Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 23.05.2000, Az.: 4 L 796/00

Betreuungsperson; Eingliederungshilfe; Schulgeld; Sonderschule; Waldorfschule

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
23.05.2000
Aktenzeichen
4 L 796/00
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2000, 41545
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - AZ: 4 A 56/98

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Zum Anspruch auf Gewährung von Eingliederungshilfe für die Kosten des Besuchs einer Waldorf-Sonderschule und einer Begleitung.

Gründe

1

Dem Kläger ist für das Verfahren zweiter Instanz gem. § 166 VwGO i.V.m. §§ 114 ff., 119 Abs. 1 Satz 2, 121 Abs. 2 ZPO Prozeßkostenhilfe zu bewilligen und sein Prozeßbevollmächtigter beizuordnen.

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Der Antrag des Beklagten auf Zulassung der Berufung ist nicht begründet.

3

Nach § 124 Abs. 2 VwGO (i.d.F. des 6. VwGO-Änderungsgesetzes vom 1. November 1996, BGBl. I S. 1626) ist die Berufung nur zuzulassen,

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1. wenn ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,

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2. wenn die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,

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3. wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,

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4. wenn das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder

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5. wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

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Gem. § 124 a Abs. 1 Satz 4 VwGO sind in dem Antrag auf Zulassung der Berufung die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen.

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Im vorliegenden Verfahren liegt ein Zulassungsgrund nicht vor.

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Insbesondere bestehen nicht "ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils". Bei der Beurteilung, ob ernsthafte Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts i. S. von § 124 Abs. 2 Nr. 1 - i.V.m. § 146 Abs. 4 - VwGO bestehen, kommt es nicht darauf an, ob die von dem Gericht für seine Entscheidung angeführten Gründe zutreffen; notwendig sind vielmehr ernsthafte Zweifel an der Richtigkeit des von dem Verwaltungsgericht gefundenen Ergebnisses (OVG Lüneburg, B. v. 22.9.1997 - 12 M 4493/97 -, V.n.b.; ebenso: HambOVG, B. v. 20.2.1997 - Bs IV 19/97 -, DVBl. 1997, 1333; VGH BW, B. v. 21.4.1997 - 8 S 667/97 -, VBlBW 1997, 380 = DVBl. 1997, 1327; HessVGH, B. v. 15.7.1997 - 13 TZ 1947/97 -, HessJMBl. 1997, 818).

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Das Verwaltungsgericht hat der Klage, soweit der Kläger sie noch aufrechterhalten hatte, zu Recht stattgegeben. Der Senat macht sich die zutreffenden Erwägungen des angefochtenen Urteils zu eigen und verweist deshalb auf sie (§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO). Das Antragsvorbringen begründet Zweifel an der Richtigkeit des Urteils nicht.

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Zwischen den Beteiligten ist (weiterhin) unstreitig, daß die private Johannes-Schule, die der Kläger besucht, für seine Förderung nicht weniger geeignet ist als die (öffentliche) Vechtetal-Schule. Zwar hat der Kläger zur J.-Schule einen deutlich weiteren Schulweg, als er ihn bei einem Besuch der V.-Schule hätte. Ob das den sich aus § 114 Abs. 2 NSchG ergebenden Vorstellungen des Gesetzgebers über die Belastung von Schülern durch den Schulweg widerspricht, wie der Beklagte meint, ist hier schon deshalb unerheblich, weil die Schulaufsichtsbehörde der Beschulung des Klägers in der J.-Schule mit Bescheid vom 23. Juni 1997 ausdrücklich zugestimmt hat.

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Der Beklagte wendet sich allerdings auch in erster Linie gegen die das Urteil tragende Feststellung des Verwaltungsgerichts, dem Kläger sei ab Dezember 1997, d.h. nach Ablauf von drei Monaten nach Beginn der Beschulung in der J.-Schule, ein Schulwechsel nicht mehr zuzumuten gewesen. Das Verwaltungsgericht hat sich insoweit auf die Ausführungen des von ihm beauftragten Sachverständigen in dessen jugendpsychiatrischen Gutachten (GA Bl. 47 ff.) und in der mündlichen Verhandlung (Sitzungsniederschrift GA Bl. 88 ff.) gestützt. Auf S. 29 des Gutachtens (GA Bl. 75) heißt es dazu u.a.:

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"Für geistig Behinderte wie T. beinhaltet eine angemessene Förderung eine größtmögliche Verläßlichkeit sowohl im häuslichen Umfeld als auch im Bereich des schulischen Förderortes. Die Fähigkeit von T., sich auf neue Situationen und Umgebungen einzustellen, ist aufgrund seiner Behinderung erheblich beeinträchtigt. Daher ist im Rahmen einer angemessenen Entwicklungsförderung auf Beibehaltung und Konstanz der Umgebungsbedingungen, Strukturen und vertrauten Personen größtmöglicher Wert zu legen. Andernfalls besteht das Risiko emotionaler und desozialer Begleitstörungen, wie sie bei geistig Behinderten bei inadäquater Förderung häufig sind. Dafür ergeben sich zum jetzigen Zeitpunkt keine Anhaltspunkte. Daher ist von einem Schulwechsel zum jetzigen Zeitpunkt abzusehen."

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In der mündlichen Verhandlung hat der Sachverständige u.a. erklärt (GA Bl. 88):

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"Nach dem Grad der Einschränkungen des Klägers war ein Wechsel in eine andere Schule mit zunehmender Zeit im J. immer schwieriger. Meine persönliche Meinung geht dahin, dass nach einem Eingewöhnungsablauf von zwei bis drei Monaten ein Wechsel auf eine andere Schule ohne wesentliche Einschränkungen der Persönlichkeitsentwicklung nicht mehr sinnvoll war."

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Der Beklagte setzt diesem Gutachten Stellungnahmen der Sonderschulrektorin R. - Leiterin der V.-Schule - vom 16. Februar 2000 und des Dr. med. R. - Ltd. Arzt der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychosomatik des "G. Klinikum" - vom 24. Februar 2000 entgegen. Beide Stellungnahmen begründen aber nicht erhebliche Zweifel an der Verwertbarkeit des vom Verwaltungsgericht eingeholten Gutachtens und damit letztlich des angefochtenen Urteils.

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Zweifelhaft erscheint bereits, inwieweit Frau R. bei der Erstellung ihrer Stellungnahme unabhängig war (sein kann). Denn sie ist Leiterin der Schule, die der Kläger nach Meinung des Beklagten besuchen sollte, und steht als solche in einem besonderen dienstlichen Abhängigkeitsverhältnis zu dem Beklagten als Schulträger.

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In der Sache argumentiert Frau R. aus sonderpädagogischer Sicht anhand der in der V.-Schule bestehenden Förderziele und -bedingungen (S. 2 der Stellungnahme, GA Bl. 123). Es ist nicht erkennbar, inwieweit die unterschiedliche Einschätzung durch den gerichtlichen Sachverständigen einerseits und Frau R. andererseits auf unterschiedlichen Sichtweisen von Seiten der Sonderpädagogik bzw. der (Jugend-)Psychiatrie oder auf Unterschieden zwischen "alten" und "neuen" Denkmodellen (S. 3 der Stellungnahme, GA Bl. 124) in diesen Disziplinen beruhen. Die Stellungnahme gibt deshalb nicht Anlaß zu der Annahme, daß die von Frau R. vertretene Meinung "richtiger" sein könnte als die des gerichtlichen Sachverständigen.

21

Zutreffend wendet Frau R. zwar ein, der gerichtliche Sachverständige habe keine "testdiagnostische Untersuchung" (zur Überprüfung des aktuellen intellektuellen Niveaus Gutachten S. 25, GA Bl. 71) durchgeführt. Der Sachverständige konnte sich aber für seine Stellungnahme auf eine persönliche Untersuchung und Beobachtung des Klägers stützen. Demgegenüber kennt Frau R. den Kläger offenbar nicht und argumentiert mithin zwangsläufig nur "abstrakt sonderpädagogisch".

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Entgegen der Meinung der Frau R. hält der Senat die Auffassung des Sachverständigen, dass ein einmaliger Schulwechsel aus psychiatrischer Sicht nachteiliger sei als eine Dauerbelastung durch einen langen Schulweg, nicht für widersprüchlich, sofern man sie - mit dem Verwaltungsgericht - so versteht, dass entscheidend der Wechsel des gesamten sozialen Umfeldes sei.

23

Die von Frau R. besonders hervorgehobenen Möglichkeiten der Integration behinderter Kinder in den Kreis der Nichtbehinderten mögen in der V.-Schule besser sein als in der J.-Schule. Hierauf kommt es aber letztlich nicht an, da auch der Beklagte die Eignung der J.-Schule für eine angemessene Förderung des Klägers nicht bestreitet.

24

Die letztgenannte Erwägung gilt auch für die Stellungnahme des Dr. R., soweit sich der überwiegende Teil seiner Ausführungen auf die besseren Integrationsmöglichkeiten in der V.-Schule und den kürzeren Schulweg bezieht. Im übrigen bemängelt er, der den Kläger offenbar ebenfalls nicht persönlich kennt und nur auf das schriftliche Sachverständigengutachten Bezug nimmt, daß der Sachverständige seine Folgerungen nicht aus irgendwelchen Untersuchungen konkret hergeleitet habe. Angesichts dessen, dass der Kläger persönlich bei dem Sachverständigen vorgestellt und von diesem auch untersucht worden ist, bedürfte es aber konkreter Angaben, welche weiteren Untersuchungen der Sachverständige aus wissenschaftlich-methodischer Sicht noch unbedingt hätte durchführen müssen. Ohne solche Angaben ergeben sich für den Senat Zweifel daran, daß die Angaben des Sachverständigen hinreichend wissenschaftlich fundiert sind, nicht.

25

Aus dem Vorbringen des Beklagten ergeben sich somit eine Zulassung der Berufung rechtfertigende "erhebliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils" nicht. Sie sind auch sonst nicht ersichtlich. Aus denselben Gründen kommt auch eine Zulassung der Berufung nach § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO (wegen besonderer tatsächlicher oder rechtlicher Schwierigkeiten) nicht in Betracht.

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Eine die Zulassung der Berufung rechtfertigende "grundsätzliche Bedeutung" (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) kommt der Rechtssache auch nicht zu. Die Entscheidung beruht auf einer Würdigung der Lebenssituation dieses Klägers und enthält verallgemeinerungsfähige grundsätzliche Feststellungen nicht.