Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 08.01.2024, Az.: 9 LA 233/21
Anforderungen an eine ordnungsgemäße Einführung von Erkenntnismitteln; Verweis auf ecoi.net in der Ladung zur mündlichen Verhandlung im gerichtlichen Asylverfahren
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 08.01.2024
- Aktenzeichen
- 9 LA 233/21
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2024, 10015
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2024:0108.9LA233.21.00
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG Lüneburg - 09.08.2021 - AZ: 3 A 152/21
Rechtsgrundlagen
- § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG
- § 138 Nr. 3 VwGO
Fundstellen
- AUAS 2024, 32-34
- DÖV 2024, 348
- NordÖR 2024, 217
Amtlicher Leitsatz
Der Verweis auf ecoi.net in der Ladung zur mündlichen Verhandlung im gerichtlichen Asylverfahren genügt nicht den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Einführung von Erkenntnismitteln.
In der Verwaltungsrechtssache
Herr A.,
A-Straße, A-Stadt
Staatsangehörigkeit: irakisch,
- Kläger und Zulassungsantragsteller -
Prozessbevollmächtigte:
Rechtsanwälte B.,
B-Straße, B-Stadt
gegen
Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Außenstelle Oldenburg -,
Klostermark 70-80, 26135 Oldenburg
- Beklagte und Zulassungsantragsgegnerin -
wegen subsidiären Schutzes
- Antrag auf Zulassung der Berufung -
hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht - 9. Senat - am 8. Januar 2024 beschlossen:
Tenor:
Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das auf die mündliche Verhandlung vom 9. August 2021 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Lüneburg - 3. Kammer (Einzelrichter) - wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die außergerichtlichen Kosten des gerichtskostenfreien Zulassungsverfahrens.
Gründe
Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts, soweit damit seine Klage auf Zuerkennung subsidiären Schutzes abgewiesen worden ist, ist unbegründet.
Die von dem Kläger geltend gemachten Zulassungsgründe eines Verfahrensfehlers nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i. V. m. § 138 Nr. 3 VwGO sowie der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache nach § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG liegen nicht vor bzw. sind nicht hinreichend dargelegt worden.
1. Die Berufung ist nicht aufgrund eines Verfahrensfehlers wegen der Verletzung rechtlichen Gehörs (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i. V. m. § 138 Nr. 3 VwGO) zuzulassen.
a) Der Kläger trägt vor, das Verwaltungsgericht habe ihm das rechtliche Gehör versagt. Es habe seinen in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisantrag zu Unrecht abgelehnt. Er habe beantragt, zu folgender Tatsachenfrage Beweis durch Einholung von Auskünften von Amnesty International, Human Rights Watch, Freedom House, ACCORD und dem Deutschen Orientinstitut zu erheben: "Droht einem Soldaten der irakischen Armee, der sich während eines Auslandsaufenthaltes (zu medizinischen Zwecken) absetzt und Asyl beantragt, mit überwiegender Wahrscheinlichkeit bei Rückkehr in den Irak Haftstrafe wegen Desertion?"
Den Beweisantrag habe er sinngemäß dahingehend begründet, dass er unbestritten den Tatbestand der Desertion erfüllt habe und dieser nach geltender irakischer Gesetzeslage mit einer Haftstrafe geahndet werde. Da sich aus einzelnen Auskünften aber auch ergebe, dass Desertion nicht immer konsequent verfolgt würde, bedürfe es der Einholung weiterer (aktueller) Auskünfte zur im Beweisantrag aufgeworfenen Tatsachenfrage, um die Wahrscheinlichkeit einer Inhaftierung bewerten zu können. Schließlich sei vorliegend die Besonderheit zu berücksichtigen, dass er, der Kläger, während eines dienstlichen Aufenthalts im Ausland desertiert sei. Er habe sich durch sein Verhalten im vorliegenden Einzelfall gleichsam vor den Augen westlicher Streitkräfte (die Desertion sei aus einem Krankenhaus der Bundeswehr erfolgt) besonders respektlos gegenüber seiner Armee verhalten und deren "Ehre beschädigt".
Das Verwaltungsgericht hat den Beweisantrag in der mündlichen Verhandlung unter Hinweis auf eigene Sachkunde abgelehnt mit der Begründung, die Sachkunde ergebe sich aus den diskutierten und in der Ladung angegebenen Erkenntnismitteln. In den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils hat das Verwaltungsgericht weiter ausgeführt, dass die vorgenommene Auswertung - neben der allgemeinen Befassung mit dem Irak - zur Bildung eigener Sachkunde des Gerichts und Beurteilung des vorliegenden Einzelfalls genüge.
Dass sich das Verwaltungsgericht für die Ablehnung des Beweisantrags auf eine eigene Sachkunde berufen hat, findet im Prozessrecht eine ausreichende Stütze.
Das Tatsachengericht darf einen auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens oder einer amtlichen Auskunft gerichteten Beweisantrag insbesondere in asylgerichtlichen Verfahren, in denen regelmäßig eine Vielzahl amtlicher Auskünfte und sachverständiger Stellungnahmen über die politischen Verhältnisse im Heimatstaat zum Gegenstand des Verfahrens gemacht werden, im Allgemeinen nach tatrichterlichem Ermessen mit dem Hinweis auf eigene Sachkunde verfahrensfehlerfrei ablehnen und die Gefährdungsprognose im Einzelfall auf der Grundlage einer tatrichterlichen Beweiswürdigung eigenständig vornehmen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 17.9.2019 - 1 B 43.19 - juris Rn. 45; NdsOVG, Beschluss vom 20.10.2023 - 4 LA 103/22 - juris Rn. 5; OVG NRW, Beschluss vom 13.7.2022 - 1 A 187/21.A - juris Rn. 7). Schöpft das Gericht seine besondere Sachkunde aus vorhandenen Gutachten und amtlichen Auskünften, so muss der Verweis hierauf dem Einwand der Beteiligten standhalten, dass in diesen Erkenntnisquellen keine, ungenügende oder widersprüchliche Aussagen zur Bewertung der aufgeworfenen Tatsachenfragen enthalten sind. Ist dies der Fall, steht die Einholung eines (weiteren) Gutachtens bzw. einer (weiteren) Auskunft auch dann im Ermessen des Gerichts (s. a. § 98 VwGO i. V. m. § 412 Abs. 1 ZPO), wenn die Erkenntnisquellen, aus denen das Gericht seine eigene Sachkunde schöpft, nicht in dem jeweiligen Verfahren eingeholt oder gerade auch nach § 411a ZPO in das Verfahren eingeführt worden sind; die Ablehnung eines hierauf gerichteten Beweisantrages setzt dann auch nicht voraus, dass das im Antrag angebotene Beweismittel schlechterdings untauglich oder völlig ungeeignet sei (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 17.9.2019, a. a. O., Rn. 46 und vom 9.12.2019 - 1 B 74.19 - juris Rn. 6; NdsOVG, Beschluss vom 20.10.2023, a. a. O., juris Rn. 5).
Hiervon ausgehend hat der Kläger nicht hinreichend dargetan, dass die von dem Verwaltungsgericht zugrunde gelegten Auskünfte ungenügend, unergiebig oder widersprüchlich wären oder dass Auskünfte fehlten, so dass es aus den vorhandenen Auskünften keine eigene Sachkunde hätte schöpfen können.
Die vom Verwaltungsgericht verwendete Auskunft von ACCORD - Anfragebeantwortung zum Irak: Desertion vom Militär, Strafen, Haftbedingungen, Ausstellung eines Reisepasses vom 5. März 2021 (https://www.ecoi.net/de/dokument/2046907.html) ist entgegen der Auffassung des Klägers ergiebig. Dem steht nicht entgegen, dass sie auf einer zeitlich begrenzten Recherche in öffentlich zugänglichen Dokumenten beruht. Die Anfragebeantwortung vom 5. März 2021 ist ergiebig, weil sie Informationen über die Folgen einer Desertion im Irak zur Verfügung stellt und die Entwicklung des Umgangs mit den irakischen Gesetzen über die Desertion dokumentiert. In der Anfragebeantwortung vom 5. März 2021 werden die Quellen, auf denen sie beruht, konkret angegeben und können über eine Verlinkung angesehen werden. Im Anhang befinden sich Kurzbeschreibungen der verwendeten Quellen sowie Ausschnitte mit Informationen aus diesen Quellen. Soweit der Kläger einwendet, dass sich die Quellen mit der besonderen Situation der Massen-Desertion im Kampf gegen den IS in den (weit zurückliegenden) Jahren 2014 und 2015 und mit der daran anknüpfenden Amnestie befassten, geben sie gleichwohl nützliche Informationen über die irakische Gesetzeslage zur Desertion und über die Umsetzung der Gesetze.
Das Verwaltungsgericht hat entgegen der Ansicht des Klägers die in der Anfragebeantwortung vom 5. März 2021 dargestellten primären Quellen gesichtet und daraus seine Sachkunde gewonnen. Dies erschließt sich zwar nicht auf den ersten Blick. Denn das Verwaltungsgericht bezeichnet in den Entscheidungsgründen die zugrunde gelegten Quellen nur mit Jahreszahlen ohne Angabe des jeweiligen Autors und weist lediglich darauf hin, dass diese Quellen in der Anfragebeantwortung von ACCORD vom 5. März 2021 zitiert seien. Aus der knappen Wiedergabe einzelner Sätze aus diesen Quellen lässt sich jedoch noch ermitteln, welche Auskünfte das Verwaltungsgericht berücksichtigt hat. Der Kläger selbst entnimmt diesen Ausführungen des Verwaltungsgerichts, dass es sich dabei u. a. um die Berichte der Norwegischen Landinfo vom 13. Dezember 2016 (https://www.ecoi.net/en/file/local/1017310/1788_1481637762_ira.pdf), des DIS - Danish Immigration Service; Landinfo - Norwegian Country of Origin Information Center: Northern Iraq: Security situation and the situation for internally displaced persons (IDPs) in the disputed areas, incl. possibility to enter and access the Kurdistan Region of Iraq (KRI), 5. November 2018 (https://www.ecoi.net/en/file/local/1450541/1226_1542182184_iraq-report-security-idps-and-access-nov2018.pdf) und des Schwedischen Migrationsverket, Lägesanalys: Irak - desertering, 12. Januar 2018 (https://www.ecoi.net/en/file/local/1423190/1788_1517390282_iraq.pdf) handeln würde. Damit räumt der Kläger ein, dass das Verwaltungsgericht Primärquellen berücksichtigt hat. Dass der Bericht von DIS aus dem Jahre 2018 auf einem Interview mit einem anonymen nicht näher charakterisierten "Irak-Analytiker" beruht und dass der Bericht des Schwedischen Migrationsverket vom 12. Januar 2018 auf einen journalistischen Artikel des Nachrichtenportals Niquash aus dem Oktober 2014 zurückgreift, steht der Ergiebigkeit dieser Auskünfte nicht entgegen. Angesichts der Schwierigkeiten, Auskünfte über die Situation im Irak zu erlangen, sind die berichtenden Organisationen auf solche Auskünfte angewiesen.
Der Kläger hat auch nicht dargelegt, dass die Anfragebeantwortung von ACCORD widersprüchlich wäre. Er trägt vor, ACCORD bestätige zunächst, dass im Irak Desertion mit (unterschiedlich hohen) Haftstrafe belegt sei. Das Verwaltungsgericht verweise dann aber auf eine in der Auskunft von ACCORD zitierte Quelle aus 2016, laut der es einerseits zu Verhaftungen bei Rückkehr in den Irak komme, es aber auch straffreie Rückkehr in den Dienst gebe. Diese Auskünfte sind nicht widersprüchlich, sondern geben Informationen über die Handhabung bzw. Durchführung des irakischen Militärstrafgesetzes wieder.
Ohne Erfolg wendet der Kläger ein, die vom Verwaltungsgericht angeführte Quelle DIS/Landinfo, 5. November 2018 (https://www.ecoi.net/en/file/local/1450541/1226_1542182184_iraq-report-security-idps-andaccess-nov2018.pdf), wonach der irakische Staat nicht in der Lage sei, Mitglieder der Sicherheitskräfte, die desertieren, zu verfolgen, befasse sich mit der Desertion von irakischen Sicherheitskräften, bei denen es sich um freiwillige Kräfte handele, und nicht mit der Desertion von Deserteuren aus der irakischen Armee. Selbst wenn diese Auskunft nicht auf die Situation desertierter Soldaten übertragbar und für die Frage der Desertion von Soldaten unergiebig sein sollte, hat das Verwaltungsgericht seine Sachkunde aber nicht allein auf diesen Bericht gestützt, sondern ausreichend auf andere Berichte, die sich mit der Desertion vom Militärdienst befassen.
Mit seinem Vorbringen, in der vom Verwaltungsgericht zugrunde gelegten Auskunft des EASO Country Guidance 2021 (https://www.ecoi.net/en/file/local/2045437/Country_Guidance_Iraq_2021.pdf) werde das Risiko einer flüchtlingsrechtlichen relevanten Verfolgung und nicht einer drohenden Haftstrafe wegen Desertion eingeschätzt, zeigt er eine Unergiebigkeit dieser Quelle nicht auf. Die von dem Kläger zitierte Stelle aus diesem Bericht befasst sich mit der Durchsetzung des Militärstrafgesetzbuchs im Falle einer Desertion.
Der Kläger rügt weiter, dass das Verwaltungsgericht mit seinem Hinweis auf die Auskunft von EASO - Iraq; Targeting of Individuals, März 2019 (https://www.ecoi.net/en/file/local/2003960/Iraq_targeting_of_individuals.pdf) eine Primärquelle doppelt benenne und dadurch (eventuell unbewusst) seine Erkenntnisquellen künstlich zu vermehren scheine, um seine Lageeinschätzung zu durch Fakten zu untermauern. Mit diesem Vorbringen hat der Kläger weder eine Unergiebigkeit noch Widersprüchlichkeit des Erkenntnismittels aufgezeigt.
Mithin hat der Kläger nicht hinreichend dargelegt, dass in den vom Verwaltungsgericht verwendeten Erkenntnismitteln keine, ungenügende oder widersprüchliche Aussagen zur Beantwortung der von ihnen mit den Hilfsbeweisanträgen aufgegriffenen Tatsachenfragen enthalten wären und das Verwaltungsgericht deshalb ermessensfehlerhaft kein (weiteres) Sachverständigengutachten eingeholt hätte.
Darauf, ob die Ausführungen des Verwaltungsgerichts, daneben diene die allgemeine Befassung mit dem Irak zur Bildung einer eigenen Sachkunde, hinreichend konkret ist, kommt es angesichts dessen, dass das Verwaltungsgericht seine Sachkunde jedenfalls auch auf konkrete Erkenntnismittel gestützt hat, nicht an.
b) Ohne Erfolg macht der Kläger zur Begründung der Verfahrensrüge weiter geltend, das Verwaltungsgericht habe die seiner Entscheidung zugrunde gelegten Erkenntnismittel nicht ordnungsgemäß in das Verfahren eingeführt. Der Kläger hatte bereits in der mündlichen Verhandlung am 9. August 2021 beanstandet, dass der allgemeine Hinweis auf die bei ecoi.net verfügbaren Erkenntnismittel nicht hinreichend konkret sei, um zu erkennen, was zur Grundlage der Entscheidung gemacht werde, und somit eine Stellungnahme nicht ermöglicht worden sei.
Der Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verpflichtet das Gericht, sein Urteil nur auf solche Tatsachen und Beweismittel zu stützen, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten. Hieraus folgt im gerichtlichen Asylverfahren grundsätzlich die Pflicht des Gerichts, die Erkenntnismittel, auf die es seine Entscheidung zu stützen beabsichtigt, in einer Weise zu bezeichnen und in das Verfahren einzuführen, die es den Verfahrensbeteiligten ermöglicht, diese zur Kenntnis zu nehmen und sich zu ihnen zu äußern (vgl. BVerfG, Beschluss vom 18.6.1985 - 2 BvR 414/84 - juris Rn. 27). Lediglich auf offenkundige Tatsachen, die allen Beteiligten gegenwärtig sind und von denen sie wissen, dass sie für die Entscheidung erheblich sein können, darf die Entscheidung auch ohne ausdrücklichen Hinweis gestützt werden. Für eine Einführung in das Verfahren reicht es dabei grundsätzlich aus, dass das Gericht den Beteiligten eine Liste der betreffenden Erkenntnismittel übersendet (vgl. NdsOVG, Beschluss vom 2.9.1996 - 12 L 2965/96 - juris Rn. 4 m. w. N.). Darüber hinaus ist es zulässig, Erkenntnismittel in der Weise in das gerichtliche Verfahren einzuführen, dass die vom Gericht geführte Erkenntnismittelliste auf einer allgemein zugänglichen, den Beteiligten bekannten Internetseite veröffentlicht wird und denjenigen, die nicht über einen Internetzugang verfügen bzw. diesen nicht nutzen wollen, die Liste auf Anforderung gesondert zugeleitet und gleichzeitig angegeben wird, dass und wie die darin aufgeführten Erkenntnismittel beim Gericht eingesehen werden können (vgl. NdsOVG, Beschlüsse vom 9.3.2022 - 11 LA 142/21 - n. v., vom 8.7.2014 - 13 LA 16/14 - juris Rn. 4 und vom 26.10.2004 - 8 LA 146/04 - juris Rn. 2 f.).
Diesen Vorgaben genügte die vom Verwaltungsgericht vor der Ladung übersandte Mitteilung von Erkenntnismitteln allerdings nicht.
Das Verwaltungsgericht hat dem Kläger vor der mündlichen Verhandlung keine Erkenntnismittelliste übersandt. Es hat in der Ladung nur darauf hingewiesen, dass es die Lageberichte des Auswärtigen Amtes (aktuell vom 22.1.2021 - Übersendung auf Anfrage) und die Erkenntnismittel des Europäischen Herkunftsländersystems (ecoi.net) auswerten werde. Diese Erkenntnismittel würden zum Gegenstand des vorliegenden Verfahrens gemacht, insbesondere die EASO-Leitlinien zum Irak (aktuell vom Januar 2021, englisch). Ebenso werde auf die REAG/GARP-Rückkehrhilfen hingewiesen, https://www.returningfromgermany.de/de/programmes/reag-garp/.
Das Verwaltungsgericht hat seine Entscheidung auf Berichte gestützt, die bei ecoi.net hinterlegt sind. In den Entscheidungsgründen führt das Verwaltungsgericht weiter aus, der Bericht von EASO aus 2019 zum Vorgehen staatlicher Akteure gegen Einzelpersonen (https://www.ecoi.net/de/dokument/2003960.html) habe dem Kläger nicht ausdrücklich mitgeteilt werden müssen. Zum einen vervollständige die Quelle nur das Bild, dass sich aus den anderen, mit dem Klägervertreter besprochenen Quellen ergebe. Zum anderen habe das Gericht den Kläger auf die Auswertung von ecoi.net als Erkenntnisquelle hingewiesen. Wenn es dem rechtlichen Gehör genüge, auf eine 58-seitige Erkenntnismittelliste zu verweisen, so dürfe dies erst recht auf einen Verweis auf ecoi.net zutreffen. Die Datenbank biete mit ihrer Suchfunktion und Direktverlinkung einen weitaus komfortableren und damit leichteren Zugang zu den Erkenntnisquellen, da unmittelbar nach den relevanten Quellen gefiltert werden könne und sogar die einzelnen Aussagen in der Vorschau betrachtet werden könnten.
Dem ist nicht zu folgen.
Der Verweis auf ecoi.net genügt nicht den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Einführung von Erkenntnismitteln. Die Erkenntnismittel sind "im Einzelnen bezeichnet" zum Gegenstand des Verfahrens zu machen, damit sich die Beteiligten dazu äußern können (Funke-Kaiser, in: GK-AsylG, Stand: Dezember 2022, § 78 Rn. 334). Dem pauschalen Hinweis des Verwaltungsgerichts auf ecoi.net ist nicht zu entnehmen, um welche Erkenntnismittel es sich im Einzelnen handelt. Zudem ist unklar, auf welchen Zeitpunkt der auf ecoi.net veröffentlichen Erkenntnismittel das Verwaltungsgericht bei seiner Entscheidung abstellen wollte (vgl. auch NdsOVG, Beschluss vom 9.3.2022 - 11 LA 142/21 - n. v.).
Allerdings führt die unterbliebene Einführung von entscheidungserheblichen Erkenntnismitteln nicht automatisch zur Zulassung der Berufung wegen eines Verfahrensfehlers i. S. d. § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i. V. m. § 138 Nr. 3 VwGO. Denn die Verletzung rechtlichen Gehörs setzt voraus, dass die angegriffene Entscheidung auf dem Fehlen des rechtlichen Gehörs beruht. Das ist nur dann der Fall, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Anhörung des Beteiligten zu einer anderen und für ihn günstigeren Entscheidung geführt hätte. Der Anspruch auf rechtliches Gehör bezieht sich nämlich nur auf entscheidungserhebliches Vorbringen. Demzufolge muss vom Zulassungsantragsteller auch in Streitigkeiten nach dem Asylgesetz dargelegt werden, was er bei ausreichender Gewährung rechtlichen Gehörs vorgetragen hätte, mithin weshalb der geltend gemachte Gehörsverstoß entscheidungserheblich ist (vgl. NdsOVG, Beschluss vom 10.7.2019 - 10 LA 35/19 - juris Rn. 7 m. w. N.; vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 29.12.2004 - 1 B 91.04 - juris Rn. 3). Bei nicht ordnungsgemäßer Einführung von Erkenntnismitteln ist auszuführen, in welchem Zusammenhang das Verwaltungsgericht das jeweilige Erkenntnismittel herangezogen hat, inwieweit die in dem Erkenntnismittel enthaltenen Tatsachen oder die hieraus von dem Verwaltungsgericht gezogenen Schlüsse unzutreffend sind und was - bei ordnungsgemäßer Einführung - in Bezug auf die in diesem Erkenntnismittel enthaltenen Tatsachen vorgetragen worden wäre. Denn nur auf dieser Grundlage kann geprüft und entschieden werden, ob auszuschließen ist, dass die Gewährung rechtlichen Gehörs zu einer anderen, für den Kläger günstigeren Entscheidung geführt hätte (vgl. NdsOVG, Beschluss vom 10.7.2019, a. a. O., Rn. 7, m. w. N.; OVG NRW, Beschluss vom 9.2.2022 - 19 A 544/21.A - juris Rn. 19). Verfahrensfehlerhaft nicht eingeführte Erkenntnismittel muss der Rechtsmittelführer - wenn sie ihm nicht ohne weiteres zugänglich sind - innerhalb der Rechtsmittelfrist anfordern, überprüfen und dann im Einzelnen darlegen, was er zu den darin enthaltenen Feststellungen ausgeführt hätte (vgl. BVerwG, Beschluss vom 14.4.2005 - 1 B 161.04 - juris Rn. 3; NdsOVG, Beschluss vom 9.3.2022 - 11 LA 142/21 - n. v.; OVG LSA, Beschluss vom 29.11.2021 - 2 L 54/20.Z - juris Rn. 12).
An diesen Voraussetzungen fehlt es hier.
Denn der Kläger hat selbst die vom Verwaltungsgericht zugrunde gelegte Anfragebeantwortung von ACCORD und die EASO-Leitlinien Country Guidance Iraq vom Januar 2021 in seinem Schriftsatz vom 6. August 2021 zitiert und hierzu bereits vorgetragen. Weiter räumt der Kläger ein, dass es keiner ausdrücklichen Einführung des EASO-Berichtes aus 2019 bedurft hätte, weil das Gericht mit dem EASO-Bericht keine weiteren Erkenntnismittel benannt, sondern lediglich bereits zuvor durch Bezugnahme auf die ACCORD-Anfragebeantwortung aus 2021 eingeführte Primärquellen doppelt angeführt habe.
Der Kläger hat auch nicht hinreichend dargelegt, was er bei ausreichender Gewährung rechtlichen Gehörs vorgetragen hätte. Er trägt hierzu vor, dass er - wenn sich das erkennende Gericht ausdrücklich auf diese Erkenntnisse im Rahmen der Ablehnung des Beweisantrages bezogen und zudem zu erkennen gegeben hätte, dass es eine drohende Verhaftung des Klägers nicht für wahrscheinlich erachte - zumindest in groben Zügen die dargestellten Einwände hätte darlegen können, insbesondere, dass die vom Gericht angeführten Erkenntnisse überwiegend im Zusammenhang mit der Massendesertion in den Jahren 2014 bis 2016 zu sehen seien und keine Rückschlüsse auf die seine, des Klägers, aktuelle Rückkehrersituation zuließen. Der Kläger hat jedoch bereits in seinem Schriftsatz vom 6. August 2021 unter Hinweis auf die Anfragebeantwortung von ACCORD vom 5. März 2021 und die darin erwähnte Amnestie vom August 2016 darauf aufmerksam gemacht, dass er, der Kläger, von einer etwaigen Amnestie für Deserteure nicht profitieren könne. Dem Kläger war angesichts der von ihm in der mündlichen Verhandlung vom 9. August 2021 gestellten Beweisfrage überdies bekannt, dass es auf die Frage einer drohenden Verhaftung des Klägers ankommen würde.
Vor diesem Hintergrund hat der Kläger keinen entscheidungserheblichen Gehörverstoß aufgezeigt.
2. Eine Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) kommt ebenfalls nicht in Betracht.
Der Kläger hält die Frage für klärungsbedürftig:
"Droht einem ehemaligen Angehörigen der irakischen Armee wegen Desertion ins Ausland, nach längeren Auslandsaufenthalt im Fall einer Rückkehr in den Irak mit überwiegender Wahrscheinlichkeit eine Haftstrafe?"
Diese Frage ist nicht grundsätzlich klärungsfähig. Ihre Beantwortung ist vielmehr von den konkreten Umständen des Einzelfalls abhängig, wie z. B. von dem Grund für den Auslandsaufenthalt (hier z. B. medizinische Behandlung der schweren Verletzungen während der Tätigkeit als irakischer Berufssoldat mit Genehmigung des irakischen Verteidigungsministeriums), von der konkreten Situation, in der die Desertion stattfand, welchen Streitkräften der Kläger angehörte und welchen Rang der Kläger beim Militär hatte.
Abgesehen davon hat der Kläger eine Klärungsbedürftigkeit der aufgeworfenen Frage nicht hinreichend dargelegt.
Er macht geltend, von einer Klärungsbedürftigkeit sei u. a. dann auszugehen, wenn eine widersprüchliche Auskunftslage vorliege, mit der sich das Obergericht noch nicht ausein-andergesetzt habe.
Der Kläger hat jedoch - wie ausgeführt - keine widersprüchliche Auskunftslage dargetan.
Einen Widerspruch zeigt er auch nicht mit seinem Vortrag auf, das Gericht weise darauf hin, dass 2019 45.000 Soldaten wieder in den Dienst eingestellt worden seien (vgl. MEMO Iraq announces return of over 45,000 people to military service, 6. November 2019 https://www.middleeastmonitor.com/20191106-iraq-announces-return-ofover-45000-people-to-military-service/), aus dem Artikel ergebe sich jedoch eindeutig, dass die Einstellung der Schaffung von Arbeitsplätzen diene; ob in den Vorjahren Haftstrafen verhängt worden seien und wie diesbezüglich die Situation in 2021 sei, ergebe sich aus dem Artikel nicht. Aus diesem Vorbringen ergibt sich jedoch nicht, dass diese Auskunft widersprüchlich wäre.
Der Kläger hat auch keine Widersprüchlichkeit des Lageberichts des Auswärtigen Amtes von 2021 dargelegt, wonach Deserteure durch einen Wiedereintritt in die Armee Straffreiheit erlangen könnten. Er meint, ein solches Angebot mache denknotwendig nur Sinn, wenn bei fehlender Rückkehr in den Militärdienst eine Strafbefreiung gerade nicht eintrete, also Strafe drohe. Er zieht damit eine Schlussfolgerung aus dem Bericht. Dass der Bericht widersprüchlich wäre, lässt sich dem nicht entnehmen.
Soweit sich der Kläger mit diesem Vorbringen im Rahmen des geltend gemachten Zulassungsgrundes der grundsätzlichen Bedeutung gegen die von dem Verwaltungsgericht vorgenommene Würdigung der Auskünfte wenden wollte, könnte er sich allenfalls auf einen Verfahrensmangel nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i. V. m. § 138 Nr. 3 VwGO berufen. Wird die Beweiswürdigung gerügt, scheidet jedoch eine allein darauf gestützte Gehörsverletzung aus. Denn in der Regel sind die Grundsätze der Beweiswürdigung nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem materiellen Recht zuzuordnen. Zwar kann ein Verfahrensfehler ausnahmsweise dann gegeben sein, wenn die Beweiswürdigung objektiv willkürlich ist, gegen Denkgesetze verstößt oder einen allgemeinen Erfahrungssatz missachtet. Das setzt aber jedenfalls voraus, dass sich der gerügte Fehler hinreichend eindeutig von der materiell-rechtlichen Subsumtion, d. h. der korrekten Anwendung des sachlichen Rechts abgrenzen lässt und der Tatrichter den ihm bei der Tatsachenfeststellung durch den Grundsatz freier Beweiswürdigung gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO eröffneten Wertungsrahmen verlassen hat (vgl. BVerwG, Beschluss vom 10.10.2013 - 10 B 19.13 - juris Rn. 4 m. w. N.). Dafür ist hier nichts ersichtlich. Doch selbst bei einer Sachverhaltswürdigung, die so schwere Defizite aufweist, dass der Verstoß gegen § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO als Verfahrensfehler anzusehen ist, wäre ein daraus resultierender Verfahrensfehler jedenfalls kein Verstoß auch gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs gemäß § 138 Nr. 3 VwGO i. V. m. § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG, sondern nur ein allgemeiner Verfahrensfehler i. S. v. § 132 Abs. 2 Nr. 3 i. V. m. § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO, auf den aber im Asylprozess ein Berufungszulassungsantrag nicht gestützt werden kann (vgl. BayVGH, Beschluss vom 17.5.2018 - 14 ZB 17.30263 - juris Rn. 8 m. w. N.).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO und § 83 b AsylG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).