Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 16.05.2022, Az.: 1 LA 102/21

Baugenehmigung; Beweislast; Beweislastumkehr; Schwarzbau

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
16.05.2022
Aktenzeichen
1 LA 102/21
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2022, 59556
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 03.05.2021 - AZ: 12 A 462/18

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Die Beweislast für das Bestehen einer Baugenehmigung liegt auch bei langjährig bestehenden und genutzten baulichen Anlagen bei demjenigen, der sich auf das Bestehen beruft (Bestätigung der stRspr.).

Tenor:

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - 12. Kammer - vom 3. Mai 2021 wird abgelehnt.

Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.

Der Wert des Streitgegenstandes für das Zulassungsverfahren wird auf 15.000 EUR festgesetzt.

Gründe

I.

Der Kläger begehrt die Feststellung, dass sein Wohnhaus baurechtlichen Bestandsschutz genießt.

Der Kläger ist Eigentümer des im Außenbereich gelegenen, im Aktivrubrum näher bezeichneten Grundstücks. Es ist mit einem in den Jahren 1907/1908 errichteten und seitdem als solches genutzten Wohnhaus bebaut. Eine Baugenehmigung für das Gebäude liegt nicht vor. Ein bauaufsichtliches Einschreiten beabsichtigt der Beklagte aus Gründen der Verhältnismäßigkeit ausdrücklich nicht.

Nachdem der Beklagte die begehrte Feststellung abgelehnt hatte, hat der Kläger die verwaltungsgerichtliche Feststellung beantragt, dass das Wohnhaus baurechtlichen Bestandsschutz genießt. Diese Klage hat das Verwaltungsgericht mit dem angegriffenen Urteil vom 3. Mai 2021 abgewiesen. Die Klage sei bereits unzulässig, weil die Frage des Bestandsschutzes kein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis betreffe. Verstehe man den Antrag in Anwendung des § 88 VwGO so, dass die Feststellung der Legalität des Gebäudes und seiner Nutzung begehrt werde, gelte nichts anderes. Jedenfalls sei ein so verstandener Antrag unbegründet, denn das Wohnhaus sei formell illegal. Es habe stets der Genehmigungspflicht unterlegen. Für das Vorliegen einer Genehmigung trage der Kläger ungeachtet des Alters des Wohnhauses die Beweislast, der er nicht genügt habe. Eine Vermutung dahingehend, dass eine bauliche Anlage, die seit unvordenklicher Zeit vor den Augen der Behörde bestanden habe, über eine Baugenehmigung verfüge, bestehe nicht.

Dagegen wendet sich der Kläger mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung, dem der Beklagte entgegentritt.

II.

Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.

Der Senat braucht nicht abschließend zu entscheiden, ob die Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts, die auf Feststellung des baurechtlichen Bestandsschutzes gerichtete Klage sei unzulässig, weil es an einem feststellungsfähigen Rechtsverhältnis fehle, ernstlichen Zweifeln an der Richtigkeit im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ausgesetzt ist oder insoweit sonstige Zulassungsgründe vorliegen. In der Tat sprechen gute Gründe - wie der Kläger mit seinem Zulassungsantrag vorträgt und auch das Verwaltungsgericht erwogen hat - dafür, die Klage gemäß § 88 VwGO so auszulegen, dass der Kläger die Feststellung der baurechtlichen, d.h. insbesondere formellen Legalität seines Wohnhauses begehrt (vgl. zum Bestandsschutz nach niedersächsischem Landesrecht Senatsbeschl. v. 17.12.2021 - 1 LA 91/20 -, BauR 2022, 459 = NordÖR 2022, 127 = juris Rn. 27 m.w.N.), und diese Klage als zulässig anzusehen (vgl. zur Zulässigkeit einer auf die Feststellung von Bestandsschutz gerichteten Klage OVG NRW, Urt. v. 7.5.2019 - 2 A 2995/17 -, BauR 2019, 1899 = NVwZ-RR 2020, 94 = juris Rn. 34 ff.). Eine so verstandene Klage hat das Verwaltungsgericht indes zu Recht - und ohne dass insoweit ein Zulassungsgrund vorliegt - in selbstständig tragender Weise als unbegründet angesehen. Den entsprechenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts tritt der Senat bei (§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO).

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. BVerwG, Beschl. v. 17.7.2003 - 4 B 55.03 -, BauR 2004, 657 = BRS 66 Nr. 167 = juris Rn. 5; v. 19.2.1988 - 4 B 33.88 -, juris Rn. 3 f.; Urt. v. 23.2.1979 - 4 C 86.76 -, Buchholz 406.16 Nr. 13 = BRS 35 Nr. 206 m.w.N.), des Senats (Senatsurt. v. 26.2.2014 - 1 LB 100/09 -, BauR 2014, 1444 = BRS 82 Nr. 204 = juris Rn. 69; Senatsbeschl. v. 17.12.2021 - 1 LA 91/20 -, BauR 2022, 459 = NordÖR 2022, 127 = juris Rn. 12) und anderer Oberverwaltungsgerichte (vgl. aus jüngerer Zeit nur BayVGH, Beschl. v. 10.11.2021 - 15 ZB 21.1329 -, juris Rn. 10; OVG Berl.-Bbg, Beschl. v. 27.2.2020 - OVG 10 S 4/20 -, BRS 88 Nr. 71 = juris Rn. 7; OVG NRW, Beschl. v. 31.1.2020 - 7 B 1318/19 -, BauR 2020, 817 = BRS 88 Nr. 88 = juris Rn. 6, alle m.w.N.) ist derjenige für das Vorliegen einer Baugenehmigung beweispflichtig, der sich darauf beruft, dass eine bestimmte bauliche Anlage in einer bestimmten Nutzung genehmigt ist. Das ist in diesem Fall der Kläger.

Anlass dafür, diese ständige Rechtsprechung mit Blick auf die Entscheidung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts vom 4. Mai 1915 (PrOVGE 68, 369) und den darin enthaltenen Rechtssatz, es spreche „eine wohlbegründete Vermutung dafür (…), dass Einrichtungen, insbesondere solche baulicher Natur, die seit unvordenklichen Zeiten unter den Augen der Behörden bestanden haben und von diesen fortdauernd als zu Recht bestehend behandelt worden sind, seinerzeit auch ordnungsgemäß und in Übereinstimmung mit den bestehenden Gesetzen zustande gekommen sind“, in Frage zu stellen, und zu einer Beweislastumkehr zu gelangen, sieht der Senat nicht. Erstens entspricht es keinesfalls der Lebenswirklichkeit anzunehmen, dass eine vor langer Zeit errichtete und genutzte bauliche Anlage kein Schwarzbau ist. Im Gegenteil gibt es gerade im Außenbereich nach den Erfahrungen des Senats eine Vielzahl baulicher Anlagen, die ohne Genehmigung errichtet wurden. Ob die Bauaufsichtsbehörde aufmerksam und tätig wird, hängt vielfach davon ab, ob sich Nachbarn beschweren. Eine flächendeckende Kontrolle baulicher Anlagen fand und findet in Niedersachsen nicht statt. Zweitens würde eine derartige Beweislastverteilung dazu führen, dass in der Praxis bei (nahezu) allen alten baulichen Anlagen, für die keine Bauakte vorliegt, vom Vorliegen einer Baugenehmigung auszugehen wäre. Denn eine Bauaufsichtsbehörde, die nicht über Akten verfügt, ist regelmäßig nicht in der Lage, das Nichtbestehen einer Genehmigung nachzuweisen. In einer Beweislastumkehr läge demzufolge eine der Lebenswirklichkeit nicht entsprechende und in der Sache nicht gerechtfertigte Begünstigung langjährig bestehender baulicher Anlagen.

Mit dem Verwaltungsgericht ist deshalb davon auszugehen, dass die Beweislast für das Bestehen einer Baugenehmigung auch bei langjährig bestehenden und genutzten baulichen Anlagen bei demjenigen liegt, der sich auf das Bestehen beruft. Insofern entscheidet das Gericht gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. In diesem Rahmen kann die langjährige, unbeanstandete Existenz und Nutzung einer baulichen Anlage abhängig von den Umständen des Einzelfalls indizielle Bedeutung gewinnen, etwa dann, wenn feststeht, dass die Bauaufsichtsbehörde positive Kenntnis von der Anlage hatte und Akten beispielsweise infolge von Kriegsereignissen, Bränden oder Naturkatastrophen nachweislich verloren gegangen sind oder eine Anlage mit erheblichen Dimensionen und Auswirkungen vorliegt, die materiell rechtmäßig war. Verallgemeinernde Feststellungen sind insofern jedoch nicht möglich; entscheidend sind - auch dies hat das Verwaltungsgericht zutreffend erkannt und gewürdigt - die Umstände des Einzelfalls.

Die vorstehenden Ausführungen zeigen, dass die Argumentation des Verwaltungsgerichts weder ernstlichen Zweifeln an der Richtigkeit begegnet noch rechtlich oder tatsächlich schwierige bzw. grundsätzlich bedeutsame Fragen aufwirft (§ 124 Abs. 2 Nr. 1-3 VwGO). Es handelt sich um einen einfach gelagerten Fall eines Wohnhauses im Außenbereich ohne rechtlich erhebliche Besonderheiten, für das eine Baugenehmigung nicht vorgelegt werden kann. Die aufgeworfenen Fragen lassen sich anhand der ständigen Rechtsprechung (nicht nur) der oben zitierten Gerichte ohne weiteres beantworten.

Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG und entspricht dem Genehmigungswert für ein Einfamilienhaus.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).