Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 12.05.2022, Az.: 13 PA 138/22
Anordnung der aufschiebenden Wirkung; Aufenthaltserlaubnis; Ausreisepflicht; Fiktion; Fortgeltungswirkung; Vollziehbarkeit; vorläufiger Rechtsschutz
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 12.05.2022
- Aktenzeichen
- 13 PA 138/22
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2022, 59558
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 06.04.2022 - AZ: 5 B 5578/21
Rechtsgrundlagen
- § 81 Abs 3 AufenthG
- § 81 Abs 4 AufenthG
- § 81 Abs 5 AufenthG
- § 84 Abs 2 S 1 AufenthG
- § 84 Abs 2 S 2 AufenthG
- § 80 Abs 5 VwGO
- § 80 Abs 5 VwGO
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Die Fiktionen bzw. die Fortgeltungswirkung nach § 81 Abs. 3 Sätze 1 und 2 sowie Abs. 4 Sätze 1 und 3 AufenthG bestehen stets nur bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde über einen gestellten Titelerteilungs- oder -verlängerungsantrag. Selbst aufgrund eines erfolgreichen Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung (des Anfechtungsteils) einer Klage gegen die Titelversagung nach § 80 Abs. 5 Satz 1, 1. Alt. VwGO lebt eine einmal beseitigte Fiktion oder Fortgeltungswirkung nicht wieder auf. Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung suspendiert nur eine durch die Versagung vollziehbar entstandene Ausreisepflicht und beseitigt mithin deren Vollziehbarkeit.
Tenor:
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den die Bewilligung von Prozesskostenhilfe und die Beiordnung von Rechtsanwalt B. aus A-Stadt für das erstinstanzliche Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes versagenden Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover - 5. Kammer - vom 6. April 2022 wird zurückgewiesen.
Der Antragsteller trägt die Gerichtskosten des Beschwerdeverfahrens. Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet.
Gründe
I. Die Beschwerde des Antragstellers gegen den die Bewilligung von Prozesskostenhilfe und die Beiordnung seines Prozessbevollmächtigten versagenden Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover vom 6. April 2022 bleibt ohne Erfolg.
1. Das Verwaltungsgericht hat eine für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe erforderliche hinreichende Erfolgsaussicht (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 114 Abs. Satz 1 ZPO) des erstinstanzlich gestellten Eilantrags des Antragstellers zu Recht verneint. Dieser war zuletzt (vgl. Schriftsatz v. 20.1.2022, Bl. 49 der GA, in Verbindung mit Antrag zu Nr. 4 in der Klage- und Antragsschrift v. 28.9.2021, Bl. 2 der GA) darauf gerichtet, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung (nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO) zu verpflichten, dem Antragsteller „eine Fiktionsbescheinigung gemäß § 81 Abs. 3 AufenthaltG zu erteilen“. Nach der im Prozesskostenhilfeverfahren unter Berücksichtigung des Zwecks der Prozesskostenhilfe (vgl. zu im Hauptsacheverfahren einerseits und im Prozesskostenhilfeverfahren andererseits anzulegenden unterschiedlichen Maßstäben: BVerfG, Beschl. v. 8.7.2016 - 2 BvR 2231/13 -, juris Rn. 10 ff. m.w.N.) nur vorzunehmenden summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage (vgl. BVerfG, Beschl. v. 26.2.2007 - 1 BvR 474/05 -, NVwZ-RR 2007, 361, 362 - juris Rn. 11) war dieses Eilrechtsschutzbegehren voraussichtlich jedenfalls unbegründet.
Selbst wenn man unterstellt, der Antragsteller habe zutreffend eine Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 5 AufenthG gemeint, so ist doch entgegen § 123 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 ZPO nicht glaubhaft gemacht worden, dass dem Antragsteller ein Anordnungsanspruch auf Ausstellung einer derartigen Bescheinigung nach dieser Anspruchsgrundlage zugestanden hat.
a) Eine danach erforderliche gesetzliche Erlaubnis- oder Duldungsfiktion nach § 81 Abs. 3 Sätze 1 und 2 AufenthG, gesetzliche Fortbestandsfiktion nach § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG oder behördlich angeordnete Fortgeltungswirkung nach § 81 Abs. 4 Satz 3 AufenthG (vgl. zur Systematik Senatsbeschl. v. 18.11.2021 - 13 ME 426/21 -, InfAuslR 2022, 97, juris Rn. 7 ff.) bestand nämlich während des erstinstanzlichen Verfahrens vorläufigen Rechtsschutzes 5 B 5578/21 nicht.
aa) Zu Recht hat das Verwaltungsgericht auf Seiten 9 und 10 des angefochtenen Beschlusses angenommen, dass die Verlängerungsanträge des Antragstellers vom 24. Februar 2015 und 9. März 2016 (Bl. 1078, 1113 der BA 001 Bd. II) nach dem Auslaufen der letzten Aufenthaltserlaubnis zum 18. Februar 2015 (Bl. 1067 der BA 001 Bd. II) bereits ursprünglich keine der genannten Wirkungen erzeugt haben, weil es sich dabei jeweils nicht um einen Ersterteilungsantrag nach § 81 Abs. 3 AufenthG, sondern um einen Verlängerungsantrag nach § 81 Abs. 4 AufenthG gehandelt hat, der verspätet gestellt worden und für den die Anordnung einer behördlichen Fortgeltungswirkung nicht - auch nicht kraft (anfänglicher) Ausstellung deklaratorischer Fiktionsbescheinigungen - erfolgt ist und auch nicht beansprucht werden kann. Auf diese Ausführungen, denen der Antragsteller ungeachtet der durch Eingangsverfügung des Senatsvorsitzenden vom 3. Mai 2022 (Bl. 82 R der GA) eingeräumten Begründungsfrist bis zum 9. Mai 2022 nicht durch Einreichung einer Beschwerdebegründung entgegengetreten ist, wird zur Vermeidung von Wiederholungen gemäß § 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO Bezug genommen.
bb) Selbst wenn jedoch eine dieser Wirkungen zunächst eingetreten sein sollte, wäre sie später - aber noch vor Einleitung des erstinstanzlichen Eilverfahrens am 28. September 2021 - jedenfalls bereits durch die Bekanntgabe des klagegegenständlichen Bescheides der Antragsgegnerin vom 6. August 2021 (Bl. 9 ff. der GA), welcher neben der Ausweisungsverfügung auch eine gemäß § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG in Verbindung mit § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO sofort vollziehbare Ablehnung der genannten Verlängerungsanträge enthält, beseitigt worden und damit erloschen (vgl. hierzu Senatsbeschl. v. 12.7.2021 - 13 ME 18/21 -, InfAuslR 2021, 337, juris Rn. 5 m.w.N.). Diese über die bloße Versagung von Aufenthaltstiteln hinausgehende „Beseitigungswirkung“ lässt sich daraus ableiten, dass die Fiktionen bzw. die Fortgeltungswirkung nach § 81 Abs. 3 Sätze 1 und 2 sowie Abs. 4 Sätze 1 und 3 AufenthG nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut stets nur „bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde“ (über den gestellten Titelerteilungs- oder -verlängerungsantrag) bestehen können.
An diesem Befund hat sich im weiteren Verlauf nichts mehr geändert. Selbst aufgrund eines erfolgreichen Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung (des Anfechtungsteils) einer Klage gegen die Titelversagung nach § 80 Abs. 5 Satz 1, 1. Alt. VwGO - der im hier zu beurteilenden Eilverfahren 5 B 5578/21 ohnehin aufgrund der Antragsänderung vom 20. Januar 2022 (Bl. 49 der GA) nicht zur Entscheidung gestellt wurde - lebte die einmal beseitigte Fiktion oder Fortgeltungswirkung nicht wieder auf (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 24.6.2008 - OVG 2 S 36.08 -, AuAS 2008, 184, juris Rn. 4 m.w.N.). Für die Fälle der Beseitigung einer Erlaubnis- oder Fortbestandsfiktion oder einer Fortgeltungswirkung folgt dies unmittelbar bereits aus § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, demzufolge die Rechtsbehelfe Widerspruch und Klage unbeschadet ihrer aufschiebenden Wirkung die Wirksamkeit eines Verwaltungsakts, der die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts beendet, unberührt lassen; in entsprechender Weise gilt diese Norm auf dem Boden der herrschenden Vollziehbarkeitstheorie zum Suspensiveffekt des § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO (vgl. zum Meinungsstand Kopp/Schenke, VwGO, 27. Aufl. 2021, § 80 Rn. 22 ff.) auch für die Beseitigung einer Duldungsfiktion. Nach alledem könnte auf dem beschriebenen Wege nach § 80 Abs. 5 Satz 1, 1. Alt. VwGO allenfalls die durch die Versagung vollziehbar entstandene Ausreisepflicht (vgl. §§ 50 Abs. 1, 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG) suspendiert, das heißt deren Vollziehbarkeit beseitigt werden (vgl. Senatsbeschl. v. 10.3.2020 - 13 ME 30/20 -, juris Rn. 5), wodurch eine Abschiebung gemäß § 58 Abs. 1 Satz 1 AufenthG bis auf Weiteres rechtlich unzulässig würde. Erst eine Aufhebung des Bescheides vom 6. August 2021 durch behördliche oder unanfechtbare gerichtliche Entscheidung - hier etwa im Klageverfahren zur Hauptsache 5 A 5577/21 - und damit die Beseitigung dessen Wirksamkeit könnte eine Fiktion oder Fortgeltungswirkung, sollte sie ursprünglich ausgelöst worden sein, ex tunc wiederaufleben lassen (vgl. § 84 Abs. 2 Satz 3 AufenthG; vgl. auch OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 24.6.2008, a.a.O.; Kluth, in: ders./Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 32. Edition, Stand: 1.1.2022, AufenthG § 84 Rn. 42, 29). Eine solche Entscheidung ist hier jedoch nicht getroffen worden.
b) Ohne Rücksicht darauf, ob ein Anspruch aus § 81 Abs. 5 AufenthG auf Ausstellung einer Fiktionsbescheinigung sich auch auf die Fälle der partiellen erwerbstätigkeitsbezogenen Fortgeltungsfiktion aus § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG bezieht und ob auch diese Fiktion - ebenso wie § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG - voraussetzt, dass der Verlängerungsantrag rechtzeitig gestellt war (Letztes verneinend Kluth, a.a.O., § 84 Rn. 33), ist nicht erkennbar, dass diese Fiktion während des Eilverfahrens 5 B 5578/21 bestanden haben könnte.
Nach § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG gilt der Aufenthaltstitel (hier allenfalls die zuletzt bis zum 18.2.2015 verlängerte Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG, die gemäß § 27 Abs. 5 AufenthG in der bis zum 29.2.2020 geltenden (alten) Fassung zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit berechtigte) als fortbestehend, aa) solange die Frist zur Erhebung des Widerspruchs oder der Klage noch nicht abgelaufen ist, bb) während eines gerichtlichen Verfahrens über einen zulässigen Antrag auf Anordnung oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung oder cc) solange der eingelegte Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung hat. Voraussichtlich war keine dieser drei Alternativen während des erstinstanzlichen Verfahrens vorläufigen Rechtsschutzes tatbestandlich erfüllt.
aa) Vieles spricht dafür, dass bei Einleitung des Eilverfahrens 5 B 5578/21 und Erhebung der Klage 5 A 5577/21 am 28. September 2021 die einmonatige Klagefrist gegen den am 11. August 2021 (Bl. 1206 der BA 001 Bd. II), spätestens aber am 18. August 2021 bekannt gegebenen Bescheid vom 6. August 2021 bereits abgelaufen war und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 60 Abs. 1 VwGO nicht zu gewähren ist. Auf die Ausführungen des Verwaltungsgerichts auf Seiten 11 und 12 des angefochtenen Beschlusses wird gemäß § 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO verwiesen.
bb) Ein Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1, 1. Alt. VwGO auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage 5 A 5577/21 gegen den Bescheid vom 6. August 2021 und insbesondere die darin verfügte Titelversagung stand aufgrund der vollständig ersetzenden Antragsänderung zugunsten des auf eine Fiktionsbescheinigung gerichteten Antrags nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO durch Schriftsatz vom 20. Januar 2022 (Bl. 49 der GA) im Verfahren 5 B 5578/21 nicht zur Entscheidung an. Selbst wenn man aufgrund der Formulierung des Antrags zu Nr. 4 aus der Klage- und Antragsschrift vom 28. September 2021 (Bl. 2 der GA) im Wege der Auslegung (§§ 88, 122 Abs. 1 VwGO) davon ausginge, dass damit ursprünglich ein Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1, 1. Alt. VwGO gestellt werden sollte, so war dieser mangels Rechtsschutzbedürfnisses nach einer vorläufigen Regelung wegen Versäumung der Klagefrist für die Klage in der Hauptsache und der damit durch Bestandskrafteintritt bereits entstandenen „endgültigen“ Regelung unzulässig.
cc) Aufschiebende Wirkung kam der Klage 5 A 5577/21 gegen die Titelversagung gemäß § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG in Verbindung mit § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO kraft Gesetzes nicht zu, und sie ist auch weder gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1, 1. Alt. VwGO gerichtlich angeordnet worden, noch hat die Behörde die Vollziehung gemäß § 80 Abs. 4 Satz 1 VwGO ausgesetzt.
2. Kann dem Antragsteller Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes nicht bewilligt werden, so ist für die auch begehrte Beiordnung seines Prozessbevollmächtigten gemäß § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 121 Abs. 2 ZPO ebenfalls kein Raum.
II. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO, § 127 Abs. 4 ZPO.
III. Eine Streitwertfestsetzung ist nicht veranlasst. Für die Höhe der Gerichtskosten des Beschwerdeverfahrens gilt der streitwertunabhängige Festgebührentatbestand in Nr. 5502 der Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG - Kostenverzeichnis - (vgl. zur Entstehung von Gerichtskosten bei Zurückweisung einer PKH-Beschwerde: Senatsbeschl. v. 28.3.2019 - 13 PA 65/19 -, juris Rn. 3).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).