Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 13.09.2019, Az.: 10 LA 321/18

erzieherischer Bedarf; Erziehungsfähigkeit; Hilfe in Notsituationen; Hilfe zur Erziehung; krankheitsbedingter Ausfall

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
13.09.2019
Aktenzeichen
10 LA 321/18
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2019, 69997
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 29.06.2018 - AZ: 3 A 7880/16

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Nicht jede Mangelsituation im außererzieherischen Umfeld eines Kindes begründet einen erzieherischen Bedarf im Sinne des § 27 Abs. 1 SGB VIII.
2. Ob ein Bedarf an erzieherischer Unterstützung vorliegt, bestimmt sich danach, ob die körperliche, geistige und seelische Entwicklung des Kindes altersentsprechend ist. Maßgeblich ist insofern, dass die Grundbedürfnisse des Kindes wie Liebe, Akzeptanz, stabile Bindungen, Versorgung, Körperpflege, Gesundheitsfürsorge, Schutz vor Gefahren und geistige und soziale Bildung, die für die Erziehung zu einer verantwortungsvollen und gemeinschaftfähigen Persönlichkeit bedeutsam sind, erfüllt werden.
3. Hilfe in Notsituationen nach § 20 SGB VIII ist nur zu gewähren, wenn das Ziel der Vorschrift, den familiären Erziehungs- und Versorgungsbereich eines Kindes zu erhalten, bis die Eltern wieder in der Lage sind, diese Aufgabe selbst zu übernehmen, tatsächlich in absehbarer Zeit erreicht werden kann.

Tenor:

Auf den Antrag der Beklagten wird die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover – Einzelrichter der 3. Kammer – vom 29. Juni 2018 zugelassen

Das Berufungsverfahren wird unter dem Aktenzeichen

10 LB 194/19 geführt.

Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Gründe

I.

Die Kläger begehren die Erstattung von Aufwendungen für eine selbstbeschaffte Haushaltshilfe, die die Betreuung und Versorgung des gemeinsamen Sohnes werktags in den frühen Morgenstunden im Zeitraum 1. August bis 30. November 2016 übernommen hat.

Der Sohn der Kläger ist am 27. Juni 2011 geboren. In der Folge der komplizierten Schwangerschaft und Geburt litt die Klägerin unter einer Wochenbettdepression und hatte Schwierigkeiten, eine Bindung zu ihrem Sohn aufzubauen. Darüber hinaus war sie durch eine Fibromyalgie-Erkrankung, ein beidseitiges Karpaltunnel-Syndrom und die damit einhergehenden Schmerzen und Bewegungseinschränkungen insbesondere in den Schultern, Armen und Händen daran gehindert, die Versorgung ihres Sohnes zu bewältigen. Nachdem zuerst der Kläger und andere Familienangehörige dies übernommen hatten, beschäftigten die Kläger ab dem 15. August 2011 eine Haushaltshilfe, um die Versorgung des Kindes sicherzustellen. Auf den Antrag der Kläger vom 22. August 2011 bewilligte der Beklagte mit Bescheid vom 15. September 2011 ab dem 1. September 2011 bis zum 31. Oktober 2011 Hilfe für die Betreuung und Versorgung des Sohnes der Kläger in Notsituationen gemäß § 20 Sozialgesetzbuch Achtes Buch (SGB VIII) im Umfang von 20 Wochenstunden durch die von den Klägern beauftragte Haushaltshilfe.

Da sich der gesundheitliche Zustand der Klägerin nicht besserte und der selbständig tätige Kläger weiterhin ab den frühen Morgenstunden bis zum späten Nachmittag berufsbedingt abwesend war, bewilligte der Beklagte in der Folgezeit entsprechend der jeweiligen Hilfepläne weitere Hilfe für die Betreuung und Versorgung des Sohnes der Kläger in Notsituationen gemäß § 20 SGB VIII. Der Umfang der Hilfe wurde in der Folgezeit im Hinblick auf die Betreuung des Sohnes der Kläger in einer Kindertageseinrichtung zeitweise auf 15 bzw. 11 Wochenstunden reduziert und während der Schließzeiten der Einrichtung oder auf Grund von krankheitsbedingten Ausfällen auf 40 Wochenstunden erweitert. Ab dem 9. Mai 2014 stellte der Beklagte die Hilfe auf Grundlage des § 20 SGB VIII ein und gewährte den Klägern stattdessen fortlaufend Hilfe zur Erziehung nach § 27 Abs. 2 SGB VIII in Form von ambulanter Einzelhilfe. Dies erfolgte in Form der Übernahme der Kosten für die Betreuung und Versorgung des Sohnes der Kläger in wechselndem Umfang durch die von den Klägern beauftragte Haushaltshilfe. Darüber hinaus gewährte der Beklagte für besondere Fälle wie den krankheitsbedingten Ausfall der Kindergartenbetreuung darüber hinausgehende Unterstützungsstunden auf Grundlage von § 20 SGB VIII.

Für die Klägerin wurde ab dem 1. Oktober 2014 ein Hilfebedarf der Pflegestufe I festgestellt.

Im Rahmen eines Hilfeplangesprächs zwischen den Beteiligten im Januar 2016 stellten die Beteiligten fest, dass sich der Gesundheitszustand der Klägerin weiterhin verschlechtert, die Beziehung zu ihrem Sohn jedoch verbessert habe. Darüber hinaus wurde erörtert, dass die Kläger ein mit zwei Häusern bebautes Grundstück erworben hätten und geplant sei, dass die klägerische Familie das eine Wohnhaus beziehe und die Eltern der Klägerin spätestens zum Januar 2017 das andere, um die klägerische Familie besser unterstützen zu können. Durch den Umzug werde sich die Wohnsituation auch für die Klägerin verbessern, da die komplette Familie auf einer Ebene untergebracht sei. Ferner war angedacht, dass die Mutter der Klägerin ggf. als Tagesmutter für den Sohn der Kläger beschäftigt werden könne. Vereinbart wurde, dass die bisherige Haushalthilfe die klägerische Familie weiterhin werktags von 6:45 Uhr bis 8:15 Uhr unterstützt und zusätzliche Betreuungsstunden lediglich in Notsituationen wie zum Beispiel bei Krankheit des Kindes anfallen, wenn kein anderes Familienmitglied zur Betreuung zur Verfügung steht. Entsprechend gewährte der Beklagte den Klägern mit Bescheid vom 9. Februar 2016 Hilfe zur Erziehung nach § 27 Abs. 2 SGB VIII in Form von ambulanter Einzelhilfe durch die Übernahme der Kosten für die Betreuung und Versorgung des Sohnes der Kläger durch die von den Klägern beauftragte Haushaltshilfe im Umfang von acht Wochenstunden im Zeitraum 1. Februar 2016 bis 30. Juni 2016. Diese Bewilligung wurde in der Folge bis zum 31. Juli 2016 verlängert.

Mit Schreiben vom 3. Juni 2016 beantragten die Kläger, die bewilligte Hilfe in gleichbleibendem Umfang bis zum 31. Dezember 2016 weiter zu gewähren, da sich der geplante Umzug der Eltern der Klägerin verzögere. In ihrer Stellungnahme zum Hilfeplangespräch am 13. Juli 2016 teilten die Kläger dazu mit, dass die Mutter der Klägerin die morgendliche Betreuung ihres Enkelsohnes erst nach dem Umzug in das zweite Haus auf dem Grundstück der Kläger übernehmen könne. Darüber hinaus teilten sie mit, dass ein „Home-Office“-Arbeitsplatz für den Kläger bis zum 15. Juli 2016 vollständig eingerichtet und funktionsfähig sein werde, so dass für Notfälle auch eine Versorgung des Sohnes in den Morgenstunden gewährleistet sei. In der Folge kam der Beklagte in dem Hilfeplangespräch am 15. Juli 2016 zu dem Ergebnis, dass die ambulante Hilfe zum 31. Juli 2016 beendet werde, da es sich um keine Jugendhilfemaßnahme handele und keine akute Krisensituation existiere. Daraufhin beantragten die Kläger unter dem 18. Juli 2016, die bisherige Maßnahme bis zum 30. November 2016 zu verlängern. Mit Schreiben vom 13. September 2016 beantragten die Kläger für den Zeitraum von 15. September bis zum 23. September 2016 10,5 Betreuungsstunden für ihren Sohn durch die beauftragte Haushaltshilfe mit der Begründung, dass sich die Klägerin in diesem Zeitraum in stationärer Behandlung befinde.

Nach Anhörung der Kläger lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 18. November 2016 die Anträge der Kläger auf Gewährung finanzieller Leistungen nach § 20 SGB VIII für die Betreuung und Versorgung ihres Sohnes in Notsituationen oder alternativ auf Leistungen nach § 27 SGB VIII als Hilfe zur Erziehung in Form der Übernahme von Kosten für die stundenweise Betreuung ihres Sohnes ab und führte zur Begründung aus, dass die Voraussetzungen für die Bewilligung der von ihnen beantragten Leistungen nicht vorlägen. Finanzielle Leistungen nach § 20 SGB VIII kämen dann in Frage, wenn durch den Ausfall des Elternteils, das die überwiegende Betreuung des Kindes übernommen habe, eine Notsituation entstanden sei. Es gehe folglich darum, lediglich vorübergehend eine Notsituation zu kompensieren. Leistungen der Hilfe zur Erziehung nach §§ 27 ff. SGB VIII kämen in Betracht, wenn ein Erziehungsdefizit vorliege. Ein solches sei anzunehmen, wenn eine dem Wohl des Kindes entsprechende Erziehung nicht gewährleistet sei. In der Vergangenheit sei jedoch nicht deutlich geworden, dass die Kläger ihrer Elternverantwortung im Hinblick auf die Erziehung ihres Sohnes nicht nachkommen könnten. Der Sohn der Kläger sei unter Berücksichtigung seiner fortschreitenden positiven Entwicklung altersentsprechend selbständig, so dass die bisherige Unterstützung entbehrlich und entsprechende Hilfe aktuell nicht notwendig sei. Eine Hilfegewährung nach § 20 SGB VIII komme ebenfalls nicht in Betracht. Die genannte Norm erfasse schon nach ihrem Wortlaut nicht die Fälle, in denen der ausfallende Elternteil – wie hier – zu keinem Zeitpunkt die Betreuung und Versorgung des Kindes ohne fremde Hilfe habe sicherstellen können. Darüber hinaus habe der Kläger als Geschäftsführer seiner Firma auch dann, wenn sich die geplante Einrichtung eines Heimarbeitsplatzes nicht realisieren lasse, die Möglichkeit, sich in den frühen Morgenstunden vertreten zu lassen.

Hiergegen haben die Kläger am 23. Dezember 2016 Klage erhoben und zur Begründung vorgetragen, dass bis zum 31. Juli 2016 sämtliche Leistungen problemlos bewilligt worden seien. An ihrer Situation habe sich nichts geändert, so dass die einseitige Entscheidung des Beklagten, die Hilfe zu beenden, nicht nachvollzogen werden könne. Sie hätten sich stets bemüht, die selbständige Betreuung ihres Sohnes zu organisieren, was seit dem 1. Dezember 2016 auch möglich sei. Bis zu diesem Zeitpunkt seien sie jedoch auf die beantragten Unterstützungsstunden angewiesen gewesen. Die Einrichtung eines „Home-Office“-Arbeitsplatzes sei zum geplanten Zeitpunkt gescheitert, da die Leistungsfähigkeit des Internets am Wohnort zu gering sei, was sie jedoch erst nach dem Hilfeplangespräch festgestellt hätten. Auch organisatorisch sei die Einrichtung eines Heimarbeitsplatzes allenfalls für akute Notsituationen möglich gewesen, da der Kläger als kaufmännischer Geschäftsführer und Ansprechpartner für sämtliche personelle Entscheidungen in der aktuellen betrieblichen Situation stets anwesend sein müsse. Gerade in den Morgenstunden sei seine Anwesenheit vor Ort in besonderem Maße erforderlich, da er die Mitarbeiter koordinieren müsse und bei krankheitsbedingten Ausfällen Personalentscheidungen vorzunehmen habe.

Dem ist die Beklagte entgegengetreten und hat bekräftigt, dass alleiniges Ziel der vorliegenden Maßnahme die Betreuung und Versorgung des Kindes in Notsituationen gewesen sei. In die Erziehungsleistung und -kompetenz der Eltern sei nicht eingegriffen worden, auch sei dies zu keiner Zeit erforderlich gewesen. Es handele sich nunmehr um eine sozialrechtliche Eingliederungsmaßnahme und nicht mehr um eine Jugendhilfemaßnahme.

Das Verwaltungsgericht Hannover hat der Klage mit Urteil vom 29. Juni 2018 mit der Begründung stattgegeben, dass den Klägern der geltend gemachte Anspruch auf Aufwendungsersatz nach § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII zukomme. Die Voraussetzungen für die Gewährung von Hilfe zur Erziehung nach § 27 SGB VIII hätten im streitigen Zeitraum vorgelegen. Für die nach § 27 Abs. 1 SGB VIII erforderliche erzieherische Mangelsituation genüge bereits jeder objektive Ausfall der Erziehungsleistung, wie hier durch die Krankheit der Klägerin zu 1. und die berufsbedingte Abwesenheit des Klägers zu 2. in den Morgenstunden. Die von der von den Klägern beauftragten Hilfskraft geleistete morgendliche Betreuung ihres Sohnes von 6:45 Uhr bis 8:15 Uhr erschöpfe sich nicht in reinen Versorgungs- und/oder Transportleistungen, sondern weise im Wesentlichen erzieherische Komponenten auf. Denn maßgeblicher Aspekt des morgendlichen Ablaufs mit einem fünfjährigen Kind sei, mit dem Kind in Interaktion zu treten und auf erzieherischer Ebene zu kommunizieren, beispielsweise, wenn man dem Bedürfnis nach Nähe nach schlechten Träumen oder Erlebnissen am Vortrag nachkomme oder den weiteren Verlauf des Tages bespreche. Ohne die geleistete (Fremd-)Betreuung wäre eine erzieherische Mangelsituation entstanden.

Die Beklagte hat mit Schreiben vom 26. Juli 2018 die Zulassung der Berufung gegen diese Entscheidung beantragt. Die Kläger haben sich im Zulassungsverfahren nicht geäußert.

II.

Der u.a. auf § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO gestützte Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung hat Erfolg, weil ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen.

Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO sind dann zu bejahen, wenn bei der Überprüfung im Zulassungsverfahren, also auf Grund der Begründung des Zulassungsantrags und der angefochtenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts, gewichtige, gegen die Richtigkeit der Entscheidung sprechende Gründe zutage treten (Senatsbeschlüsse vom 23.01.2018 – 10 LA 21/18 –, juris Rn. 7, und vom 24.10.2017 – 10 LA 90/16 –, juris Rn. 11; Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 11.07.2013 – 8 LA 148/12 –, juris Rn. 9). Das ist grundsätzlich dann der Fall, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird (BVerfG, Stattgebende Kammerbeschlüsse vom 06.06.2018 – 2 BvR 350/18 –, juris Rn. 16, und vom 16.10.2017 – 2 BvR 2615/14 –, juris Rn. 19; Senatsbeschluss vom 23.01.2018 – 10 LA 21/18 –, juris Rn. 7; vgl. auch Gaier, NVwZ 2011, 385, 388 ff.). Die Richtigkeitszweifel müssen sich dabei auch auf das Ergebnis der Entscheidung beziehen. Es muss also mit hinreichender Wahrscheinlichkeit anzunehmen sein, dass die Berufung zur Änderung der angefochtenen Entscheidung führt (Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 04.07.2018 – 13 LA 247/17 –, juris Rn. 4 m.w.N.; vgl. dazu auch BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 09.06.2016 – 1 BvR 2453/12 –, juris Rn. 17). Zur Darlegung der ernstlichen Zweifel bedarf es regelmäßig qualifizierter, ins Einzelne gehender, fallbezogener und aus sich heraus verständlicher Ausführungen, die sich mit der angefochtenen Entscheidung auf der Grundlage einer eigenständigen Sichtung und Durchdringung des Prozessstoffs auseinandersetzen (Niedersächsisches OVG, Beschlüsse vom 08.03.2018 – 7 LA 67/17 -, juris Rn. 6, vom 11.12.2017 – 2 LA 1/17 -, juris Rn. 3, vom 31.08.2017 – 13 LA 188/15 –, juris Rn. 8, und vom 13.07.2017 – 8 LA 40/17 -, juris Rn. 10).

Gemessen daran bestehen ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts im Hinblick auf die Feststellung eines erzieherischen Bedarfs bezüglich des Sohnes der Kläger i.S.d. § 27 Abs. 1 SGB VIII.

Nach § 27 Abs. 1 SGB VIII hat ein Personensorgeberechtigter bei der Erziehung eines Kindes Anspruch auf Hilfe zur Erziehung, wenn eine dem Wohl des Kindes entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist. Das Verwaltungsgericht hat unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs zutreffend ausgeführt, dass nicht jede beliebige Mangelsituation im außererzieherischen Sozialisationsumfeld eines Kindes ausreichend sei und es keinen erzieherischen Bedarf im Sinne des § 27 Abs. 1 SGB VIII darstelle, wenn die Personensorgeberechtigten ausschließlich daran gehindert seien, Versorgungs- bzw. Transportleistungen für das Kind zu erbringen. Der entscheidende Einzelrichter kommt jedoch zu dem Ergebnis, dass allein die arbeitsbedingte Abwesenheit des Klägers von 6:45 Uhr bis 8:15 Uhr an Werktagen sowie das krankheitsbedingte Unvermögen der Klägerin, ihren Sohn in diesem Zeitraum zu versorgen, zu einer erzieherischen Mangelsituation führe, da die morgendliche Betreuung eines Kindergartenkindes im Wesentlichen erzieherische Komponenten aufweise. Die mit der Erwerbstätigkeit eines alleinerziehenden Elternteils oder auch beider Elternteile verbundene zeitweise häusliche Abwesenheit stellt jedoch für sich genommen keine Situation dar, die Hilfe zur Erziehung auslöst. Das Gesetz sieht für diese Lebens- und Erziehungssituationen andere Leistungen, wie beispielsweise den Anspruch auf Förderung durch eine die Betreuung in einer Tageseinrichtung nach § 24 Abs. 3 Satz1 SGB VIII ergänzende oder stattdessen erfolgende Kindertagespflege nach § 24 Abs. 3 Satz 3 SGB VIII, vor (vgl. Schmid-Obkirchner in Wiesner, SGB VIII, 5. Auflage 2015, § 27 Rn. 25). Ein erzieherischer Bedarf, der die wesentliche Leistungsvoraussetzung der Hilfe zur Erziehung ist (BVerwG, Beschluss vom 12.07.2005 – 5 B 56.05 –, juris Rn. 5), ist dagegen nur dann gegeben, wenn eine Defizitsituation besteht, bei der infolge erzieherischem Handelns bzw. Nichthandelns der Eltern eine Fehlentwicklung bzw. ein Rückstand oder Stillstand der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes eingetreten ist oder droht (vgl. VGH Hessen, Urteil vom 20.12.2016 – 10 A 1895/15 – juris Rn. 32; Schmid-Obkirchner in Wiesner, SGB VIII, 5. Auflage 2015, § 27 Rn. 23). Ein derartiger Bedarf an erzieherischer Unterstützung der Kläger ist vorliegend jedoch nicht feststellbar und wurde von den Klägern weder im Verwaltungsverfahren noch im Klageverfahren geltend gemacht. So fasst der Beklagte in einem Vermerk vom 21. Februar 2014 zusammen, dass „die Eltern deutlich machten, dass es sich nicht um eine Unterstützung im Bereich Erziehungsfragen, sondern lediglich Fragen zur Versorgung des Kindes handelte, die Eltern aus Sicht der Fallzuständigen ASD Kollegin keine Unterstützung in Erziehungsfragen benötigten, klare Positionen und Handlungskompetenzen besaßen, die Eltern lediglich Versorgungsleistungen nachgefragt hatten“ (Bl. 256 f. Beiakte 001). Dies wird auch durch die Stellungnahme des Klägers vom 19. Dezember 2016 (Bl. 29 der Gerichtsakte) bestätigt, in welcher dieser betont, dass er die Anspruchsgrundlage des § 20 SGB VIII für „richtiger“ halte.

Darüber hinaus bestehen keinerlei Anhaltspunkte für eine vorliegende oder drohende Fehlentwicklung des Sohnes des Klägers auf Grund eines erzieherischen Nichthandelns. Ob ein Bedarf an erzieherischer Unterstützung vorliegt oder die erzieherischen Möglichkeiten der Eltern ausreichend sind, ist daran zu messen, ob die körperliche, geistige und seelische Entwicklung des Kindes altersentsprechend ist. Hierzu zählen die Erfüllung bestimmter Grundbedürfnisses des Kindes wie Liebe, Zuwendung, Akzeptanz, stabile Bindungen, Versorgung, Körperpflege, Gesundheitsfürsorge, Schutz vor Gefahren und geistige oder soziale Bildung, die für die Entwicklung zu einer verantwortungsvollen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit notwendig sind (vgl. Nellissen in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2 Auflage 2018, § 27 Rn. 43). Ein Defizit ist vorliegend nach dem Akteninhalt in keinem der genannten Bereiche auch nur ansatzweise feststellbar.

In Bezug auf die Kläger bedeutet dies, dass auch wenn diese auf Grund des Gesundheitszustandes der Klägerin und der berufsbedingten Abwesenheit des Klägers zu bestimmten Tageszeiten nicht in der Lage sind, einzelne Versorgungsleistungen zu Gunsten ihres Sohnes zu erbringen, zwar eine defizitäre Betreuungssituation in diesen Zeiten besteht, jedoch kein erzieherischer Bedarf im Sinne des § 27 Abs. 1 SGB VIII vorliegt. Den Klägern ist wegen der körperlichen Einschränkungen der Klägerin und der beruflichen Verpflichtungen des Klägers die Erziehungsfähigkeit auch nicht teilweise abzusprechen und ein damit korrespondierender, erzieherisch-pädagogisch zu deckender Bedarf anzunehmen (vgl. VGH Hessen, Urteil vom 20.12.2016 – 10 A 1895/15 – juris Rn. 33 zur Frage des Vorliegens eines erzieherischen Bedarfs bei einem alleinerziehenden körperlich eingeschränkten Elternteil). Bestehen in einer derartigen Konstellation Mangelsituationen im Betreuungs- oder Versorgungsbereich des Kindes, so sind diese – bei Vorliegen der übrigen Anspruchsvoraussetzungen – über § 20 SGB VIII, § 24 Abs. 3 Satz 3 SGB VIII oder die Elternassistenz als Eingliederungshilfe nach sozialhilferechtlichen Vorschriften zu beheben (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 23.02.2012 – L 9 SO 26/11 –, juris Rn. 44 ff.; Wiesner in Wiesner, SGB VIII, 5. Auflage 2018, § 10 Rn. 38 e).

Der hiervon abweichenden Wertung des Verwaltungsgerichts kommt maßgebliche Bedeutung für den Verfahrensausgang zu, da sich der von den Klägern geltend gemachte Anspruch auch nicht aus einer anderen Norm ergibt. Auch die Voraussetzungen des § 20 SGB VIII sind vorliegend nicht erfüllt.

Nach § 20 Abs. 1 SGB VIII besteht ein Anspruch auf Unterstützung bei der Betreuung und Versorgung eines im Haushalt lebenden Kindes, wenn der Elternteil, der die überwiegende Betreuung des Kindes übernommen hat, für die Wahrnehmung dieser Aufgabe aus gesundheitlichen oder anderen zwingenden Gründen ausfällt und der andere Elternteil wegen berufsbedingter Abwesenheit nicht in der Lage ist, die Aufgabe wahrzunehmen. Die Vorschrift regelt ein spezifisches Angebot der Jugendhilfe für familiäre Notsituationen, wenn Eltern vorübergehend in der Kinderbetreuung ausfallen. Die Leistung soll sicherstellen, dass Kindern bei krankheitsbedingten oder auf anderen zwingenden Gründen beruhendem Ausfall der Hauptbetreuungsperson der familiäre Lebensraum erhalten bleibt, wenn keine erzieherischen Gründe für eine Unterbringung außerhalb der Familie vorliegen (vgl. BT-Drucks. 11/5948, S. 59; Struck in Schmid-Obkirchner in Wiesner, SGB VIII, 5. Auflage 2015, § 20 Rn. 1). Ziel der Vorschrift ist es dementsprechend, den familiären Erziehungs- und Versorgungsbereich zu erhalten, bis die Eltern wieder in der Lage sind, diese Aufgabe selbst zu übernehmen. Dementsprechend ist Voraussetzung für eine Hilfegewährung auf Grundlage des § 20 SGB VIII, dass dieses Ziel auch erreichbar ist. Demzufolge ist für einen Elternteil, der auf Grund einer Erkrankung oder Behinderung ein Kind von Geburt an nicht versorgen kann und auf absehbare Zeit nicht versorgen können wird, § 20 SGB VIII nicht einschlägig (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 23.02.2012 – L 9 SO 26/11 –, juris Leitsatz 4 und Rn, 55; Struck in Schmid-Obkirchner in Wiesner, SGB VIII, 5. Auflage 2015, § 20 Rn. 8; Telscher in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Auflage 2018, § 30 Rn. 47 f.). Denn es fehlt an der Eignung dieser Hilfeform, wenn das Ziel der Vorschrift tatsächlich überhaupt nicht oder auf absehbare Zeit nicht erreicht werden kann (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 06.05.2013 – 12 B 423/13 –, juris Leitsatz 1 sowie Rn. 7).

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze kommt vorliegend die Gewährung einer Unterstützungsleistung nach § 20 Abs. 1 SGB VIII im streitgegenständlichen Zeitraum nicht (mehr) in Betracht. Denn sie war nach den Umständen des konkreten Falles nicht mehr die geeignete Hilfeform. Angesichts der Entwicklung des gesundheitlichen Zustandes der Klägerin war im maßgeblichen Zeitpunkt nicht zu erwarten, dass sie die Betreuung und Versorgung ihres Sohnes in absehbarer Zeit würde sicherstellen können.

Da die Berufung bereits auf Grund ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils zuzulassen ist, kommt es auf die Frage, ob der von der Beklagten ebenfalls geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) hinreichend dargelegt ist, nicht entscheidungserheblich an.