoch nicht statt. Das Pflegeheim beschäftigt keinen eigenen Arzt. Vielmehr wird die medizinische Betreuung von externen Ärzten, insbesondere einem Arzt des Heimträgers, sichergestellt. Die Bewohner leben nach Angaben des Beigeladenen auf unbestimmte Zeit, teilweise ein Leben lang im Heim. Ihr Aufenthalt beruht auf Heimverträgen, die nach § 8 Abs. 1 HeimG regelmäßig auf unbestimmte Zeit geschlossen werden (aber auch monatlich gekündigt werden können, § 8 Abs. 2 Satz 1 HeimG). Auch nach der sonstigen Ausgestaltung der Heimverträge (§ 5, 8 HeimG) wird eine der besonderen Lage des Behinderten angepasste, letztlich aber der allgemeinen Mietwohnung vergleichbare Wohnsituation geschaffen. Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 HeimG überlassen die von dem HeimG erfassten Heime u.a. pflegebedürftigen und behinderten Volljährigen Wohnraum und stellen ihnen Betreuung und Verpflegung zur Verfügung. Der Beigeladene betreibt also eine Eingliederungshilfeeinrichtung, die auf ein betreutes Wohnen ausgerichtet ist. Dem entsprechend gestalten die Bewohner in der Wohngruppe oder in einem separaten Gebäude auf dem Gelände ihren Tagesablauf (u.a. durch tagesstrukturierende Angebote). Eine Gruppe arbeitet tagsüber in einer Behindertenwerkstatt in AC.. Die Grundausstattung der Zimmer wird von der Einrichtung gestellt. Dazu gehören in der Regel das Bett und der Kleiderschrank. Es können auch eigene Einrichtungsgegenstände mitgebracht werden (was häufig auch geschieht), so dass auch insofern eine hinreichend selbstbestimmtes Wohnen gewährleistet ist.
Die Nutzung des Pflegeheims für geistig Behinderte verstößt nicht gegen das baurechtliche Gebot der Rücksichtnahme nach § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO. Ungeachtet der grundsätzlichen planungsrechtlichen Zulässigkeit nach §§ 3, 4 BauNVO muss die unter dem 12.03.2004 genehmigte Nutzung gebietsverträglich sein, d. h. sie darf schutzwürdige Nachbarinteressen nicht verletzen. In diesem Sinne schreibt § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO vor, dass bauliche Anlagen im Einzelfall unzulässig sind, wenn von ihnen Belästigungen oder Störungen ausgehen, die nach der Eigenart des Baugebiets im Baugebiet selbst oder in dessen Umgebung unzumutbar sind. Das aus dieser Vorschrift abgeleitete baurechtliche Gebot der Rücksichtnahme dient dazu, angesichts der gegenseitigen Verflechtung der baulichen Situation benachbarter Grundstücke zwischen den verständlichen und unabweisbaren Interessen des Bauherrn und den schutzwürdigen Belangen der Nachbarn einen angemessenen planungsrechtlichen Ausgleich zu schaffen (BVerwG, Urt. v. 14.01.1993 - 4 C 19.90 -, BRS 55 Nr. 175). Dabei ist entscheidend, ob von einem Bauvorhaben für den Nachbarn, der sich auf eine Verletzung seiner subjektiv-öffentlichen Rechte beruft, städtebaulich relevante unzumutbare Beeinträchtigungen ausgehen. Die Schutzwürdigkeit des betroffenen Nachbarn, die Intensität der Beeinträchtigungen, die Interessen des Bauherrn und das, was beiden Seiten billigerweise zumutbar oder unzumutbar ist, sind gegeneinander abzuwägen. Bloße Lästigkeiten erreichen nicht den Grad einer in diesem Sinne qualifizierten Störung (BVerwG, Urt. v. 07.02.1986 - 4 C 49.82 -, BRS 46 Nr. 50). Die von einer nach dem Willen des Gesetzgebers gebietsverträglichen Nutzung ausgehenden typischen Immissionen kann der Nachbar nicht verhindern. So sind auch solche Beeinträchtigungen und Belästigungen, die üblicherweise mit Wohngebäuden i. S. des § 3 Abs. 4 BauNVO verbunden sind, vom Nachbarn hinzunehmen (OVG NW, Urt. v. 09.01.1997 - 7 A 2175/95 -, Juris).
Nach diesen Grundsätzen erweist sich die Nutzung des Grundstücks der Beigeladenen für ein Heim zur Betreuung von überwiegend geistig behinderten Personen nicht als rücksichtslos. Die Nutzung ist nur im Rahmen der Baugenehmigung vom 12.03.2004 zulässig. Mit dieser Baugenehmigung sind dem Beigeladenen verschiedene, dem Nachbarschutz dienende Auflagen gemacht worden. Sofern diese Maßgaben konsequent und täglich umgesetzt werden, reduziert sich die Geräuscheinwirkung auf das Grundstück der Klägerin auf ein von der Klägerin hinzunehmendes Maß.
Die Auflagen der Baugenehmigung sind nicht zu unbestimmt (§ 37 Abs. 1 VwVfG). Sofern für den nördlichen Gebäudekomplex eine Fläche nur als Durchgang genutzt werden darf, bedeutet dies zweifelsfrei, dass dort ein längerer Aufenthalt nicht zulässig ist. Die über den neu angelegten Weg erreichbaren Räume der Wohngruppe I müssen von den Behinderten so schnell wie möglich betreten werden, so dass die Lautäußerungen im Freien auf ein unvermeidliches Minimum reduziert werden. Die übrigen Auflagen sind ebenfalls eindeutig und praktikabel. So ist in der mündlichen Verhandlung deutlich geworden, dass auch die Fenster der Küche von Wohngruppe I (Raum 141) bei Installation eines Dunstabzugs geschlossen gehalten werden können, was gegenwärtig nicht immer geschieht. Ein Duschen ohne geöffnetes Fenster in den Räumen 143 und 147 kann ohne weiteres gewährleistet werden (notfalls durch abschließbare Griffe). Die Auflage Ziff. 9 ist im Sinne der Erläuterungen des Beklagten in der mündlichen Verhandlung dahin auszulegen, dass durch die Fensteröffnung des Raums 173 keine unvermeidbaren Geräusche nach außen dringen, die sich durch Reflektion an der gegenüberliegenden Wand potenzieren. Denkbar sind schalldämmende Maßnahmen auch an den Wänden des Innenhofs vorzunehmen oder das Schließen des Fensters während des Aufenthalts der Bewohner.
Zukünftig werden zur Wahrung des Gebots der Rücksichtnahme u.U. entsprechende Auflagen für die nach Auflage Ziff. 6 in das Erdgeschoss des Hauptgebäudes verlegte Wohngruppe V notwendig, da deren Wohnbereich dann unmittelbar gegenüber dem Grundstück der Klägerin liegt. Eine Rechtsverletzung der Klägerin resultiert aus der unterbliebenen Anordnung im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung indessen noch nicht. Hier liegt aber ein weiteres, ggf. durch Nachtragsgenehmigung zu behebendes Konfliktpotenzial.
Wie andere Nachbarn von Bauvorhaben trägt auch die Klägerin das Risiko der Beachtung der Auflagen. Werden diese nicht befolgt, müssen bauaufsichtliche Anordnungen des Beklagten folgen.
Das von dem Beklagten eingeholte schalltechnische Gutachten der Gesellschaft für Umweltschutz TÜV Nord mbH vom 08.06.2001 belegt zusätzlich, dass unzumutbare Immissionen durch den Betrieb des Heims nicht vorliegen. Die Immissionsrichtwerte der TA-Lärm für ein Reines Wohngebiet werden danach eingehalten. Die Richtwerte der TA Lärm bilden zwar kein ausschlaggebendes Kriterium. Sie liefern aber brauchbare Anhaltspunkte für den Nachbarschutz (BVerwG, Urt. v. 27.08.1998 - 4 C 5.98 -, BRS 60 Nr. 83). Für ein Reines Wohngebiet werden Immissionsrichtwerte von 50 dB(A) tagsüber und 35 dB(A) nachts vorgeschrieben (Ziff. 6.1 e). Einzelne kurzzeitige Geräuschspitzen dürfen die Immissionsrichtwerte am Tage um nicht mehr als 30 dB(A) und in der Nacht um nicht mehr als 20 dB(A) überschreiten. Die Berechnungen in dem schalltechnischen Gutachten vom 08.06.2001 beziehen sich auf die Tageszeit (06:00 bis 22:00 Uhr, vgl. Ziff. 6.4 TA-Lärm). Als Immissionsort wurde das Wohngebäude der Klägerin gewählt. Die Geräuschimmissionen wurden rechnerisch nachvollziehbar ermittelt. Die Lärmgutachter haben sowohl das Schreien einer einzelnen Person mit einer zehnminütigen Einwirkdauer als auch das Rufen von zwei Personen mit einer zehnminütigen Einwirkdauer berücksichtigt. Die nach der TA-Lärm möglichen Zuschläge für die Impulshaltigkeit der Geräusche und für die Ton- und Informationshaltigkeit wurden vorgenommen (6 dB(A) insgesamt, s. Ziff. A.3.3.5. und A.3.3.6. TA Lärm). Die Berechnungen führten zu einem Beurteilungspegel von 49 dB(A). Der Maximalpegel einer Geräuschspitze lag bei ca. 70 dB(A). Der Ansatz von zehn Minuten Einwirkdauer beinhaltet nach dem Gutachten bei einer Taktdauer von 5 Sekunden, dass innerhalb eines Tages 120-mal laut geschrieen wird. Dass häufiger ein Schreien zu bemerken ist, hat die Klägerin nicht vorgetragen. Nach den Ergebnissen des schalltechnischen Gutachtens vom 08.06.2001 ist daher unter dem Blickwinkel der bloßen Lautstärke eine Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme nicht anzunehmen.
Die Kammer verkennt nicht, dass die Klägerin und ihre Nachbarn seit fast 20 Jahren in ihrer Grundstücksnutzung beeinträchtigt werden, weil Schreie und andere Lebensäußerungen der geistig behinderten Menschen in dem Garten der Klägerin und - bei geöffnetem Fenster - auch in deren Wohnhaus zu hören sind. Da die Geräusche ungewöhnlich sind und unregelmäßig auftreten, werden sie besonders aufmerksam wahrgenommen. Sie werden einem Menschen zugeordnet und gerade deshalb als besonders belastend empfunden, wozu auch das Bedauern beitragen wird, dass diese Menschen sich nicht anders verständigen können. Des Weiteren ist zu beachten, dass das Gebot der Rücksichtnahme als Korrektiv der planungsrechtlichen Zulässigkeit hier in besonderer Weise gefordert ist, weil der Verordnungsgeber des § 3 Abs. 4 BauNVO in erster Linie an Altenpflegeheime gedacht hat (vgl. erneut Jäde/Dirnberger/Weiss, BauGB/BauNVO, a.a.O., Rn. 11 ff.). Zwar ist auch das betreute Wohnen von geistig behinderten Menschen planungsrechtlich zulässig; die Auswirkungen dieser baulichen Nutzung müssen aber denen eines Altenpflegeheims zumindest nahe kommen. Denn Wohngebäude sind nach §§ 3 Abs. 2, 4 Abs. 2 BauNVO in dem von besonderer Wohnruhe geprägten Allgemeinen und Reinen Wohngebieten nicht nur ausnahmsweise, sondern generell zulässig und damit anders zu behandeln als die Ausnahmen nach §§ 3 Abs. 3, 4 Abs. 3 BauNVO.
Andererseits sollen Behinderte nicht in besondere Bereiche, etwa Gewerbegebiete, abgeschoben werden. Auch soweit es planungsrechtlich um das Wohnen geht, sollen sie wie andere Menschen behandelt werden (vgl. OVG Münster, B. v. 23.12.1985 - 11 B 1911/85 - NJW 1986, 3157). Das führt zu einem geringeren Schutzanspruch der Klägerin.
Von einer unzumutbaren Störung geht die Kammer unter Berücksichtigung des Vorbringens der Klägerin und der Beigeladenen in der mündlichen Verhandlung auch wegen der Besonderheiten der hier festzustellenden Geräusche derzeit nicht aus. Der tägliche Betrieb des Pflegeheims muss so organisiert werden, dass vermeidbare Geräusche nicht auftreten. Hier obliegt dem Beigeladenen im nachbarlichen Verhältnis eine besondere, auch baurechtlich verankerte Pflicht (s.o. Gebot der Rücksichtnahme), deren Nichtbeachtung Maßnahmen der Bauaufsicht nach sich ziehen muss.
Im Übrigen ist nicht erkennbar, dass das Pflegeheim des Beigeladenen in einer nicht typischen Weise genutzt wird. Die Immissionen - und nur darauf kommt es im vorliegenden Nachbarrechtsstreit an - sind mit dem Gebietscharakter vereinbar und im Hinblick auf § 3 Abs. 4 BauNVO noch als typisch zu bewerten. Typische Immissionen einer gebietsverträglichen Nutzung sind aber - wie ausgeführt - von den Nachbarn hinzunehmen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Kosten des notwendig Beigeladenen sind nach § 162 Abs. 3 VwGO erstattungsfähig.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit richtet sich nach § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.