Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 07.09.2017, Az.: 13 ME 157/17

Abschiebung eines georgischen Staatsbürgers unter ärztlicher Begleitung; Gewährleistung der Sicherstellung einer Weiterbehandlung vor Ort durch den Kooperationsarzt der Botschaft in Tirana; Prüfung des Vorliegens eines (vorübergehenden) inlandsbezogenen Vollstreckungshindernisses

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
07.09.2017
Aktenzeichen
13 ME 157/17
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2017, 22758
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG Stade - 13.06.2017

Fundstellen

  • AUAS 2017, 244-246
  • InfAuslR 2017, 446-448

Tenor:

Die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Stade - 4. Kammer - vom 13. Juni 2017 wird zurückgewiesen.

Der Antrag der Antragsteller auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.

Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu je einem Fünftel. Außergerichtliche Kosten des Prozesskostenhilfeverfahrens werden nicht erstattet.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 12.500 EUR festgesetzt.

Gründe

I. Die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Stade vom 13. Juni 2017, mit dem die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes versagt worden ist, hat keinen Erfolg.

Zu Recht hat das Verwaltungsgericht einen Anordnungsanspruch der Antragsteller verneint. Ihnen steht kein Duldungsanspruch nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG zu, da ihre Abschiebung weder auch tatsächlichen noch aus rechtlichen Gründen unmöglich ist.

1. Aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG können die Antragsteller entgegen der Beschwerde kein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis herleiten.

Eine Abschiebung des Antragstellers zu 1. sowie - zur Wahrung der Familieneinheit - der übrigen Antragsteller (Ehefrau sowie minderjährige Kinder) hätte nach diesen Vorschriften bei einer krankheitsbedingten Reiseunfähigkeit des Antragstellers zu 1. zu unterbleiben. Eine solche liegt vor, wenn sich der Gesundheitszustand des Ausländers allein durch die Ortsveränderung voraussichtlich wesentlich verschlechterte oder eine Lebens- oder Gesundheitsgefahr transportbedingt erstmalig entstünde (Transportunfähigkeit oder Reiseunfähigkeit im engeren Sinne), aber auch dann, wenn das ernsthafte Risiko zu gewärtigen wäre, dass - außerhalb des Transportvorganges - unmittelbar durch die Abschiebung als solche und unabhängig vom Zielstaat sich der Gesundheitszustand des Abzuschiebenden wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechterte (Reiseunfähigkeit im weiteren Sinne), ohne dass derlei Gefahren durch Vorkehrungen im Rahmen einer besonderen Gestaltung des Abschiebevorgangs ausgeschlossen oder minimiert werden könnten (vgl. zum Ganzen Senatsbeschl. v. 19.5.2017 - 13 ME 102/17 -, V.n.b., S. 3 des Beschlussabdrucks). Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt.

Das amtsärztliche Gutachten der Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie K. vom 30. August 2017 geht nach eigener Exploration des Antragstellers zu 1. und Würdigung der vorhandenen Vorbefunde davon aus, dass beim Antragsteller zu 1. seit ca. 20 Jahren eine schwere psychische Störung, am ehesten eine Störung aus dem schizophrenen Formenkreis, besteht. Eine Verstärkung der Symptomatik im Rahmen von Flucht, Asylverfahren und drohender Abschiebung erscheine plausibel. Hinweise, die die Verdachtsdiagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung erhärteten, lägen nicht vor. Ausgehend von der einer medikamentösen Behandlung offenbar nur schwer zugänglichen schizophrenen Grunderkrankung, sei aus ärztlicher Sicht zu fordern, dass die weitere psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung des Antragstellers zu 1. im Heimatland sichergestellt werde. Gleiches gelte für die Fortführung einer adäquaten antipsychotischen Medikation. Aufgrund der Gefahr einer psychischen Dekompensation durch die Belastungen der Abschiebung solle eine Reise nur unter Arztbegleitung stattfinden. Die Übergabe in fachlich qualifizierte Weiterbehandlung müsse sichergestellt werden.

Hiernach ist eine Reisefähigkeit des Antragstellers zu 1. gegeben, wenn die amtsärztlich geforderten Vorkehrungen getroffen werden. Der Senat hat keine Zweifel, dass der Antragsgegner diese Vorkehrungen treffen wird. Er hat eine Abschiebung des Antragstellers zu 1. unter ärztlicher Begleitung zugesagt. Darüber hinaus werde bei einer Abschiebung die geforderte Sicherstellung einer Weiterbehandlung vor Ort gewährleistet. Dabei hat der Antragsgegner durch seinen E-Mail-Verkehr vom 5./6. September 2017 mit dem Auswärtigen Amt hinreichend dokumentiert, dass die Weiterbehandlung des Antragstellers zu 1. durch den Kooperationsarzt der Botschaft in Tirana sichergestellt werden kann und wird.

2. Entgegen der Beschwerde steht einer Abschiebung der Antragsteller ferner kein darüber hinausgehendes (vorübergehendes) inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis unmittelbar aus Art. 3 EMRK (Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung) entgegen.

Die Antragsteller haben sich zur Begründung eines solchen rechtlichen Abschiebungshindernisses - wenn auch unter fehlerhafter Bezeichnung - auf das Urteil des EGMR (Große Kammer) vom 13. Dezember 2016 - No. 41738/10 -, Paposhvili v. Belgien, Rn. 183, 191, bezogen, das sich im Wesentlichen mit krankheitsbedingten Gefahren wegen der Verhältnisse im dortigen Zielstaat der Abschiebung (Georgien) befasst hat. Allein daraus, dass der EGMR in dieser Entscheidung (a.a.O., Rn. 191) im Interesse der Vermeidung eines drohenden Verstoßes gegen Art. 3 EMRK die Einholung individueller und ausreichender Zusicherungen des Zielstaats durch den abschiebenden Staat im Hinblick auf die Verfügbarkeit und Zugänglichkeit einer adäquaten medizinischen Behandlung bei schwer erkrankten Personen vor Übergabe des Abzuschiebenden an die Behörden des Zielstaats gefordert und als eine "Vorbedingung einer Abschiebung" (ˮprecondition for removal") bezeichnet hat, folgt nach Ansicht des Senats noch nicht, dass eine derartige Einholung von Zusicherungen - wenn eine Prüfung zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote bereits in einem Asylverfahren vor dem Bundesamt stattgefunden hat und solche wegen der Verfügbarkeit und Zugänglichkeit der erforderlichen medizinischen Behandlung im Zielstaat verneint worden sind - nochmals und ggf. aktualisiert durch die Ausländerbehörde geschehen müsste (so aber wohl VGH Baden-Württemberg, Beschl v. 22.2.2017 - 11 S 447/17 -, Rn. 5; vgl. zum Ganzen: Senatsbeschl. v. 7.6.2017 - 13 ME 107/17 -, Rn. 12 ff.). Der Verweis der Antragsteller auf eine darauf hinauslaufende Aufklärungsverfügung aus einem Eilverfahren vor dem Verwaltungsgericht Hamburg vom 30. März 2017 - 15 E 3263/17 - (Bl. 84 der GA) ist im vorliegenden Verfahren mithin unerheblich. Der Vorgabe an die Konventionsstaaten aus der o.g. Entscheidung des EGMR vom 13. Dezember 2016 (a.a.O., Rn. 185), ein angemessenes Verfahren vorzusehen, das die Berücksichtigung der sich aus Art. 3 EMRK wegen der Verhältnisse im Zielstaat ergebenden Anforderungen ermöglicht, wird durch die Überprüfungspflichten des Bundesamtes im Rahmen des Asylverfahrens und durch die Möglichkeit des Abzuschiebenden, etwaige Veränderungen der Sachlage gegenüber dem Bundesamt in einem weiteren Verfahren geltend zu machen, hinreichend Rechnung getragen. Eine erneute Prüfung derselben Fragestellung durch die Ausländerbehörde wäre systemwidrig und führte zu auch aus Rechtsschutzgründen nicht gebotenen Doppelprüfungen (vgl. Senatsbeschl. v. 7.6.2017, a.a.O.).

Das Bundesamt hat im Asylverfahren der Antragsteller mit Ziffer 4. des rechtskräftig bestätigten Bescheides vom 14. 2015 (vgl. BeiA 001, Bl. 435 ff.) das Bestehen zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote aus Art. 3 EMRK i.V.m. § 60 Abs. 5 AufenthG und aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG verneint; und zwar nicht etwa erst wegen einer angenommenen Verfügbarkeit und Zugänglichkeit medizinischer Behandlung im Zielstaat. Vielmehr hat es bereits dem Grunde nach keinerlei Anhaltspunkte für die Feststellung derartiger Abschiebungsverbote aus individuellen Gründen gesehen (vgl. S. 6 ff. des Bescheides), nachdem der Antragsteller zu 1. in seinem Asylverfahren zu den nunmehr geltend gemachten psychischen Problemen keine Angaben gemacht hat, obwohl er hierzu bei seiner Anhörung vom 28. März 2013 (vgl. BA001, Bl. 445 ff.) beim Bundesamt Gelegenheit hatte und er dazu nach § 25 Abs. 2 AsylG auch verpflichtet war. Das nachfolgende, rechtskräftig gewordene Urteil des Verwaltungsgerichts Stade vom 18. April 2017 - 4 A 1985/15 - mit dem die gegen den Bescheid des Bundeamtes vom 14. 2015 erhobene Klage abgewiesen worden ist, bestätigt jedenfalls die Möglichkeit der medizinischen Versorgung der nunmehr vorgetragenen psychischen Erkrankung des Antragstellers zu 1. in Albanien. Für eine von den Antragstellern zudem nicht näher spezifizierte "Vorwirkung" des Art. 3 EMRK ist damit kein Raum.

An die rechtskräftig bestätigte negative Feststellung des Bundesamts zu § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist der Antragsgegner vielmehr gemäß den §§ 42 Satz 1, 24 Abs. 2, 13 Abs. 2, 5 Abs. 1 AsylG gebunden. Diese Wirkung könnte nur im Wege eines Folgeantrags nach § 71 Abs. 1 AsylG oder eines auf ein Wiederaufgreifen des Verfahrens hinsichtlich nationalrechtlicher zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote beschränkten sog. isolierten Folgeschutzgesuchs beim Bundesamt (§ 51 Abs. 1 bis 3 oder Abs. 5 VwVfG) überwunden werden (vgl. zuletzt Senatsbeschl. v. 7.6.2017, a.a.O.).

3. Eine Duldung der Antragstellerin zu 3. zur Sicherung des Fortbestehens der Voraussetzungen der beantragten Aufenthaltserlaubnis nach § 25a Abs. 1 AufenthG kommt nicht in Betracht, da die Antragstellerin zu 3. nicht zum Adressatenkreis des § 25a Abs. 1 AufenthG gehört. Die Aufenthaltserlaubnis nach dieser Bestimmung soll - bei Bestehen weiterer Voraussetzungen - geduldeten jugendlichen oder heranwachsenden Ausländern erteilt werden. Nach der Definition des § 1 Abs. 2 JGG ist Jugendlicher, wer vierzehn, aber noch nicht achtzehn, Heranwachsender wer achtzehn, aber noch nicht einundzwanzig Jahre alt ist (vgl. zu den Altersgrenzen im Rahmen des § 25a Abs. 1 AufenthG: Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung, BT-Drs. 18/4097, S. 42). Die Antragstellerin zu 3. ist am 23. Dezember 2006 geboren und damit erst 10 Jahre alt. Sie befindet sich mithin noch im Kindesalter und ist weder Jugendliche noch Heranwachsende. Für die ebenfalls beantragten akzessorischen Titel der übrigen Antragsteller nach § 25a Abs. 2 AufenthG ist damit auch kein Raum.

Die Kostenentscheidung für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Festsetzung des Streitwertes für das Beschwerdeverfahren auf den §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 1 GKG und Nrn. 1.5 Satz 2, 8.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (NordÖR 2014, 11). Danach ist für jeden der fünf Antragsteller der hälftige Auffangwert i.S.d. § 52 Abs. 2 GKG anzusetzen. Der sich daraus ergebende Betrag von 12.500 EUR ist im Hinblick auf die mit der begehrten einstweiligen Anordnung erstrebte faktische Vorwegnahme der Hauptsache nicht zu halbieren.

II. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist abzulehnen. Der Beschwerde kommt auch nach der im Prozesskostenhilfeverfahren nur vorzunehmenden summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage (vgl. BVerfG, Beschl. v. 26.02.2007 - 1 BvR 474/05 -, Rn. 11) unter Berücksichtigung des Zwecks der Prozesskostenhilfebewilligung die gemäß § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO erforderliche hinreichende Erfolgsaussicht nicht zu (vgl. zu im Hauptsacheverfahren einerseits und im Prozesskostenhilfeverfahren andererseits anzulegenden unterschiedlichen Maßstäben: BVerfG, Beschl. v. 08.07.2016 - 2 BvR 2231/13 -, Rn. 10 ff. m. w. N.).

Die Kostenentscheidung für das Prozesskostenhilfeverfahren folgt aus § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 118 Abs. 1 Satz 4 ZPO.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).