Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 26.09.2019, Az.: 2 ME 640/19

Aufmerksamkeitsdefizit; Beeinträchtigung des Schulbetriebs; Hausunterricht; Hyperkinetisches Syndrom; längerfristige Erkrankung; psychische Beeinträchtigung; Schulbesuchspflicht; Schulrecht; Unrterricht zu Hause; vorläufiger Rechtsschutz

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
26.09.2019
Aktenzeichen
2 ME 640/19
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2019, 70025
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 13.08.2019 - AZ: 6 B 3512/19

Fundstellen

  • DÖV 2020, 35
  • NordÖR 2019, 597-599
  • SchuR 2020, 108-110
  • SchuR 2021, 123
  • SchuR 2022, 81-82
  • SchuR 2023, 91

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Es besteht kein schulrechtlicher Anspruch auf Hausunterricht - hier nach § 69 Abs. 1 Nds. Schulgesetz (NSchG) -, wenn der angestrebte Unterricht nicht dem Ausgleich der durch eine längerfristige Erkrankung bedingten Unmöglichkeit des Besuchs der Schule dient, sondern der Hausunterricht den Zweck verfolgt, eine durch eine psychische Störung bedingte wesentliche Beeinträchtigung der Fähigkeit des Schülers bzw. der Schülerin, am Unterricht teilzunehmen und diesem zu folgen, auszugleichen.

Tenor:

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover - 6. Kammer - vom 13. August 2019 wird zurückgewiesen.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 5.000 EUR festgesetzt.

Gründe

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts, mit dem das Gericht seinen sinngemäßen Antrag, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig zu verpflichten, ihm mindestens sechs Stunden Hausunterricht wöchentlich in den Fächern Englisch, Mathematik und Deutsch zu erteilen, abgelehnt hat, hat keinen Erfolg.

Das Verwaltungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, der Antragsteller habe einen Anordnungsanspruch auf die vorläufige Erteilung eines krankheitsbedingten Unterrichts zu Hause nicht glaubhaft gemacht. Der im Mai 2010 geborene Antragsteller habe nicht glaubhaft gemacht, dass er aufgrund einer Erkrankung schulunfähig sei. Zwar habe er die Stellungnahme einer Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie vom 13. Dezember 2016 vorgelegt, nach der er an einem Hyperkinetischen Syndrom mit Störung des Sozialverhaltens im Kindesalter und an einer Wahrnehmungsstörung sowie an einer geringen Konzentrationsspanne leide. Die vorgelegte fachärztliche Stellungnahme sei aber mehr als zwei Jahre alt und mithin nicht geeignet, Auskunft über den aktuellen Gesundheitszustand des Antragstellers zu geben. Zudem sei nicht glaubhaft, dass der Antragsteller infolge seiner Erkrankung tatsächlich schulunfähig sei. Die dazu vorgelegte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erstrecke sich nur auf den Zeitraum bis einschließlich 3. Juli 2019. Zudem stehe die Gewährung des Hausunterrichts im Ermessen der Antragsgegnerin und eine für den Anordnungsanspruch notwendige Ermessensreduzierung auf Null liege nicht vor. Gegen eine entsprechende Ermessensreduzierung spreche bereits die Stellungnahme der Schulleiterin vom 6. August 2019, wonach die Erteilung von Hausunterricht bei der bestehenden psychischen Beeinträchtigung des Antragstellers ungeeignet sei und seine bedarfsgerechte Beschulung in der Förderschule auf der D. in E. erfolgen könne.

Die dagegen erhobene Beschwerde, mit dem Antrag,

unter Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts vom 13. August 2019 die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller vorläufig bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache mindestens sechs Stunden Hausunterricht in den Fächern Englisch, Mathematik und Deutsch unter der Adresse, A-Straße, A-Stadt zu erteilen,

bleibt ohne Erfolg.

Das Beschwerdevorbringen, auf das sich die Prüfung des Senats beschränkt (§ 146 Abs. S. 6 VwGO), führt nicht zur Änderung der Entscheidung des Verwaltungsgerichts. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 Abs. 1 VwGO setzt sowohl die Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs als auch die Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes voraus (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2, § 294 ZPO). Daran fehlt es hier.

Der Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung scheitert indes nicht daran, dass der Antragsteller - wie die Antragsgegnerin meint - im Verwaltungsverfahren noch keinen förmlichen Antrag auf die Erteilung von Hausunterricht gestellt hat und deshalb, das für die Zulässigkeit des Antrags erforderliche berechtigte Interesse an der Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes fehlt. Bei dem Verfahren auf Erteilung von Hausunterricht handelt es sich um ein nichtförmliches Verwaltungsverfahren, das nicht an eine bestimmte Form gebunden ist und mangels ausdrücklicher Regelung auch keinen förmlichen Antrag erfordert (vgl. § 2 Abs. 3 Nr. 3 NVwVG i.V.m. § 10 VwVfG). Der das Verwaltungsverfahren (vgl. § 2 Abs. 3 Nr. 3 NVwVG i.V.m. § 9 VwVfG) einleitende Antrag kann daher schriftlich, mündlich oder durch schlüssiges Handeln gestellt werden.

Zwar hat der Antragsteller die Erteilung von Hausunterricht nicht ausdrücklich schriftlich beantragt. Aufgrund der Gesamtumstände des Verfahrens, namentlich des Gesprächs zwischen der Vertreterin der Landesschulbehörde, der behandelnden Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und dem Antragsteller am 25. März 2019 und der darauffolgenden unter dem Betreff „Hausunterricht“ formulierten Anfrage des Antragstellers, war aber jedenfalls im Zeitpunkt der ablehnenden Entscheidung der Antragsgegnerin vom 27. März 2019 von einer entsprechenden Antragstellung auszugehen. Darauf, dass der Antragsteller gegen die ablehnende Entscheidung bislang noch keinen förmlichen Widerspruch erhoben hat, kommt es nicht an, denn der ablehnende Bescheid enthält keine Rechtsbehelfsbelehrung, so dass für die Erhebung des Widerspruchs die Jahresfrist gilt (§ 58 Abs. 2 VwGO).

Der Antragsteller hat aber auch im Beschwerdeverfahren einen Anordnungsanspruch gegenüber der Antragsgegnerin auf die vorläufige Erteilung von Hausunterricht nicht dargelegt. Nach § 69 Abs. 1 des Niedersächsischen Schulgesetzes (NSchG) in der Fassung vom 3. März 1998, zuletzt geändert durch Artikel 15 des Gesetzes vom 16. Mai 2018 (Nds. GVBl. S. 66), soll Schülerinnen und Schüler, die infolge einer längerfristigen Erkrankung die Schule nicht besuchen können, Unterricht zu Hause oder im Krankenhaus in angemessenem Umfang erteilt werden. Die Regelung verlangt die Feststellung einer längerfristigen Erkrankung, die dazu führt, dass der Schüler bzw. die Schülerin gehindert ist, die Schule zu besuchen. Damit erfasst die Norm typischerweise diejenigen Fälle, in denen Schülerinnen und Schüler auf Grund einer Erkrankung für längere Zeit oder in regelmäßigen Abständen zu Hause oder im Krankenhaus einschließlich der Abteilungen für Kinder- und Jugendpsychiatrie oder in ähnlichen Einrichtungen stationär behandelt werden und die Schule deshalb nicht besuchen können (vgl. auch RdErl. des MK, Sonderpädagogische Förderung vom 1.2.2005 (SVBl 2005, S. 49)). Im Kern dient die Regelung dem Schutz des Rechts auf Bildung (§ 54 NSchG) und der Sicherung der Erfüllung der Schulpflicht in besonderen Lebenssituationen. Denn grundsätzlich ist die Schulpflicht eine Schulbesuchspflicht, d.h. eine Pflicht die Schule aufzusuchen und am dortigen Schulunterricht teilzunehmen (vgl. § 63 NSchG). § 69 Abs. 1 NSchG bestimmt hiervon eine Ausnahme für Schülerinnen und Schülern, die zwar dem Grunde nach - und ggf. unter Inanspruchnahme sonderpädagogischen Förderbedarfs - fähig sind, dem Unterricht zu folgen, die aber aufgrund der Umstände ihrer Erkrankung über einen längeren Zeitraum nicht in der Lage sind, ihrer Schulbesuchspflicht nachzukommen. Ein solcher Fall liegt aber hier nicht vor.

Es kann offenbleiben, ob die mehr als zweieinhalb Jahre alte fachärztliche Stellungnahme vom 13. Dezember 2016 geeignet ist, den aktuellen Gesundheitszustand des Antragstellers darzulegen und glaubhaft zu machen. Selbst wenn zugunsten des Antragstellers unterstellt wird, dass die darin diagnostizierte Beeinträchtigung „Hyperkinetisches Syndrom mit Störung des Sozialverhaltens im Kindesalter (F90.1 (G)) mit Wahrnehmungsstörung und geringerer Konzentrationsspanne (R44.8 (G))“ unverändert fortbesteht, ist nicht ersichtlich, dass der Antragsteller infolge dieser Erkrankung im Sinne des § 69 Abs. 1 NSchG gehindert ist, eine Schule zu besuchen. Die diagnostizierte Beeinträchtigung und ihre Auswirkungen im alltäglichen Leben, hindern ihn dem Grunde nach nicht daran, zur Schule zu gehen. Denn diese Beeinträchtigung „Hyperkinetisches Syndrom mit Störung des Sozialverhaltens im Kindesalter (F90.1 (G)) mit Wahrnehmungsstörung und geringerer Konzentrationsspanne (R44.8 (G))“ die bei dem Antragsteller nach dem vorgelegten Auszug aus dem Fördergutachten vom 4. September 2018 bereits im Januar 2015 diagnostiziert wurde, hat den Antragsteller bis zu seinem letzten Schulausschluss vom 19. Dezember 2018 bis 30. Januar 2019 (vgl. Verfügung der Schulleiterin vom 18. Dezember 2018) nicht gehindert, zur Schule zu gehen.

Grund dafür, dass der Antragsteller seit seinem letzten Schulausschluss und nunmehr mehr als acht Monaten nicht mehr zur Schule geht, ist vielmehr der Umstand, dass er infolge der mit seiner psychischen Beeinträchtigung einhergehenden problematischen Verhaltensweisen - auch unter Inanspruchnahme sonderpädagogischer Unterstützung durch seine Schulbegleiterin - augenscheinlich nur noch eingeschränkt in der Lage ist, an dem geordneten Unterricht seiner Grundschule teilzunehmen und ihm zu folgen. In dem Fördergutachten vom 4. September 2018 wird dazu festgestellt, dass die problematischen Verhaltensweisen des Antragstellers die Entwicklungsbereiche Emotionalität, Kooperationsfähigkeit, Selbstkontrollfähigkeit, angemessene Selbstbehauptung, Kontaktfähigkeit, Umgang mit Regeln sowie Lern- und Leistungsverhalten betreffen und seine Entwicklung in diesen Bereichen deutlich von den altersentsprechenden Erwartungen abweicht. In der Stellungnahme der Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie vom 13. Dezember 2016 wird zu seinen sozialen Beeinträchtigungen weiter ausgeführt, der Antragsteller habe Schwierigkeiten, sich längere Zeit auf eine Sache zu konzentriere; er zeige eine geringe Frustrationstoleranz und hohe Impulsivität sowie Reizoffenheit. Trotz medikamentöser Einstellung und therapeutischer Behandlung komme es aktuell immer wieder zum Schulausschluss, weil der Antragsteller in Konfliktsituationen gerate, die seine emotionalen Regulationsmöglichkeiten überschritten. Der Antragsteller gerate dann in Ausnahmezustände, in denen er nur noch schwer erreichbar erscheine und von der Schule abgeholt werden müsse. Bei ausbleibender Hilfe drohe eine Chronifizierung seiner psychischen Störung. Die problematischen Verhaltensweisen des Antragstellers und seine Unterrichtsbeeinträchtigungen werden auch in der Verfügung der Schulleiterin vom 18. Dezember 2018 zum erneuten Ausschluss des Antragstellers vom Unterricht in der Grundschule, auf die der Senat Bezug nimmt, umfänglich beschrieben. Danach hat der Antragsteller den Schulbetrieb in den letzten zweieinhalb Jahren durch sein Verhalten gegenüber Mitschülerinnen und Mitschülern sowie gegenüber seinen Lehrerinnen und Lehrern wiederholt nachhaltig und schwer beeinträchtigt. Dient aber der angestrebte Hausunterricht mithin - wie hier - nicht dem Ausgleich einer durch eine längerfristige Erkrankung bedingten Unmöglichkeit, zur Schule zu gehen, sondern dem Ausgleich einer durch eine längerfristige psychische Störung bedingten wesentlichen Beeinträchtigung der Fähigkeit des Schülers bzw. der Schülerin, am regulären Unterricht teilzunehmen und diesem zu folgen, liegt kein Fall des § 69 Abs. 1 NSchG vor.

Selbst wenn zugunsten des Antragstellers unterstellt würde, dass er die für ihn bislang zuständige Grundschule aufgrund seiner Beeinträchtigung nicht (mehr) besuchen kann, würde dies im vorliegenden Fall keinen Anspruch auf eine Ausnahme von der Schulbesuchspflicht (§ 54 NSchG) und die Erteilung von Hausunterricht nach § 69 Abs. 1 NSchG begründen. Denn nach dem Bericht der Schulleiterin vom 6. August 2019 und der schulfachlichen Stellungnahme vom 7. August 2019 besteht für den Antragsteller die (vorrangige) Möglichkeit des Besuchs der Förderschule auf der D. in E.. Unter Berücksichtigung des sonderpädagogischen Förderbedarfs des Antragstellers und anknüpfend an die Empfehlung der Förderkommission vom 12. September 2018 erachten beide Stellungnahmen den Besuch der Förderschule auf der D. als bedarfsgerecht und geeignet. Die Erteilung von Hausunterricht erachten dagegen sowohl die Schulleiterin als auch die Landesschulbehörde nicht als bedarfsgerecht und mithin als ungeeignet. Dazu führt die Schulleiterin der Grundschule in ihrem Bericht vom 6. August 2019 unter Berücksichtigung der schulischen und sozialen Entwicklung des Antragstellers und der Empfehlung der Förderkommission vom 12. September 2018 nachvollziehbar aus, der Hausunterricht sei ungeeignet, weil der Antragsteller einen schulischen Rahmen benötige, der ihm neben einem sehr differenzierten und individualisierten Unterricht auch soziale Kontakte und das Lernen in der Kleingruppe biete. Für die Entwicklung seiner Persönlichkeit und seiner emotionalen und sozialen Kompetenzen sei er zudem auf eine kontinuierliche sonderpädagogische Unterstützung angewiesen. Dieser Bedarf könne nicht im Wege des Hausunterrichts gedeckt werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG i.V.m. Ziffer 38.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (NordÖR 2014, 11), wobei der Senat unter Berücksichtigung der mit dem begehrten Hausunterricht bedingten teilweisen Vorwegnahme der Hauptsache den Ansatz des vollen Regelstreitwerts von 5.000 Euro für angemessen erachtet.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 G