Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 03.05.2019, Az.: 13 ME 123/19

Aufenthaltserlaubnis; Betreuung durch Familienangehörige; Ermessen; Rechtswidrigkeit; Rücknahme

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
03.05.2019
Aktenzeichen
13 ME 123/19
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2019, 70097
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 29.03.2019 - AZ: 11 B 413/19

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Eine Aufenthaltserlaubnis, deren Inhalt mit der materiellen Rechtslage nicht in Einklang steht, kann zurückgenommen werden. Nicht ausreichend ist, wenn die nunmehr zuständige Ausländerbehörde lediglich eine andere Rechtsauffassung vertritt als die Behörde, die den Aufenthaltstitel erlassen hat. Insbesondere genügt es nicht, wenn die nunmehr zuständige Ausländerbehörde ihr Ermessen anders ausübt als die Erlassbehörde. Es ist nicht entscheidend, ob die Erteilung eines Aufenthaltstitels hätte versagt werden können. Ausschlaggebend ist vielmehr, ob die Erteilung dieses Titels - ggf. unter Ausnutzung der bestehenden Auslegungs- und Ermessensspielräume - rechtmäßig möglich war.

Tenor:

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes versagende Beschluss des Verwaltungsgerichts Oldenburg - 11. Kammer - vom 29. März 2019 geändert.

Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers vom 4. Februar 2019 (11 A 412/19) gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 22. Januar 2019 wird hinsichtlich der Rücknahme der Aufenthaltserlaubnis sowie der Aufforderung zur Vorlage und Überlassung des elektronischen Aufenthaltstitels wiederhergestellt. Hinsichtlich der Abschiebungsandrohung, der Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots sowie der Zwangsgeldandrohung wird die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet.

Dem Antragsteller wird Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren bewilligt. Rechtsanwalt B. aus B-Stadt wird zu den Bedingungen eines im Gerichtsbezirk des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts ansässigen Rechtsanwalts beigeordnet.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen. Außergerichtliche Kosten des Prozesskostenhilfeverfahrens werden nicht erstattet.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 2.500 EUR festgesetzt.

Gründe

I. Die zulässige Beschwerde des Antragstellers hat Erfolg. Die aufschiebende Wirkung seiner Klage vom 4. Februar 2019 gegen die Regelungen des Bescheids des Antragsgegners vom 22. Januar 2019 ist wiederherzustellen bzw. anzuordnen. Diese Regelungen erweisen sich bei Anwendung des im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Überprüfungsmaßstabs als rechtswidrig.

1. Die für sofort vollziehbar erklärte Rücknahme der dem Antragsteller am 20. November 2018 vom Landesamt für innere Verwaltung Mecklenburg-Vorpommern bis zum 20. Mai 2019 erteilten Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG ist rechtswidrig. Die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Rücknahme liegen nicht vor.

Nach § 1 Abs. 1 NVwVfG i.V.m. § 48 Abs. 1 VwVfG kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), darf nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 zurückgenommen werden.

Die Rechtswidrigkeit des Aufenthaltstitels vom 20. November 2018 ist nicht hinreichend erkennbar. Rechtswidrig ist ein Verwaltungsakt, dessen Inhalt mit der materiellen Rechtslage nicht in Einklang steht (vgl. BVerwG, Urt. v. 13.4.2010 - 1 C 10/09 -, juris Rn. 17; vgl. auch BVerwG, Urt. v. 12.4.2005 - 1 C 9.04 -, juris Rn. 16 ff). Nicht ausreichend ist es, wenn die nunmehr zuständige Ausländerbehörde lediglich eine andere Rechtsauffassung vertritt als die Behörde, die den Aufenthaltstitel erlassen hat. Insbesondere genügt es nicht, wenn die nunmehr zuständige Ausländerbehörde ihr Ermessen anders ausübt als die Erlassbehörde. Es ist nicht entscheidend, ob die Erteilung eines Aufenthaltstitels hätte versagt werden können. Ausschlaggebend ist vielmehr, ob die Erteilung dieses Titels - ggf. unter Ausnutzung der bestehenden Auslegungs- und Ermessensspielräume - rechtmäßig möglich war.

Im vorliegenden Fall ist das Landesamt für innere Verwaltung Mecklenburg-Vorpommern in nicht zu beanstandender Weise vom Vorliegen eines rechtlichen Ausreisehindernisses im Sinne des § 25 Abs. 5 AufenthG ausgegangen. Dabei hat es eine epileptische Erkrankung des Antragstellers und die Betreuungsbedürftigkeit seiner Ehefrau zugrunde gelegt. Der erst im Beschwerdeverfahren bekannt gewordene Umstand, dass die Betreuung der Ehefrau bereits mit Beschluss des Amtsgerichts Cloppenburg vom 3. August 2017 aufgehoben worden war, ändert daran nichts. Die Betreuung ist aufgehoben worden, weil die Ehefrau nicht zur Zusammenarbeit mit der Betreuerin bereit war. Dies sagt jedoch nichts darüber aus, ob sie im Alltag auf die Unterstützung durch Dritte angewiesen ist, wofür das im Beschwerdeverfahren übersandte Schreiben der Ehefrau spricht.

Auch der Antragsgegner hat in seinem angefochtenen Bescheid vom 22. Januar 2019 (dort S. 7, Bl. 25 der GA) trotz nach seiner Auffassung unzureichenden Nachweisen der Krankheit ausgeführt, sicherlich sei aufgrund der Erkrankung eine Betreuung der Ehefrau notwendig, jedoch verfüge diese über eine gerichtlich bestellte Betreuerin, die sich um alle Angelegenheiten kümmere, um die sie sich nicht selbst kümmern könne. Darüber hinaus lebten in Deutschland auch weitere Familienangehörige der Ehefrau, die eine ggf. notwendige Betreuung leisten könnten. Allerdings fordert Art. 6 Abs. 1 GG nicht nur, dass bei entsprechendem Bedarf überhaupt eine familiäre Betreuung ermöglicht wird (so noch Nds. OVG, Beschl. v. 6.1.2010 - 8 ME 217/09 -; VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 9.2.2004 - 11 S 1131/03 -, juris, Rn. 8 m.w.N.). Stattdessen sind die Vorschläge der betroffenen Grundrechtsträger zur aufenthaltsrechtlichen Gestaltung der familiären Bestandsgemeinschaft zu berücksichtigen (so ausdrücklich BVerfG, Beschl. v. 27.8.2010 - 2 BvR 130/10 -, juris Rn. 44), und zwar grundsätzlich ohne dass es im Falle einer Beistandsgemeinschaft unter volljährigen Familienmitgliedern für die aufenthaltsrechtlichen Schutzwirkungen des Art. 6 Abs. 1 GG darauf ankommt, ob die von einem Familienmitglied erbrachte Lebenshilfe auch von anderen Personen erbracht werden könnte (vgl. BVerfG, Beschl. v. 12.12.1989 - 2 BvR 377/88 -, NJW 1990, 895, 896). Die vom Antragsgegner in seinem angefochtenen Bescheid angesprochenen Zweifel am Bestehen einer schutzwürdigen ehelichen Lebensgemeinschaft sind im vorliegenden Verfahren nicht näher ausgeführt worden. Der mehrfache gescheiterte Versuch des Antragstellers, ein Visum zur Wiederherstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft zu erhalten und damit auf reguläre Weise ins Bundesgebiet einzureisen, spricht eher gegen derartige Zweifel. Bloß angedeutete Bedenken sind jedenfalls nicht geeignet, die Rechtswidrigkeit der Entscheidung einer anderen Behörde zu begründen.

Entgegen der signalisierten Auffassung des Verwaltungsgerichts ist die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG an einen Ehegatten auch nicht dadurch gesperrt, dass die Voraussetzungen eines Aufenthaltstitels nach § 28 Abs. 1 AufenthG nicht vorliegen. Beide Normen sind in ihren Voraussetzungen unabhängig voneinander.

Dem Landesamt für innere Verwaltung Mecklenburg-Vorpommern war auch bewusst, dass nicht alle allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 AufenthG vorlagen. Dies ist - wenn auch unvollständig - auf Bl. 461 der Verwaltungsvorgänge dokumentiert. An dieser Stelle ist handschriftlich vermerkt, dass § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG nicht erfüllt sei, jedoch lasse die Epilepsie und die Betreuung der Ehefrau eine Ausnahme von dieser Regelerteilungsvoraussetzung zu. Auf gleiche Weise lässt sich gemäß § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG auch ein Absehen von der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG im Ermessenswege rechtfertigen. Die Durchführung eines Visumverfahrens nach § 5 Abs. 2 AufenthG war als allgemeine Erteilungsvoraussetzung für den bleibeorientierten Aufenthaltstitel des § 25 Abs. 5 AufenthG von vorneherein nicht zu fordern (vgl. Senatsbeschl. v. 22.1.2019 - 13 PA 538/13 -, Umdruck S. 4). Es bleibt der nunmehr zuständigen Ausländerbehörde des Antragsgegners unbenommen, nach Ablauf der Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis am 20. Mai 2019 über deren Verlängerung unter Anstellung eigener nachvollziehbarer Ermessenserwägungen ggf. abweichend zu entscheiden.

2. Da die Ausreisepflicht aufgrund des Vorstehenden derzeit auf unabsehbare Zeit suspendiert ist, ist auch die Abschiebungsandrohung rechtswidrig geworden und daher die aufschiebende Wirkung der gegen sie gerichteten Klage anzuordnen. Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots von vier Jahren für den Fall der Abschiebung ist aus dem gleichen Grunde ebenfalls anzuordnen.

3. Hinsichtlich der für sofort vollziehbar erklärten Verpflichtung des Antragstellers, dem Antragsgegner den elektronischen Aufenthaltstitel bis zum 1. Februar 2019 vorzulegen, ist die aufschiebende Wirkung der Klage wiederherzustellen. Die Voraussetzungen für diese Maßnahme liegen nicht mehr vor. Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG ist ein Ausländer verpflichtet, seinen Aufenthaltstitel auf Verlangen den mit dem Vollzug des Ausländerrechts betrauten Behörden vorzulegen, auszuhändigen und vorübergehend zu überlassen, soweit dies zur Durchführung oder Sicherung von Maßnahmen nach dem AufenthG erforderlich ist. Die Ausreisepflicht des Antragstellers ist derzeit aber nicht vollziehbar. Es ist daher hinzunehmen, dass der Antragsteller bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens oder aber zumindest bis zu einer ggf. abweichenden ausländerrechtlichen Verlängerungsentscheidung der nunmehr zuständigen Ausländerbehörde im Besitz des Aufenthaltstitels bleibt. Da es folglich an einer vollziehbaren Verpflichtung des Antragstellers zur Vorlage und Überlassung seines Aufenthaltstitels mangelt, ist auch die Grundlage für die darauf gerichtete Zwangsgeldandrohung entfallen, so dass insoweit die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage des Antragstellers auszusprechen ist.

II. Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO. Der Antragsteller ist kostenarm, der Antrag ist nicht mutwillig und hat nach den vorstehenden Ausführungen Aussicht auf Erfolg. Die Beiordnung des Prozessbevollmächtigten des Antragstellers beruht auf § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 121 Abs. 1 ZPO.

III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die Kosten des Prozesskostenhilfeverfahrens ergibt sich aus § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 118 Abs. 1 Satz 4 ZPO.

IV. Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf den §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG und Nr. 1.5 Satz 1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (NordÖR 2014, 11).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).