Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 11.05.2022, Az.: 10 LA 46/22
circular letters; Garantieerklärung; Personen, vulnerable; Zusicherung, individuelle
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 11.05.2022
- Aktenzeichen
- 10 LA 46/22
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2022, 59550
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 20.04.2022 - AZ: 6 A 3905/21
Rechtsgrundlagen
- § 29 Abs 1 Nr 1 AsylVfG 1992
- § 60 Abs 5 AufenthaltsG
- § 60 Abs 7 S 1 AufenthaltsG
- Art 17 Abs 1 EUV 604/2013
- Art 3 MRK
Tenor:
Auf den Antrag der Beklagten wird die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - Einzelrichter der 6. Kammer - vom 20. April 2022 zugelassen.
Das Berufungsverfahren wird unter dem Aktenzeichen 10 LB 69/22 geführt.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Gründe
I.
Die Klägerin und der Kläger wenden sich gegen die Ablehnung ihrer Asylanträge als unzulässig auf der Grundlage von § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG und die Anordnung ihrer Abschiebung nach Italien.
Die Klägerin ist die Mutter des 2008 geborenen Klägers. Sie sind iranische Staatsangehörige, kurdischer Volkszugehörigkeit und nach ihren Angaben konfessionslos. Nach einer ersten Einreise in die Bundesrepublik im Jahr 2016 reisten die Kläger zunächst wieder zurück in den Iran und nach ihren Angaben im November 2020 erneut in die Bundesrepublik ein. Am 14. Januar 2021 stellten sie Asylanträge. Bei einer Überprüfung der Fingerabdrücke der Kläger mittels der Eurodac-Datenbank ergaben sich Anhaltspunkte für die Zuständigkeit Italiens für die Durchführung der Asylverfahren der Kläger. Auf das Übernahmeersuchen auf Grundlage der Verordnung Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates (Dublin-III-VO) vom 23. Februar 2021 reagierten die italienischen Behörden nicht fristgerecht. In der Folge lehnte die Beklagte durch Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) vom 11. Mai 2021 die Asylanträge der Kläger als unzulässig ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen, ordnete die Abschiebung nach Italien sowie ein Einreise- und Aufenthaltsverbot an und befristete dieses auf 15 Monate ab dem Tag der Abschiebung. Zur Begründung führte das Bundesamt aus, dass die Asylanträge gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG unzulässig seien, da Italien auf Grund des illegalen Übertritts der Außengrenze des Hoheitsgebiets der Mitgliedstaaten gemäß Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 13 Abs. 1 Dublin-III-VO für die Behandlung der Asylanträge der Kläger zuständig sei. Es drohten den Klägern, die keine Beschwerden, Erkrankungen, Gebrechen oder Behinderungen geltend gemacht hätten, keine individuellen Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Bundesrepublik veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO auszuüben, seien nicht ersichtlich. Die vorgebrachten persönlichen Bindungen zu der Schwester der Klägerin und zu dem Lebensgefährten der Klägerin seien nicht berücksichtigungsfähig, da ihnen durch die Dublin-III-VO unabhängig vom Aufenthaltsstatus der betreffenden Personen kein Schutz beigemessen werde. Lebensgefährten seien - anders als Ehegatten - nicht vom Geltungsbereich der Definition eines Familienangehörigen innerhalb des Art. 2 lit. g Dublin-III-VO erfasst. Eine Angewiesenheit im Sinne von Art. 16 Dublin-III-VO sei weder erkennbar noch substantiiert vorgetragen.
Hiergegen haben die Kläger am 25. Mai 2021 Klage erhoben und um vorläufigen Rechtsschutz ersucht. Mit Beschluss vom 2. Juni 2021 (6 B 3906/21) ordnete das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die im angefochtenen Bescheid enthaltene Abschiebungsanordnung unter Verweis auf die besondere Schutzbedürftigkeit der Kläger an.
Mit dem angefochtenen Urteil vom 20. April 2022 hob das Verwaltungsgericht den Bescheid der Beklagten vom 11. Mai 2021 auf. Zur Begründung führte das Verwaltungsgericht aus, dass im Asylsystem Italiens zwar grundsätzlich keine systemischen Mängel beständen, dass im konkreten Einzelfall jedoch außergewöhnliche humanitäre Gründe vorlägen, die die Beklagten veranlassen müssten, ihr Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO auszuüben. Die Situation der Kläger sei auf Grund ihres Geschlechts und Alters mit der der Entscheidung des EGMR vom 4. November 2014 zu Grunde liegenden Konstellation vergleichbar. Nach dieser Entscheidung sei bei besonders schutzbedürftigen Personen eine Abschiebung nach Italien nur zulässig, wenn zuvor besondere Garantien der italienischen Behörden eingeholt worden seien.
Gegen dieses Urteil richtet sich der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung vom 25. April 2022.
II.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat Erfolg. Die Berufung ist zuzulassen, weil die Beklagte dargelegt hat, dass die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat.
Eine Rechtssache ist nach der ständigen Rechtsprechung des Senats nur dann im Sinne des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG grundsätzlich bedeutsam, wenn sie eine höchstrichterlich noch nicht geklärte Rechtsfrage oder eine obergerichtlich bislang noch nicht beantwortete Tatsachenfrage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die im Rechtsmittelverfahren entscheidungserheblich und einer abstrakten Klärung zugänglich ist, im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Weiterentwicklung des Rechts einer fallübergreifenden Klärung in einem Berufungsverfahren bedarf, nicht schon geklärt ist und (im Falle einer Rechtsfrage) nicht bereits anhand des Gesetzeswortlauts und der üblichen Regeln sachgerechter Auslegung sowie auf der Grundlage der einschlägigen Rechtsprechung ohne Durchführung eines Berufungsverfahrens beantwortet werden kann (BVerwG, Beschluss vom 8.8.2018 – 1 B 25.18 –, juris Rn. 5, zu § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO; ferner: GK-AsylG, Stand: Juni 2019, § 78 AsylG Rn. 88 ff. m.w.N.; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: April 2019, § 78 AsylG Rn. 21 ff. m.w.N).
Die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache gemäß § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG verlangt daher nach der ständigen Rechtsprechung des Senats (u.a. Senatsbeschluss vom 13.9.2018 - 10 LA 349/18 -, juris Rn. 2 ff.):
1. dass eine bestimmte Tatsachen- oder Rechtsfrage konkret und eindeutig bezeichnet,
2. ferner erläutert wird, warum sie im angestrebten Berufungsverfahren entscheidungserheblich und klärungsbedürftig wäre und
3. schließlich dargetan wird, aus welchen Gründen ihre Beantwortung über den konkreten Einzelfall hinaus dazu beitrüge, die Rechtsfortbildung zu fördern oder die Rechtseinheit zu wahren.
Die Darlegung der Entscheidungserheblichkeit und Klärungsbedürftigkeit der bezeichneten Frage im Berufungsverfahren (2.) setzt voraus, dass substantiiert dargetan wird, warum sie im Berufungsverfahren anders als im angefochtenen Urteil zu entscheiden sein könnte und - im Falle einer Tatsachenfrage - welche (neueren) Erkenntnismittel eine anderslautende Entscheidung nahelegen (ständige Rechtsprechung des Senats: u. a. Senatsbeschluss vom 18.2.2019 - 10 LA 27/19 -; Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 25.7.2017 - 9 LA 70/17 - m.w.N.). Die Begründungspflicht verlangt daher, dass sich der Zulassungsantrag mit den Erwägungen des angefochtenen Urteils substantiiert auseinandersetzt (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.6.2019 - 5 BN 4.18 -, zu den Anforderungen an die Darlegung einer grundsätzlichen Bedeutung gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Die Darlegung einer Tatsachenfrage setzt außerdem eine intensive, fallbezogene Auseinandersetzung mit den von dem Verwaltungsgericht herangezogenen und bewerteten Erkenntnismitteln voraus (Senatsbeschluss vom 18.2.2019 - 10 LA 27/19 -; Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 13.1.2009 - 11 LA 471/08 -, juris Rn. 5), weil eine Frage nicht entscheidungserheblich und klärungsbedürftig ist, die sich schon hinreichend klar aufgrund der vom Verwaltungsgericht berücksichtigten Erkenntnismittel beantworten lässt (GK-AsylG, a.a.O., § 78 AsylG Rn. 609 m.w.N; vgl. auch BVerwG, Beschlüsse vom 30.1.2014 - 5 B 44.13 -, juris Rn. 2, und vom 17.2.2015 - 1 B 3.15 -, juris Rn. 3, zu den Anforderungen an die Darlegung einer grundsätzlichen Bedeutung gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Erforderlich ist daher über den ergebnisbezogenen Hinweis, dass der Bewertung der Situation in dem betreffenden Land zu der als klärungsbedürftig bezeichneten Tatsachenfrage durch das Verwaltungsgericht im Ergebnis nicht gefolgt werde, hinaus, dass in Auseinandersetzung mit den Argumenten des Verwaltungsgerichts und den von ihm herangezogenen Erkenntnismitteln dargetan wird, aus welchen Gründen dieser Bewertung im Berufungsverfahren nicht zu folgen sein wird (GK-AsylG, a.a.O., § 78 AsylG Rn. 610 m.w.N). Dabei ist es Aufgabe des Zulassungsantragstellers, durch die Benennung von Anhaltspunkten für eine andere Tatsacheneinschätzung, also insbesondere durch das Anführen bestimmter (neuerer) Erkenntnisquellen, darzutun, dass hierfür zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit besteht (GK-AsylG, a.a.O., § 78 AsylG Rn. 610 f. m.w.N). Es reicht deshalb nicht, wenn der Zulassungsantragsteller sich lediglich gegen die Würdigung seines Vorbringens durch das Verwaltungsgericht wendet und eine bloße Neubewertung der vom Verwaltungsgericht berücksichtigten Erkenntnismittel verlangt (GK-AsylG, a.a.O., § 78 AsylG Rn. 609 m.w.N, Hailbronner, a.a.O., § 78 AsylG Rn. 28).
Diesen Darlegungsanforderungen genügt der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung.
Sie hält für grundsätzlich klärungsbedürftig,
„ob Antragstellenden, bei denen Italien gem. § 29 Abs. 1 Satz 1 AsylG für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist, bei Überstellung nach Italien eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 EMRK droht, welche die Beklagte verpflichten, ein Asylverfahren in eigener Zuständigkeit durchzuführen?
bzw.
ob die durch Italien in Reaktion auf das Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache „Tarakhel“ versandten Rundschreiben an die Dublin-Einheiten der Mitgliedstaaten (sog. „circular letters“, zum Wortlaut einer derartigen Erklärung siehe im Übrigen EGMR vom 28. Juni 2016 - Nr. 15636/16, N.A./Dänemark - HUDOC Rn. 11 bzw. Rundbrief vom 8.1.2019) bzw das Rundschreiben vom 08.02.2021 diese Mindestanforderungen erfüllen und so für vulnerable Personen, insbesondere Familien mit Kindern, der nötige Zugang zu Obdach, Nahrungsmitteln und sanitären Anlagen nach Rückkehr in den Mitgliedstaat garantiert ist.
Für den Fall das diese für nicht ausreichend befunden wird:
welche Mindestanforderungen eine solche Zusicherung erfüllen muss.“
Die Beklagte hat u.a. unter Hinweis auf die neuere Rechtsprechung des EGMR, die stark gesunkenen Zahlen der neu ankommenden Asylbewerber in Italien und die damit verbundene schwächere Auslastung der vorhandenen Unterkünfte, die Verbesserung der Aufnahmebedingungen u.a. auf Grund der geänderten Gesetzeslage durch den Erlass des Gesetzdekrets 130/2020, wodurch das sog. „Salvini Dekret“ reformiert wurde, sowie die unterschiedliche Beantwortung der aufgeworfenen Tatsachenfrage in den verschiedenen niedersächsischen Verwaltungsgerichten in zureichendem Maße die Klärungsbedürftigkeit der ersten aufgeworfenen Frage dargelegt (die zweite und die dritte Frage sind in der Rechtsprechung des Senats bereits geklärt, siehe hierzu den Senatsbeschluss vom 10.5.2022 – 10 LA 49/22 – m.w.N.). Die auf Grund der Begründung des Zulassungsantrags sowie der Zusammenschau mit den weiteren aufgeworfenen Fragen und angesichts des Umstands, dass das Verwaltungsgericht für nicht vulnerable Personen keine Abschiebungsverbote angenommen hat, dahin zu verstehende Frage, ob vulnerablen Antragstellern, wie Familien mit Kindern, bei denen Italien gemäß § 29 Abs. 1 Satz 1 AsylG für die Durchführung eines Asylverfahrens zuständig ist, bei Überstellung nach Italien ohne Vorliegen einer individuellen Garantieerklärung eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 EMRK und Art. 4 GRC droht, so dass die Beklagte verpflichtet wäre, ein Asylverfahren in eigener Zuständigkeit durchzuführen, ist in der Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts unter Auswertung der aktuellen Erkenntnismittel noch nicht geklärt. Die Entscheidung des Senats (Beschluss vom 19.12.2019 - 10 LA 64/19 -, juris Rn. 19 und 21) in der dieser angenommen hat, dass es bei einer Rückkehr von als schutzberechtigt anerkannten Familien mit minderjährigen Kindern nach Italien einer konkret-individuellen Zusicherung der Gewährleistung ihrer aus Art. 4 GRC folgenden Rechte durch die dortigen Behörden bedürfe, beruht auf der im Entscheidungszeitpunkt feststellbaren Sachlage u.a. im Hinblick auf das zum damaligen Zeitpunkt geltende „Salvini Dekret“ vom 1. Dezember 2018.
Außerdem steht in den sogenannten Dublin- oder Drittstaaten-Verfahren die Ermittlung von Tatsachen bei einer sich ständig verändernden Sachlage im Vordergrund. Eine dauerhaft abschließende Prüfung ist nicht möglich, da jede Beurteilung der Sachlage aus der Natur der Sache heraus rasch an Aktualität verliert (Senatsbeschlüsse vom 8.11.2017 - 10 LA 135/17 - und vom 9.2.2018 - 10 LA 70/18 -). Deshalb kann in diesen Verfahren in der Regel nicht angenommen werden, dass eine obergerichtliche Grundsatzentscheidung zu einer bestimmten Tatsachenfrage – wie hier zu der Frage, ob vulnerablen Personen bei einer Rückkehr nach Italien ohne eine individuelle Garantieerklärung eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 EMRK und Art. 4 GRC droht – nach einem längeren Zeitablauf noch unverändert Gültigkeit beanspruchen kann. Jedenfalls bei dem hier festzustellenden Zeitablauf von etwa zweieinhalb Jahren seit der genannten Entscheidung des Senats vom 19. Dezember 2019 erscheint es möglich, dass eine nicht unwesentliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse eingetreten ist, die eine grundlegende Neubewertung erforderlich machen könnte (vgl. Senatsbeschluss vom 12.12.2019 - 10 LA 251/19 -).
Das Verwaltungsgericht hat sich jedoch in keiner Weise mit der aktuellen Situation von vulnerablen Personen in Italien befasst. Die bloße Bezugnahme auf die Tarakhel-Entscheidung des EGMR vom 4. November 2014 ist erkennbar unzureichend zur Begründung der vom Verwaltungsgericht getroffenen Feststellungen betreffend die Lage in Italien zum maßgeblichen Zeitpunkt seines Urteils vom 20. April 2022. Mangels weiterer Ausführungen des Verwaltungsgerichts insbesondere zur Situation der Kläger nach Beendigung der Unterbringung in einer Aufnahmeeinrichtung kann der Zulassungsantrag daher von vornherein auch nicht an einer unzureichenden Durchdringung der Gründe des angefochtenen Urteils scheitern.
Das Zulassungsverfahren wird unter dem Aktenzeichen
10 LB 69/22
als Berufungsverfahren fortgeführt; der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht. Die Berufung ist innerhalb eines Monats zu begründen. Die Begründung ist bei dem Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht in Lüneburg einzureichen.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).