Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 29.09.2017, Az.: 2 LA 238/17

Beruhen; Divergenz; Druse; Risikoprofil; UNHCR

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
29.09.2017
Aktenzeichen
2 LA 238/17
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2017, 53970
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 28.02.2016 - AZ: 2 A 4943/16

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Die bloße Religionszugehörigkeit (hier: zum drusischen Glauben) kann im Zulassungsverfahren nicht als durchgreifende Alternativbegründung für die Aufrechterhaltung eines erstinstanzlichen Urteils herhalten, das insoweit seinerseits keine Einzelfallwürdigung vorgenommen oder - wie hier - gänzlich dazu geschwiegen hat.

Tenor:

Auf den Antrag der Beklagten wird die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Oldenburg - 2. Kammer (Einzelrichter) - vom 28. Februar 2016 zugelassen.

Das Berufungsverfahren wird unter dem Aktenzeichen 2 LB 1613/17 geführt.

Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Gründe

Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung hat Erfolg. Zwar sind die von der Beklagten als klärungsbedürftig aufgeworfenen Fragen,

"ob, nach (illegaler) Ausreise und Verbleib im westlichen Ausland zurückkehrenden bzw. nach Syrien rückgeführten Asylantragstellern, soweit sie altersgemäß in der Lage sind, sich eine eigene politische Überzeugung zu bilden, (weiterhin) anzunehmen ist, dass mit dem Grad der beachtlichen Wahrscheinlichkeit im Rahmen der Einreisekontrollen Eingriffe i. S. d. § 3a Abs. 1 und 2 AsylG drohen,

sowie

ob die syrischen Stellen dabei weiterhin bereits einen der oder jedenfalls die Kombination der Risikofaktoren (illegale) Ausreise, Asylantragstellung und Aufenthalt im westlichen Ausland ungeachtet einer tatsächlichen oppositionellen Haltung des Einzelnen generell und unterschiedslos als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung auffassen",

in der Rechtsprechung des Senats durch Urteil vom 27. Juni 2017 (- 2 LB 91/17 -, juris) mittlerweile geklärt (vgl. auch Beschl. v. 5.9.2017 - 2 LB 186/17 -, u. v. 12.9.2017 - 2 LB 750/17 -, beide juris), so dass deren grundsätzliche Bedeutung (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) entfallen ist.

Ein Antrag auf Zulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache ist jedoch nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in einen Antrag auf Zulassung wegen Divergenz umzudeuten, wenn die aufgeworfene Rechtsfrage in einem nachträglich ergangenen oder erst nach Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist mit Gründen veröffentlichten Urteil grundsätzlich geklärt worden ist, die angefochtene Entscheidung hiervon abweicht und das angegriffene Urteil auf der Abweichung beruht (vgl. hierzu etwa BVerwG, Beschl. v. 21.2.2000 - 9 B 57.00 -, juris; Beschl. v. 6.4.2009 - 10 B 62.08 -, juris; Beschl. v. 8.6.2017 - 1 B 25.17 -, juris; OVG Lüneburg, Beschl. v. 10.2.2011 - 11 LA 491/10 -, NVwZ 2011, 572; OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 20.3.2012 - 10 N 45.08 -, juris). Das ist hier der Fall.

Der Senat hat zu einer vergleichbaren Fallgestaltung bereits mit Beschluss vom 8. September 2017 (- 2 LA 295/17 -, juris) ausgeführt und hält daran fest:

„Wie der Senat in ständiger Entscheidungspraxis - beginnend mit einer Reihe von Beschlüssen vom 28. April 2017 - stets angenommen hat, kam den oben wiedergegebenen, in einer Vielzahl von Zulassungsverfahren durchgängig von der Beklagten - und in anderen Verfahren in gleichem Sinne von der Klägerseite - aufgeworfenen Fragen ursprünglich grundsätzliche Bedeutung zu. Da die nämlichen Fragen in der Rechtsprechung bereits umfassend behandelt worden waren und mit ihrem generalisierenden Ansatz nur geringen Bezug zu den individuellen Schicksalen der Kläger aufweisen, hat der Senat bei der Bestimmung der Anforderungen an die Begründungstiefe von Zulassungsanträgen sowohl auf der Kläger- als auch auf der Beklagtenseiten diese spezifische Situation berücksichtigt (zur Vermeidung von „Überspannungen“ im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts , vgl. z.B. Beschl. der 1. Kammer des 2. Senats v. 16.1.2017 - 2 BvR 2615/14 -, juris); nicht jeder Zulassungsantrag, der genau dieselbe Frage aufwirft wie Tausende vorausgegangener und nachfolgender Zulassungsanträge, muss so ausführlich argumentieren, als werde die Frage singulär aufgeworfen.

Bei dieser Auffassung verbleibt der Senat auch in Ansehung des Beschlusses des Oberverwaltungsgerichts des Landes Sachsen-Anhalt vom 27. Juli 2017 (- 3 L 172/17 -, juris), der bei einem - allerdings anders gefassten - Zulassungsantrag der Beklagten von unzureichender Darlegung im Sinne des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG ausgegangen ist. Dabei spielt für den Senat nicht zuletzt eine Rolle, dass die Vorstellung, die Aufstockungsverfahren seien Rechtsstreitigkeiten herkömmlicher Art, zunehmend an der Rechtswirklichkeit vorbeigeht. Schon im Allgemeinen ist die bundesweite Rechtsprechung hierzu wenig durch individuelle Annäherung an das Einzelverfahren, sondern durch raumgreifende Verwendung von Textbausteinen, umfassende Einrückung wörtlicher Zitate aus anderen Entscheidungen und regelmäßig nur schmale Eigenbeiträge zur Sachverhaltsaufklärung geprägt, eine für die Verwaltungsgerichtsbarkeit insgesamt dauerhaft schädliche Entwicklung, die sich - jenseits einiger grundsätzlicher Urteile bzw. Beschlüsse - auch in der Rechtsprechung des Senats fortgesetzt hat bzw. fortsetzen wird, schon weil das Klägervorbringen in der Masse bezogen auf die eigentlichen Fallfragen nach bisherigem Eindruck substanzarm ist. Im Falle des Ausgangsgerichts verschärft sich dies dadurch, dass die ohnehin geringe Bereitschaft zu substantiiertem Klagevorbringen durch frühzeitige Hinweise des Ausgangsgerichts auf bereits getroffene Grundsatzentscheidungen und die daran anknüpfende Anfrage, ob auf mündliche Verhandlung verzichtet werde, nachhaltig geschmälert worden sein dürfte. Die getroffenen Entscheidungen verwenden auf dieser Grundlage ausschließlich Textbausteine für die auch hier aufgeworfene Grundfrage und nach Bedarf ergänzend für Fallgruppen wie „wehrpflichtiges Alter“. Ein individuelles Gepräge haben die erstinstanzlichen Verfahren dieses Ausgangsgerichts daher nicht einmal mehr im Ansatz. Unter diesen Umständen würde der Senat es als verfehlt ansehen, einzig im Zulassungsverfahren von nur einem Beteiligten - hier dem Bundesamt - die Rückkehr zu einem strengen Verständnis prozessrechtlicher Darlegungsanforderungen einzuverlangen. Unabhängig davon, dass Behörden keine Grundrechtsträger sind und daher am Anspruch auf effektiven Rechtsschutz und Justizgewährung nur reflexhaft in der Weise teilhaben, dass das Prozessrecht auf sie aus systematischen Gründen in gleicher Weise anzuwenden ist wie auf den Bürger, würde sonst vor dem Hintergrund der ständigen Ermahnungen des Bundesverfassungsgerichts, die zulassungsrechtlichen Anforderungen nicht zu überspannen, eine deutliche „Schieflage“ zu Lasten der Beklagten eintreten.

Dabei hat der Senat bereits eine Vielzahl von Zulassungsanträgen der Beklagten abgelehnt (vgl. z.B. Beschlüsse vom 26.1.2017 - 2 LA 19/17 - und vom 10.5.2017 - 2 LA 701/17 -, beide juris). Er übersieht auch nicht, dass das prozessuale Gebaren der Beklagten - gesteuert offenbar von eher betriebswirtschaftlich orientierten Organisationsentscheidungen der Zentrale - nicht immer den Eindruck aufkommen lässt, die Beklagte wolle in den von ihr geführten Prozessen auch tatsächlich obsiegen. Auch fehlt es offenbar an einem tieferen Verständnis der Aufgabe der Justiz, wenn etwa - wie nunmehr Pressemitteilungen über die Einrichtung einer „Gerichts-Hotline“ nahelegen - entgegen der Obliegenheit zur Einreichung vorbereitender Schriftsätze (§ 86 Abs. 4 VwGO), die von nach § 67 Abs. 4 Satz 4 VwGO befugtem Personal verfasst werden, der Sache nach eine „Holschuld“ der Gerichte angenommen wird.

Der Senat hat der Beklagten - wie in anderen Verfahren auch den Klägern - jedoch zugute gehalten, dass man sich in Kenntnis der umfangreichen Rechtsprechung zu „Syrien-Fällen“ nicht ohne Weiteres der Erkenntnis verschließen kann, dass bestimmte - in der Rechtsprechung durchgängig sehr abstrakt abgehandelte - Fragen (z.B. die „Trias“ illegale Ausreise, Asylantragstellung und längerer Aufenthalt im westlichen Ausland oder wehrpflichtiges Alter) grundsätzliche Bedeutung haben und deshalb in der Rechtsprechung auch eine zentrale Rolle gespielt haben, ohne dass insoweit auf individuelle Umstände abgestellt worden wäre. Er ist deshalb von zureichender Darlegung immer bereits dann ausgegangen, wenn solche Fragen im Zulassungsantrag - dessen hier verwendete Textvariante immerhin knapp 11 Seiten umfasst und durchaus eine Reihe von für die Tatsachenbeurteilung bedeutsamen Erwägungen enthält - überhaupt mit den einen oder anderen weiterführenden Hinweis angesprochen worden sind. Er hat andererseits auch nicht die Fehlvorstellung vieler Erwiderungen auf Zulassungsanträge honoriert, ein Zulassungsantrag müsse nicht nur auf die vom angegriffenen Urteil selbst abgehandelten Gründe, sondern auch auf Umstände eingehen, die für das Verwaltungsgericht selbst keine Rolle gespielt haben. Eine solche Obliegenheit zu einer Begründung von Zulassungsanträgen, die über den Gehalt der angegriffenen Entscheidung hinausgehen, kann allenfalls angenommen werden, wenn sich ohne Weiteres aufdrängt, dass das „Beruhenserfordernis“ des § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG sonst nicht erfüllt ist.

Vor diesem Hintergrund hält der Senat auch für den vorliegenden Fall an seinen Formulierungen in früheren Zulassungsbeschlüssen fest, etwa im Beschluss vom 18. August 2017 - (2 LA 208/17 -):

„Das Urteil beruht auch auf der Abweichung, weil die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht bereits darauf gestützt werden kann, dass sich der Kläger nach den Ausführungen im angegriffenen Urteil im wehrpflichtigen Alter befindet. Denn der Senat hat in dem o.g. Urteil vom 27. Juni 2017 ebenfalls entschieden, dass - unabhängig davon, ob der Betreffende erstmals oder als Reservist einberufen würde bzw. mit einer Einberufung konkret rechnen müsste - eine beachtlich wahrscheinliche Verfolgung auch nicht allein unter dem Aspekt der Wehrdienstentziehung droht und dabei auch die verbreitete Auffassung berücksichtigt, zurückkehrende syrische Männer müssten im Fall ihrer Einberufung Kriegsverbrechen begehen.

Auf den Gesichtspunkt der Wehrdienstentziehung ist der Zulassungsantrag seinerseits auch ausreichend eingegangen. Da sich das Verwaltungsgericht in diesem Zusammenhang nicht mit dem individuellen Schicksal des Klägers befasst, sondern vom Einzelfall losgelöste Erwägungen zur Situation von syrischen Staatsangehörigen im wehrpflichtigen Alter angestellt hat, musste deshalb auch der Zulassungsantrag nur dazu Stellung nehmen. Er enthält - wie viele andere Zulassungsanträge textgleich auch - einen - wenn auch kurzen - Passus (Seite 10), der unter Beifügung eines wörtlichen Zitats aus einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Koblenz (deren Einschlägigkeit auch das Bundesverwaltungsgericht in seinem Beschluss vom 25. Juli 2017 - 1 B 70.17 - betont hat) die Position einnimmt, der Umstand, dass sich der Kläger im wehrfähigen Alter befinde, könne die Bejahung der Flüchtlingseigenschaft nicht rechtfertigen. Anders als bei der nicht seltenen Verwendung desjenigen Zulassungsantragsmusters der Beklagten, in dem die Wehrpflichtthematik gänzlich unerwähnt bleibt, geht der Senat bei dem hier verwendeten Zulassungsantragsmuster mit Verweis auf OVG Koblenz nicht a priori von einer Unzulänglichkeit der Begründung des Zulassungsantrags aus.“

Darüber hinaus beruht das Urteil auch deshalb auf der Abweichung, weil die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht ohne Weiteres bereits darauf gestützt werden kann, dass der Kläger drusischen Glaubens ist. Zwar hat er dies einschließlich einer ausführlichen Schilderung der Verhältnisse in seinem Heimatort Suweida bereits erstinstanzlich vorgetragen; dies hat das angegriffene Urteil jedoch nicht weiter erwähnt. Einen „Automatismus“ dahingehend, dass - wie einige Verwaltungsgerichte meinen - die Einschlägigkeit eines der „Risikoprofile“ nach den UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (4. aktualisierte Fassung November 2015) ohne Weiteres zur Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes führt, bejaht der Senat nicht (vgl. Beschl. v. 5.9.2017 - 2 LB 186/17 -, juris Rdnrn. 87 ff.). Unter Randnummer 100 hat er dort weiter ausgeführt:

„Zwar mögen die Risikoprofile als Orientierungshilfe für das Drohen „ernsthaften Schadens“ im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG herangezogen werden, auch dies aber nur unter Beachtung der jeweiligen Begründungen für die einzelnen Risikoprofile und deren Inbezugsetzung zur individuellen Situation der Schutzsuchenden. Das gilt namentlich für eine Zuschreibung politischer Verfolgung allein aufgrund einer bestimmten Religionszugehörigkeit, weil damit Opfer und Täter des Bürgerkriegs gleichermaßen erfasst würden und die Täter unter den Ankömmlingen bei den Anhörungen durch das Bundesamt kaum als solche identifiziert werden können (vgl. jüngst: „Schlächter von Tabka“, SPIEGEL 36/17, S. 31). Auch unabhängig hiervon vermag der Senat nicht zu erkennen, weshalb eine bestimmte Religionszugehörigkeit Aussagekraft haben soll, wenn der Betreffende aus einer Region stammt, in der gerade diese Religion eine dominante Rolle spielt."

In seiner Auffassung, dass es insoweit auf eine - im Zulassungsverfahren nicht vorwegnehmbare - Einzelfallwürdigung ankommt, sieht sich der Senat durch eine - in Verfahren dieser Art von Klägerseite vielzitierte - aktuelle Meldung in SPIEGEL online vom 11. September 2017 mit der Überschrift „Assads Top-General droht Flüchtlingen“ bestätigt, auf welche er auch schon in vorangegangenen Beschlüssen eingegangen ist. Der fragliche General gilt nach einer Wikipedia-Eintragung zu seiner Person als eines der bekanntesten und höchstrangigen Mitglieder der drusischen Volksgruppe auf Seiten der syrischen Regierung, steht aber als Druse ersichtlich auf Seiten der Täter, nicht der Opfer. Die bloße Religionszugehörigkeit kann - was hierdurch mehr als deutlich wird - im Zulassungsverfahren nicht als durchgreifende Alternativbegründung für die Aufrechterhaltung eines erstinstanzlichen Urteils herhalten, das insoweit seinerseits keine Einzelfallwürdigung vorgenommen oder - wie hier - gänzlich dazu geschwiegen hat.

Das Zulassungsverfahren wird als Berufungsverfahren fortgeführt; der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht (§ 124a Abs. 5 Satz 5 VwGO, § 78 Abs. 5 Satz 3 AsylG).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).