Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 05.09.2019, Az.: 13 ME 278/19

Beschwerde; Freizügigkeitsrecht; schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung; Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt; vorläufiger Rechtsschutz

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
05.09.2019
Aktenzeichen
13 ME 278/19
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2019, 69995
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 31.07.2019 - AZ: 7 B 20/19

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

"Schwerwiegende Gründe" der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Sinne des § 6 Abs. 4 FreizügG/EU können sich - abhängig von den Umständen des konkreten Einzelfalls - aus der Begehung mittlerer und schwerer Straftaten ergeben.

Tenor:

I. Die Beschwerde des Antragstellers gegen den die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ablehnenden Beschluss des Verwaltungsgerichts Osnabrück - 7. Kammer - vom 31. Juli 2019 wird zurückgewiesen.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens wird auf 2.500 EUR festgesetzt.

II. Der Antrag des Antragstellers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.

Außergerichtliche Kosten des Prozesskostenhilfeverfahrens werden nicht erstattet.

Gründe

I. Die Beschwerde des Antragstellers gegen den die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes versagenden Beschluss des Verwaltungsgerichts bleibt ohne Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat es zu Recht abgelehnt, die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 23. Mai 2019 über die für sofort vollziehbare erklärte Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts, die Androhung der Abschiebung nach Polen und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf die Dauer von vier Jahren wiederherzustellen bzw. anzuordnen. Die hiergegen mit der Beschwerde geltend gemachten Gründe, auf deren Prüfung sich der Senat nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO im Beschwerdeverfahren zu beschränken hat, gebieten eine Änderung der angefochtenen erstinstanzlichen Entscheidung nicht.

1. Der Antragsteller wendet sich mit seiner Beschwerde zunächst gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, es liege ein hinreichend schwerwiegender Anlass für die Feststellung des Verlusts seines Freizügigkeitsrechts nach § 6 Abs. 4 FreizügG/EU vor. Nach dieser Bestimmung dürfe sein Aufenthalt nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung beendet werden. Das Gesetz selbst bestimme nicht, wann solche schwerwiegenden Gründe gegeben seien. Sie müssten aber jedenfalls gewichtiger sein als die Gründe im Sinne des § 6 Abs. 1 und 2 FreizügG/EU, die auch bereits erforderten, dass ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt werde. Einen Anhalt könne der Straftatenkatalog in Art. 83 Abs. 1 Unterabs. 2 AEUV bieten. Solche schwerwiegenden Gründe habe das Verwaltungsgericht in der angefochtenen Entscheidung nicht festgestellt; sie seien auch nicht gegeben.

Darüber hinaus habe das Verwaltungsgericht zu Unrecht eine hinreichende Gefahr erneuter strafrechtlicher Verfehlungen bejaht. Zur Prognose der Wiederholungsgefahr dürfe der vom Bundesverwaltungsgericht für die aufenthaltsrechtliche Ausweisung entwickelte differenzierte Wahrscheinlichkeitsmaßstab, wonach an die Wahrscheinlichkeit erneuter strafrechtlicher Verfehlungen umso geringere Anforderungen zu stellen seien, je gewichtiger die bedrohten Rechtsgüter und je größer das Schadensausmaß seien, nicht angewendet werden. Dieser Maßstab sei unionsrechtswidrig. Der Verlust des Freizügigkeitsrechts dürfe nur festgestellt werden, wenn unter Berücksichtigung aller für und gegen den Betroffenen einzustellenden Gesichtspunkte in überschaubarer Zeit ein Schaden eintreten werde. Diese Voraussetzungen seien nicht erfüllt. Die Vollzugspläne der Justizvollzugsanstalt verhielten sich nicht zur Gefahr der erneuten Begehung eines Sexualdelikts, sie bescheinigten ihm vielmehr ein beanstandungsfreies Vollzugsverhalten und mangelnde schädliche Folgen der Inhaftierung. Gegenüber seiner Ehefrau könne er nicht erneut übergriffig werden, da diese nach Polen ausgereist sei. Auch in der Vergangenheit habe er kein Sexualdelikt begangen. Eine andere Bewertung sei auch nicht angesichts des im strafgerichtlichen Verfahren eingeholten Sachverständigengutachtens geboten, das "aufgrund des Alkoholeinflusses von kriminologischen Effekten" ausgehe. Denn dies betreffe nicht das Delikt, wegen dessen er inhaftiert sei.

Diese Einwände greifen nicht durch.

Der Verlust des Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU kann gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit festgestellt werden. Soll die Verlustfeststellung gegenüber einem Unionsbürger oder Familienangehörigen erfolgen, der - wie der Antragsteller - ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a FreizügG/EU erworben hat, müssen die Gründe gemäß § 6 Abs. 4 FreizügG/EU schwerwiegend sein. Soll die Verlustfeststellung gegenüber einem Unionsbürger oder Familienangehörigen erfolgen, der seinen Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Bundesgebiet hatte oder der minderjährig ist, erfordert dies gemäß § 6 Abs. 5 FreizügG/EU zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit, die nur dann vorliegen können, wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt oder bei der letzten rechtskräftigen Verurteilung Sicherungsverwahrung angeordnet wurde, wenn die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland betroffen ist oder wenn vom Betroffenen eine terroristische Gefahr ausgeht. Diese - zur Umsetzung des Art. 28 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, - Freizügigkeitsrichtlinie - (ABl. L 158 v. 30.4.2004, S. 77), zuletzt geändert durch Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (ABl. L 141 v. 27.5.2011, S. 1), gewählte - Normsystematik zeigt, dass der Schutz vor dem Verlust des Freizügigkeitsrechts anknüpfend an den Grad der Integration des betroffenen Unionsbürgers oder Familienangehörigen im Aufnahmemitgliedstaat stufenweise zunimmt (vgl. EuGH, Urt. v. 17.4.2018 - C-316/16 und C-424/16 -, juris Rn. 48).

Nach § 6 Abs. 2 FreizügG/EU genügt zur Begründung einer Verlustfeststellung die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung für sich allein zudem noch nicht. Es dürfen vielmehr nur im Bundeszentralregister noch nicht getilgte strafrechtliche Verurteilungen und diese nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihnen zu Grunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. Es muss eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Dieser Maßstab verweist - anders als der Begriff der Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im deutschen Polizeirecht - nicht auf die Gesamtheit aller Rechtsnormen, sondern auf einen spezifischen Rechtsgüterschutz, nämlich ein Grundinteresse der Gesellschaft, das berührt sein muss. Eine strafrechtliche Verurteilung kann eine Verlustfeststellung nur insoweit rechtfertigen, als die ihr zugrundeliegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt (vgl. EuGH, Urt. v. 17.4.2018, a.a.O., Rn. 92 f.; Urt. v. 29.4.2004 - C-482/01 und C-493/01 -, DVBl. 2004, 876, Rn. 67 m.w.N.). Die Gefährdung kann sich im Einzelfall auch allein aufgrund des abgeurteilten Verhaltens ergeben (vgl. EuGH, Urt. v. 27.10.1977 - Rs. 30/77 - (Bouchereau), NJW 1978, 479, Rn. 30; BVerwG, Beschl. v. 7.12.1999 - BVerwG 1 C 13.99 -, BVerwGE 110, 140, 146; Urt. v. 27.10.1978 - BVerwG I C 91.76 -, BVerwGE 57, 61, 65 f.). Es besteht aber keine dahingehende Regel, dass bei schwerwiegenden Taten das abgeurteilte Verhalten die hinreichende Besorgnis neuer Verfehlungen begründet (vgl. BVerwG, Beschl. v. 30.6.1998 - BVerwG 1 C 27.95 -, InfAuslR 1999, 59). Eine vom Einzelfall losgelöste oder auf generalpräventive Gesichtspunkte gestützte Begründung der Verlustfeststellung ist in jedem Fall unzulässig (vgl. EuGH, Urt. v. 26.2.1975 - Rs. 67/74 - (Bonsignore), Slg. 1975, 297). Ob die Begehung einer Straftat nach deren Art und Schwere (vgl. auch EuGH, Urt. v. 29.4.2004, a.a.O., Rn. 99) ein persönliches Verhalten erkennen lässt, dass ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, kann ebenfalls nur aufgrund der Umstände des Einzelfalles beurteilt werden. Erforderlich und ausschlaggebend ist die unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Bewertung des persönlichen Verhaltens des Unionsbürgers und die insoweit anzustellende aktuelle Gefährdungsprognose (vgl. BVerwG, Urt. v. 3.8.2004 - BVerwG 1 C 30.02 -, juris Rn. 25; Bayerischer VGH, Beschl. v. 22.10.2012 - 10 ZB 12.1655 -, juris Rn. 4 f.). Das Erfordernis einer gegenwärtigen Gefährdung der öffentlichen Ordnung besagt aber nicht, dass eine "gegenwärtige Gefahr" im Sinne des deutschen Polizeirechts vorliegen müsste, die voraussetzt, dass der Eintritt des Schadens sofort und nahezu mit Gewissheit zu erwarten ist. Es verlangt vielmehr eine hinreichende - unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit nach dem Ausmaß des möglichen Schadens differenzierende - Wahrscheinlichkeit, dass der Ausländer künftig die öffentliche Ordnung im europarechtlichen Sinne beeinträchtigen wird (vgl. Senatsurt. v. 11.7.2018 - 13 LB 50/17 -, juris Rn. 43). Ob eine Wiederholungsgefahr in diesem Sinne besteht, kann nur aufgrund einer individuellen Würdigung der Umstände des Einzelfalles beurteilt werden. Zu prüfen ist u.a., ob eine etwaige Verbüßung der Strafe erwarten lässt, dass der Unionsbürger künftig keine die öffentliche Ordnung gefährdenden Straftaten mehr begehen wird (vgl. wiederum: BVerwG, Urt. v. 3.8.2004, a.a.O., Rn. 26, m.w.N.).

a. Hieran gemessen hat das Verwaltungsgericht zunächst zutreffend schwerwiegende Gründe der öffentlichen Ordnung im Sinne des § 6 Abs. 4 FreizügG/EU angenommen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühren und die Fernhaltung des Antragstellers vom Bundesgebiet erfordern (Beschl. v. 31.7.2019, Umdruck S. 6 f.):

"Die grundrechtlich geschützten Rechtsgüter der sexuellen Selbstbestimmung und der körperlichen Unversehrtheit des Menschen sind überragend wichtige Gemeinschaftsgüter (vgl. auch Art. 83 Abs. 1 UA 2 AEUV). Auch wiegt das Ausmaß der vom Antragsteller bei seinen Taten zu Tage getretenen Gewaltbereitschaft schwer; sein persönliches Verhalten stellte und stellt nach prognostischer Beurteilung auch gegenwärtig noch eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr dar, die ein Grundinteresse der Gesellschaft, nämlich den verfassungsrechtlich gebotenen staatlichen Schutz der überragend wichtigen Gemeinschaftsgüter so erheblich berührt, dass schwerwiegende Gründe für eine Verlustfeststellung gegeben sind.

Ausweislich der beiden im Strafurteil 6b Ls 410 Js 16775/15 (9/16) eingehend dargelegten und vom Strafgericht als schwere Vergewaltigung bzw. als Körperverletzung in Tateinheit mit Nötigung gewürdigten Lebenssachverhalte ist davon auszugehen, dass der Antragsteller charakterlich von einer Neigung zu rücksichtsloser Gewaltanwendung geprägt ist und dabei zur Brechung entgegenstehenden Willens seines Opfers diesem durch brutale körperliche Gewalt erheblich körperliche wie auch psychische Verletzungen zufügt. Seine Missachtung der persönlichen Integrität und des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung seiner damaligen Frau war dabei getragen von der selbstherrlichen Annahme eines aufgrund der Ehe bestehenden 'Rechts' auf Beischlaf (Abschnitt 'Strafsachen' des Verwaltungsvorgangs, Seite 6 des Urteilsabdrucks: 'Ich nehme es mit Gewalt, was mir zusteht.', 'Du bist meine Frau, du musst mir deinen Arsch geben.'). Dabei wird eine zunehmende Eskalation der Gewaltanwendung des Antragstellers erkennbar. Während sich der Antragsteller bei der als schwere Vergewaltigung gewürdigten Tat noch auf die Gewaltanwendung durch Einsatz einer Decke und gegen die Bekleidung seines Opfers beschränkte, folgte das als Körperverletzung geahndete Tatgeschehen, bei dem der Antragsteller seine Frau in Anwesenheit Dritter schlug und trat und sie durch Zerreißen ihrer Oberbekleidung auch sexuell demütigte. Eine gesteigerte Anwendung brutaler körperlicher Gewalt bestimmte das spätere, als Nötigung in Tateinheit mit Körperverletzung gewürdigte Tatgeschehen. Die von ihm vorgenommene Aufzeichnung eines Videos des tatrichterlich als Vergewaltigung gewürdigten Geschehens spricht ebenfalls für eine charakterliche Veranlagung des Antragstellers, andere unter Missachtung ihrer Menschenwürde und Persönlichkeitsrechte sexuell zu demütigen, sie bloßzustellen und ihnen die angemaßte Herrschaftsgewalt rücksichtslos zu demonstrieren. Auch spielt es keine Rolle, zu welchem - nicht näher aufgeklärten - Zweck der Antragsteller das Video aufzeichnen wollte, da bereits von dessen Existenz und der bloßen Weitergabemöglichkeit eine erhebliche psychische Zwangswirkung für das Vergewaltigungsopfer ausging. Dass sich die Neigung des Antragstellers zur Anwendung brutaler Gewalt auch ohne erkennbare sexuelle Motivation gegen weitere Personen seines persönlichen Umfelds richtet, belegt das strafrechtlich als vorsätzliche Körperverletzung geahndete Schlagen seines 11-jährigen Sohnes mit einem Gürtel."

Der Senat macht sich diese Ausführungen in der angefochtenen Entscheidung zu Eigen (§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO). Die widerstreitende Auffassung der Beschwerde, "schwerwiegende Gründe" im Sinne des § 6 Abs. 4 FreizügG/EU könnten nur bei der Begehung von Straftaten nach dem Katalog des Art. 83 Abs. 1 Unterabs. 2 AEUV oder ähnlich schwerwiegenden Straftaten gegeben sein, teilt der Senat nicht. Die im Katalog des Art. 83 Abs. 1 Unterabs. 2 AEUV genannten Straftaten bieten vielmehr einen Anhaltspunkt für das Vorliegen "zwingender Gründe" im Sinne des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU (vgl. Senatsurt. v. 11.7.2018, a.a.O. Rn. 50 ff.). Ausgehend von dem abgestuften System der Absätze 1, 4 und 5 des § 6 FreizügG/EU ist der Begriff der "zwingenden Gründe" im Sinne des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU aber erheblich enger als der der "schwerwiegenden Gründe" im Sinne des § 6 Abs. 4 FreizügG/EU (so ausdrücklich EuGH, Urt. v. 23.11.2010 - C-145/09 - (Tsakouridis), juris Rn. 40). Dies legt es nahe, dass sich schwerwiegende Gründe im Sinne des § 6 Abs. 4 FreizügG/EU - abhängig von den Umständen des konkreten Einzelfalls - auch schon aus der Begehung mittlerer und schwerer Straftaten ergeben können (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, FreizügG/EU, § 6 Rn. 68 (Stand: März 2017); vgl. auch Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, FreizügG/EU § 6 Rn. 51, die schwerwiegende Gründe schon bei der Begehung von Verbrechen oder schweren Vergehen annehmen). Diese Deliktsschwere erreicht die vom Antragsteller begangene schwere Vergewaltigung nach § 177 Abs. 3 Nr. 2 StGB a.F., der eine Mindestfreiheitsstrafe von drei Jahren vorsah. Diese Gewichtung wird durch die aufgezeigten konkreten Umstände der Tatbegehung gestützt und auch nicht dadurch infrage gestellt, dass das Strafgericht im Rahmen der Strafzumessung einen minderschweren Fall angenommen hat (vgl. AG Leer, Urt. v. 9.11.2016, Umdruck S. 12 f.).

b. Auch die darüberhinausgehende Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts ist nicht zu beanstanden. Das Verwaltungsgericht hat anhand des aufgezeigten Maßstabs unter Berücksichtigung des persönlichen Verhaltens des Antragstellers und aller sonst erkennbaren Umstände des konkreten Einzelfalls zutreffend festgestellt, dass eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung zu besorgen ist (Beschl. v. 31.7.2019, Umdruck S. 7 f.):

"Diese erkennbare charakterliche Veranlagung des Antragstellers begründet die Annahme seiner Neigung, derartiges Verhalten auch in Zukunft zu zeigen, weshalb prognostisch zu befürchten steht, dass er auch künftig - jedenfalls in seinem persönlichen Umfeld - geschützte Rechtsgüter anderer missachten und seine Interessen gewaltsam verfolgen wird. Für eine positive Änderung seiner innerlichen Einstellung sind - abgesehen von seinen unsubstantiierten verbalen Beteuerungen im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren insbesondere mit Schreiben vom 6.6.2019 (Abschnitt 'Verlustfeststellung' des Verwaltungsvorgangs) - keine belastbaren Anhaltspunkte erkennbar.

Vielmehr lässt sein Schreiben vom 6.6.2019 die ihm auch seitens der Justizvollzugsanstalt attestierte fehlende Aufarbeitungsbereitschaft erkennen, wenn der Antragsteller seine subjektive Bewertung seines Verhaltens darlegt und dazu ausführt, er habe sich 'bis auf dieses eine Mal ... nie etwas zu Schulden kommen lassen' und sei 'für meine Familie da' gewesen. Seine Verantwortung selbst 'für dieses eine Mal' nivelliert er sodann, indem er seine Alkoholprobleme als 'Hauptproblem ... für meine Straftat' begreift und in den Vordergrund stellt, ohne seine charakterliche Neigung zu rücksichtsloser Gewalt einzugestehen. Im Vollzugsplan vom 19.2.2019 gelangt die Justizvollzugsanstalt trotz eines innervollzuglich beanstandungsfreien Verhaltens des Antragstellers zu einer ungünstigen Prognose, weil 'eine Aufarbeitung der Taten ... bislang nicht stattgefunden' hat. Der Antragsteller sei nicht einmal bereit, seine für eine intensive Behandlung unzureichenden Deutschkenntnisse zu verbessern und an einem ihm angebotenen Integrations- und Deutschkurs teilzunehmen. Demzufolge konstatiert der Vollzugs-plan, eine Bearbeitung der Alkohol- und Gewaltproblematik sei 'bis dato nicht ansatzweise erfolgt' und gelangt zu der Einschätzung, es sei bei offenem Vollzug zu befürchten, dass sich der Antragsteller dem weiteren Vollzug entziehe oder den offenen Vollzug zu Straftaten missbrauche (so bereits im Wesentlichen gleichlautend der Vollzugsplan vom 21.8.2018). Angesichts dessen ist die Behauptung des Antragstellers, er habe sein Alkoholproblem 'eingesehen' und er sei 'auch in Gesprächen für eine Therapie nach der Haft' zumal wegen fehlender Substantiierung nicht glaubhaft, sondern eine verfahrensbezogene Schutzbehauptung. Mit den tatrichterlichen Feststellungen bezüglich der Relevanz der erheblichen Alkoholisierung des Antragstellers während der Tatbegehungen geht die im Vollzugsplan der Justizvollzugsanstalt A-Stadt vom 19.2.2019 wiedergegebene gutachtliche Einschätzung des Dr. D. konform, wonach beim Antragsteller 'ein deutlich erhöhtes Risiko für neuerliche innerfamilliäre Gewaltstraftaten' sowie eine 'Alkoholabhängigkeit' besteht, die 'bei ihm wegen der damit verbundenen leicht zu Aggression führenden Intoxikationszustände einen kriminogenen Faktor' darstellt (so laut Beschluss des OLG Oldenburg - 1 Ws 128/19 - vom 3.4.2019 und des Vollzugsplans der Justizvollzugsanstalt vom 19.2.2019). Die ausgeprägte Alkoholproblematik belegt auch die strafrechtlich geahndete Trunkenheitsfahrt des Antragstellers auf einem motorisierten Zweirad (Kleinkraftrad) mit immerhin 1,62 ‰. Die ihm insoweit ausweislich der Vollzugspläne wiederholt empfohlene Bearbeitung der Gewalt- und Alkoholproblematik mit vorangehendem Erwerb ausreichender Sprachkenntnisse ist der Antragsteller indes nicht gefolgt.

Demzufolge lassen sich diese Gesamtumstände nur so verstehen, dass dem Antragsteller ausschließlich an einer möglichst unveränderten Wiederaufnahme seines Lebens vor der Haft gelegen ist und er eine grundlegende Verhaltensänderung nicht erstrebt. Es ist insbesondere auch kein Ansatz dafür erkennbar, wie der Antragsteller seine Alkoholabhängigkeit beherrschen lernen will. All dies begründet - in Übereinstimmung mit der Einschätzung des Vollzugsplans - die große Wahrscheinlichkeit künftiger weiterer erheblicher Gewaltstraftaten, weshalb eine erhebliche Wiederholungsgefahr für hochrangige Rechtsgüter insbesondere hinsichtlich solcher Personen besteht, die sich in ein persönliches Näheverhältnis zum Antragsteller begeben. Eine vergleichbare prognostische Einschätzung liegt auch dem Beschluss des OLG Oldenburg - 1 Ws 128/19 - vom 3.4.2019 zugrunde, dessen Ausführungen sich die Kammer insoweit zu eigen macht. Allein die voraussichtliche Wiederbeschäftigung bei seinem früheren Arbeitgeber und die - wohl vorübergehende - Aufnahme durch seinen Bruder zwecks Wohnungssuche sprechen nicht maßgeblich gegen die Annahme einer Wiederholungsgefahr, zumal beides in Übereinstimmung damit steht, dass der Antragsteller unverändert an sein früheres Leben anknüpfen will.

Die nach tatrichterlichen Feststellungen gegebenen strafrechtlichen Milderungsgründe knüpfen an Umstände an, die der prognostizierten Wiederholungsgefahr nicht entgegenstehen bzw. wie die Alkoholabhängigkeit oder eine möglicherweise motivbegleitende Eifersucht insoweit ambivalent - einerseits strafmildernd, andererseits gefahrerhöhend - zu würdigen sind, weil es dem Antragsteller an der Einsichtsfähigkeit und Bereitschaft zur Verhaltensänderung mangelt. Auch der tatrichterlich bejahte strafbefrei-ende Rücktritt von der versuchten Vergewaltigung (Seite 14 des Urteilsabdrucks) war von als zufällig zu wertenden Besonderheiten dieser Tatsituation geprägt (weinende Tochter) und mindert die Wiederholungsgefahr nicht."

Das hierauf bezogene Beschwerdevorbringen genügt schon den Darlegungsanforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO nicht, wonach sich der Beschwerdeführer auf der Grundlage einer eigenständigen Sichtung und Durchdringung des Prozessstoffes qualifiziert, ins Einzelne gehend und fallbezogen mit der angefochtenen erstinstanzlichen Entscheidung befassen und für das Beschwerdegericht nachvollziehbar aufzeigen muss, dass und warum die angefochtene Entscheidung unrichtig und im Ergebnis aufzuheben oder zu ändern ist (vgl. zu den Darlegungsanforderungen im Einzelnen: Senatsbeschl. v. 25.7.2014 - 13 ME 97/14 -, NordÖR 2014, 502 f. m.w.N.). Hierfür genügen die vom Antragsteller mit der Beschwerde gegebenen Hinweise auf ein beanstandungsfreies Vollzugsverhalten, ein einmaliges Fehlverhalten und eine Ausreise seiner Ehefrau ersichtlich nicht.

2. Die Beschwerde macht weiter geltend, das private Interesse des Antragstellers am Verbleib im Bundesgebiet überwiege ein öffentliches Interesse an der Aufenthaltsbeendigung. Er beherrsche die deutsche Sprache, habe auch während des Vollzugs regelmäßigen Kontakt zu seiner Familie und könne nach der Haftentlassung wieder bei einem Garten- und Landschaftsbaubetrieb arbeiten.

Auch diese Einwände greifen nicht durch.

Die Rechtmäßigkeit der Verlustfeststellung gemäß § 6 Abs. 1 FreizügG/EU hängt zwar davon ab, dass das öffentliche Interesse am Schutz der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit das private Interesse des Unionsbürgers an seinem Verbleib im Bundesgebiet deutlich überwiegt (vgl. BVerwG, Urt. v. 3.8.2004, a.a.O., Rn. 27). Diese Abwägung hat die Ausländerbehörde im Rahmen der in jedem Falle gebotenen Ermessensentscheidung vorzunehmen. Bei der Prüfung, wo der angemessene Ausgleich zwischen den betroffenen berechtigten Interessen jeweils liegt, ist stets die besondere Rechtsstellung der vom Gemeinschaftsrecht privilegierten Personen und die besondere Bedeutung des Grundsatzes der Freizügigkeit zu berücksichtigen (vgl. EuGH, Urt. v. 29.4.2004, a.a.O., Rn. 96). Wie bei jeder Ermessensentscheidung ist bei der Interessenabwägung außerdem den Grundrechten Rechnung zu tragen (vgl. EuGH, Urt. v. 29.4.2004, a.a.O., Rn. 97). Die dem Gemeinschaftsrecht immanenten Grundrechte wirken auf die Schranken ein, denen die gemeinschaftsrechtliche Arbeitnehmerfreizügigkeit unterliegt (vgl. BVerwG, Beschl. v. 15.5.1990 - BVerwG 1 B 64.90 -, juris Rn. 5). Neben den verfassungsrechtlich gewährleisteten Grundrechten haben insoweit die in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten verankerten Grundrechte, die nach Art. 6 Abs. 2 des Vertrages über die Europäische Union von dieser zu achten sind, eine besondere Bedeutung. Namentlich der nach Art. 6 GG und Art. 8 EMRK garantierte Schutz des Familienlebens ist zugunsten des Unionsbürgers zu beachten. Bei der Beurteilung, ob der beabsichtigte Eingriff in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten Ziel, dem Schutz der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit, steht, sind bei der Verlustfeststellung wie bei der Ausweisung eines Straftäters insbesondere Art und Schwere der begangenen Straftat, die Dauer seines Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat, die Zeit, die seit der Begehung der Straftat verstrichen ist, die familiäre Situation des Betroffenen und das Ausmaß der Schwierigkeiten zu berücksichtigen, denen er, sein Ehegatte und - gegebenenfalls - seine Kinder im Herkunftsland begegnen können (vgl. EuGH, Urt. v. 29.4.2004, a.a.O., Rn. 98 f. und ferner BVerfG, Beschl. v. 1.3.2004 - 2 BvR 1570/03 -, EuGRZ 2004, 317; BVerwG, Beschl. v. 22.2.1993 - BVerwG 1 B 7.93 -, Buchholz 402.26 § 12 AufenthG/EWG Nr. 9; EGMR, Urt. v. 31.10.2002 - 37295/97 - (Yildiz), InfAuslR 2003, 126).

Diesem Maßstab genügend hat das Verwaltungsgericht zu Recht angenommen, der Ermessensentscheidung des Antragsgegners hafteten nach § 114 Satz 1 VwGO relevante Fehler nicht an. Das private Bleibeinteresse des Antragstellers wird von dem widerstreitenden Interesse am Schutz der öffentlichen Ordnung überwogen. Dabei hat der Antragsgegner auch die mit der Beschwerde hervorgehobenen, sein Bleibeinteresse tragenden Umstände hinreichend berücksichtigt (vgl. Beschl. v. 31.7.2019, Umdruck S. 10 f., Bescheid v. 23.5.2019, S. 8 ff.). Der Schutz im Bundesgebiet gelebter familiärer Beziehungen nach Art. 6 GG und Art. 8 EMRK bezieht sich nur auf das Verhältnis des Antragstellers zu seinem volljährigen Bruder, denn die frühere Ehefrau und die Kinder des Antragstellers sind zwischenzeitlich nach Polen ausgereist. Der familiären Beziehung des Antragstellers zu seinem Bruder kommt, da keiner der beiden zwingend auf die nur im Bundesgebiet zu erbringende Lebenshilfe des jeweils anderen angewiesen ist (vgl. zu diesem Aspekt: BVerfG, Beschl. v. 25.10.1995 - 2 BvR 901/95 -, NVwZ 1996, 1099; Beschl. v. 12.12.1989 - 2 BvR 377/88 -, NJW 1990, 895, 986; Senatsbeschl. v. 9.8.2017 - 13 ME 167/17 -, juris Rn. 18 m.w.N.), nur ein geringes Gewicht zu und ist daher nicht geeignet, das schwerwiegende Interesse am Schutz der öffentlichen Ordnung zu überwiegen. Gleiches gilt für das nach Art. 8 EMRK geschützte Privatleben, das der Antragsteller im Bundesgebiet führt. Dieses vermittelt seinem Bleibeinteresse angesichts der Aufenthaltsdauer von zehn Jahren und der in dieser Zeit ausgeübten Berufstätigkeit ein gewisses Gewicht. Seine grundlegende Sozialisation hat er indes in Polen erlangt, wo er bis zu seinem 26. Lebensjahr gelebt hat. Das Gewicht des im Bundesgebiet geführten Privatlebens wird auch durch die mangelnden Kenntnisse der deutschen Sprache als einer wesentlichen Voraussetzung für die Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse in sozialer Hinsicht herabgesetzt. Die Behauptung des Antragstellers, er beherrsche die deutsche Sprache, ist für den Senat nicht glaubhaft. Der Antragsteller benötigte während der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht Leer am 9. November 2016 einen Dolmetscher (vgl. Protokoll der Hauptverhandlung, dort S. 2 f.). Die Justizvollzugsanstalt A-Stadt bescheinigte dem Antragsteller noch Anfang 2019, dass seine Deutschkenntnisse für eine therapeutische Behandlung nicht ausreichend seien und dass er der Empfehlung zur Teilnahme am Integrations- und Deutschkurs bisher nicht gefolgt sei (vgl. Vollzugsplan v. 19.2.2019, dort S. 2). Das so gewichtete private Bleibeinteresse wird auch insoweit von dem schwerwiegenden Interesse am Schutz der öffentlichen Ordnung überwogen.

Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung für das Beschwerdeverfahren beruht auf §§ 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG und ist angelehnt an Nrn. 8.2 und 1.5 Satz 1 Halbsatz 1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (NordÖR 2014, 11).

II. Der sinngemäß gestellte Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren ist abzulehnen.

Der Beschwerde kommt auch nach der im Prozesskostenhilfeverfahren nur vorzunehmenden summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage (vgl. BVerfG, Beschl. v. 26.2.2007 - 1 BvR 474/05 -, NVwZ-RR 2007, 361, 362) unter Berücksichtigung des Zwecks der Prozesskostenhilfebewilligung die gemäß § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO erforderliche hinreichende Erfolgsaussicht nicht zu (vgl. zu im Hauptsacheverfahren einerseits und im Prozesskostenhilfeverfahren andererseits anzulegenden unterschiedlichen Maßstäben: BVerfG, Beschl. v. 8.7.2016 - 2 BvR 2231/13 -, juris Rn. 10 ff. m.w.N).

Die Entscheidung über die Kosten des Prozesskostenhilfeverfahrens folgt aus § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 118 Abs. 1 Satz 4 ZPO.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).