Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 01.09.2017, Az.: 13 LA 203/17

Betreibensaufforderung; Meldebescheinigung; Rechtsschutzinteresse; Rücknahmefiktion

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
01.09.2017
Aktenzeichen
13 LA 203/17
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2017, 54144
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 27.06.2017 - AZ: 4 A 198/17

Tenor:

Auf den Antrag des Klägers wird die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Braunschweig - 4. Kammer (Einzelrichter) - vom 27. Juni 2017 zugelassen.

Das Berufungsverfahren wird unter dem Aktenzeichen 13 LB 239/17 geführt.

Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Gründe

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung hat Erfolg, da ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO).

Es kann offen bleiben, ob die Verkürzung der Ladungsfrist im vorliegenden Fall ausnahmsweise eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör und damit einen die Zulassung der Berufung rechtfertigenden Verfahrensmangel darstellt (vgl. zu den Voraussetzungen: BVerwG, Beschl. v. 27.3.1998 - 6 B 37.98 -, juris Rn. 2 m. w. N.).

Ein die Zulassung der Berufung begründender Verfahrensmangel ist jedenfalls in der Feststellung zu sehen, die Klage sei zurückgenommen. Entscheidet ein Gericht durch Prozessurteil anstatt durch Sachurteil, kann darin ein Verfahrensfehler liegen. Das ist der Fall, wenn eine solche Entscheidung auf einer fehlerhaften Anwendung der prozessualen Vorschriften beruht, z.B. einer Verkennung ihrer Begriffsinhalte und der zugrunde zu legenden Maßstäbe (vgl. BVerwG, Beschl. v. 14.4.2016 - 1 B 2.16, 1 PKH 2.16 -, juris Rn. 3 m. w. N.).

Jede antragsgebundene gerichtliche Entscheidung setzt ein Rechtsschutzbedürfnis voraus, d.h. die Verfolgung eines rechtsschutzwürdigen Interesses. Das erforderliche Rechtsschutzinteresse kann im Laufe eines gerichtlichen Verfahrens entfallen. Vom Wegfall eines ursprünglich gegebenen Rechtsschutzbedürfnisses kann ein Gericht im Einzelfall auch dann ausgehen, wenn das Verhalten eines rechtsschutzsuchenden Verfahrensbeteiligten Anlass zu der Annahme bietet, dass ihm an einer Sachentscheidung des Gerichts nicht mehr gelegen ist. Einen gesetzlichen Niederschlag hat dieser Rechtsgedanke in § 92 Abs. 2 VwGO gefunden. Danach gilt eine Klage - mit der Folge der Einstellung des Verfahrens durch Beschluss (vgl. § 92 Abs. 3 VwGO) - als zurückgenommen, wenn ein Kläger das Verfahren trotz einer Aufforderung des Gerichts länger als zwei Monate nicht betreibt. (vgl. BVerwG, Beschl. v. 14.4.2016, a. a. O., Rn. 4).

Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Rücknahmefiktion des § 92 Abs. 2 VwGO zur Beendigung des Rechtsschutzverfahrens mit möglicherweise irreversiblen Folgen führt, insbesondere wenn behördliche Ausgangsentscheidungen dadurch in Bestandskraft erwachsen, ohne dass der Kläger dies durch ausdrückliche Erklärung in bewusster Entscheidung herbeigeführt hätte. Die Handhabung eines solch scharfen prozessualen Instruments muss daher im Lichte der Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG unter strikter Beachtung der gesetzlichen Vorgaben erfolgen, verstanden als Ausnahme von dem Grundsatz, dass ein Kläger oder Antragsteller das von ihm eingeleitete Verfahren auch durchführen will. Namentlich darf § 92 Abs. 2 VwGO nicht als Sanktion für einen Verstoß gegen prozessuale Mitwirkungspflichten oder unkooperatives Verhalten eines Beteiligten gedeutet oder eingesetzt werden. Hierfür ist die Rücknahmefiktion nicht konzipiert. Sie soll vielmehr nur die Voraussetzungen für die Annahme eines weggefallenen Rechtsschutzinteresses festlegen und gesetzlich legitimieren (vgl. BVerfG, Beschl. v. 17.9.2012 - 1 BvR 2254/11 -, juris Rn. 28 m. w. N.). Danach müssen zum einen zum Zeitpunkt der Betreibensaufforderung sachlich begründete Anhaltspunkte vorliegen, die den späteren Eintritt der Fiktion als gerechtfertigt erscheinen lassen. Solche Anhaltspunkte sind insbesondere dann gegeben, wenn der Kläger seine prozessualen Mitwirkungspflichten nach § 86 Abs. 1 VwGO verletzt hat. Zum anderen hat ein Kläger das Verfahren nur dann nicht mehr im Sinne von § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO betrieben, wenn er innerhalb der Zwei-Monatsfrist nicht substantiiert dargetan hat, dass und warum das Rechtsschutzbedürfnis trotz des Zweifels an seinem Fortbestehen, aus dem sich die Betreibensaufforderung ergeben hat, nicht entfallen ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 17.9.2012, a. a. O., Rn. 29 m. w. N.).

Hieran gemessen ist die Auffassung des Einzelrichters, der Kläger habe das Verfahren entgegen der Betreibensaufforderung vom 7. März 2017 nicht betrieben, nicht vertretbar. Das Verhalten des Klägers lässt den Rückschluss auf den endgültigen Wegfall des Rechtsschutzinteresses nicht zu.

Um der Annahme des endgültigen Wegfalls des Rechtschutzinteresses zu entgehen, war es erforderlich, dass der Kläger sich auf die Betreibensaufforderung des Gerichts so substantiiert äußerte, dass Zweifel am Fortbestehen des Rechtsschutzbedürfnisses beseitigt wurden und der äußere Anschein einer Vernachlässigung seiner prozessualen Mitwirkungspflichten entfiel. Wann diese Voraussetzungen erfüllt sind, lässt sich naturgemäß nicht abstrakt umschreiben, sondern hängt von den Umständen des Einzelfalles, insbesondere den Gründen für die Betreibensaufforderung und den vom Kläger konkret erbetenen Verfahrenshandlungen ab. Der Anforderung eines substantiierten Vorbringens genügt es nicht, wenn der Kläger auf eine konkrete Aufforderung hin lediglich mitteilt, er wolle das Verfahren weiter betreiben, oder bei mehreren erbetenen Verfahrenshandlungen nur diejenige vornimmt, die zur Erfüllung seiner prozessualen Mitwirkungspflicht offensichtlich von nur untergeordneter Bedeutung ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 13.1.1987 - 9 C 259.86 -, juris Rn. 12). So liegt der Fall hier allerdings nicht.

Auf die Aufforderung vom 7. März 2017, die Anschrift des Klägers mitzuteilen und zur Glaubhaftmachung eine Meldebescheinigung vorzulegen, teilte der Kläger bereits unter dem 8. März 2017 mit, er sei erschrocken über die Unterstellung, er sei unbekannten Aufenthalts. Er erhalte seine tägliche Post und lebe unter der Adresse. Am nächsten Tage werde eine eidesstattliche Versicherung überreicht werden. Mit Schriftsatz vom 10. März 2017 legte der Kläger sodann eine eidesstattliche Versicherung vom 9. März 2017 sowie mehrere an ihn gerichtete Schreiben vor, die ihn unter seiner Adresse erreicht hätten. In der eidesstattlichen Versicherung erklärte er, seit seinem Einzug in der Wohnung in der Hannoverschen Straße 19 zu leben. Er leere seinen Briefkasten täglich. Allerdings habe das Gericht seinen Namen falsch geschrieben. Mit Schriftsatz vom 27. März 2017 fragte der Kläger nach, ob die unter dem 10. März 2017 übersandten Unterlagen im Hinblick auf die Betreibensaufforderung als ausreichend angesehen würden. Nachdem das Verwaltungsgericht unter dem 3. April 2017 geantwortet hatte, die Anfrage nicht beantworten zu können, weil sich die Gerichtsakten beim Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht befänden, verwies der Kläger mit Schriftsatz vom 15. Mai 2017 erneut auf die unter dem 10. März 2017 übersandten Unterlagen und fügte sie nochmals bei. Zugleich gab er seine neue zukünftige Adresse an und erklärte, den Mietvertrag sowie eine Meldebescheinigung unverzüglich nach Einzug zu übersenden. Unter Berücksichtigung dieser umfangreichen Aktivitäten des Klägers zur Glaubhaftmachung seiner Anschrift muss die Annahme des Einzelrichters, das Rechtsschutzinteresse des Klägers sei entfallen, als fernliegend angesehen werden. Dem Umstand, dass der Kläger die angeforderte Meldebescheinigung nicht übersandt hat, kommt insoweit keine ausschlaggebende Bedeutung zu, denn § 92 Abs. 2 VwGO dient nicht der Sanktionierung eines möglichen Verstoßes gegen das Melderecht.

Das Zulassungsverfahren wird als Berufungsverfahren fortgeführt; der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht (§ 124a Abs. 5 Satz 5 VwGO). Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Beschlusses über die Zulassung der Berufung zu begründen. Die Begründung ist bei dem Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht, Uelzener Straße 40, 21335 Lüneburg, oder Postfach 2371, 21313 Lüneburg, einzureichen. Die Begründung ist schriftlich oder in elektronischer Form nach Maßgabe der Niedersächsischen Verordnung über den elektronischen Rechtsverkehr in der Justiz einzureichen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden verlängert werden. Die Begründung muss einen bestimmten Antrag enthalten sowie die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe). Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Berufung unzulässig (§ 124a Abs. 3 Sätze 3 bis 5 und Abs. 6 VwGO).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).