Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 11.03.2020, Az.: 1 OA 7/20

Additionsverbot; Baunachbarstreit; Streitwertannahmen der Bausenate; Streitwertbeschwerde; Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit; Zusammenrechnung

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
11.03.2020
Aktenzeichen
1 OA 7/20
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2020, 71656
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 11.12.2019 - AZ: 2 A 654/17

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Die Anfechtung einer dem Nachbarn erteilten Baugenehmigung und das Begehren auf bauaufsichtliches Einschreiten gegen den Nachbarn sind Ansprüche von selbständigem Wert, so dass ihre Streitwerte nach § 39 Abs. 1 GKG zusammenzurechnen sind.

Tenor:

Die Beschwerde gegen die Streitwertfestsetzung im Urteil des Verwaltungsgerichts Braunschweig vom 11. Dezember 2019 wird zurückgewiesen.

Das Beschwerdeverfahren ist gebührenfrei. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet.

Gründe

I.

Die Klägerin wendet sich gegen die Festsetzung des Wertes des Streitgegenstandes in einem verbundenen Baunachbarstreit.

Die Klägerin und der Beigeladene sind Eigentümer benachbarter Hausgrundstücke im Gebiet des Beklagten. 2016 zeigte die Klägerin dem Beklagten an, dass der Beigeladene das Dachgeschoss seines Hauses zu einer Wohnung ausgebaut hatte und diese vermietete. Ihrem Begehren, gegen den Beigeladenen bauaufsichtlich einzuschreiten, kam der Beklagte allerdings nicht nach. Daraufhin erhob die Klägerin 2017 gegen ihn Klage. 2018 strengte die Klägerin zudem Klage gegen die dem Beigeladenen zwischenzeitlich von dem Beklagten für die Nutzungsänderung erteilte Baugenehmigung an. Die beiden erstinstanzlichen Verfahren wurden im Dezember 2019 zusammen verhandelt und auch zur gemeinsamen Entscheidung verbunden. Das Verwaltungsgericht wies die Klage als unbegründet ab und legte der Klägerin die Verfahrenskosten einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen auf. Den Wert des Streitgegenstandes setzte es auf 34.000,00 EUR fest. Zur Begründung führte es aus: Die Streitwertfestsetzung erfolge gemäß § 52 Abs. 1 GKG und orientiere sich an Ziff. 8 a) des Streitwertkatalogs des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts. Danach betrage der Streitwert einer Nachbarklage wegen der Beeinträchtigung eines Einfamilienhauses zwischen 4.000,00 EUR und 30.000,00 EUR. Vorliegend sei die Kammer jeweils von dem Mittelwert ausgegangen und habe diesen für die beiden Verfahren nach deren Verbindung addiert.

Mit ihrer im Januar 2020 erhobenen Beschwerde erstrebt die Klägerin die Herabsetzung des Streitwertes auf 15.000,00 EUR. Zur Begründung verweist sie darauf, dass nach Ziffer 9.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 der Wert des Streitgegenstandes der Klage eines Drittbetroffenen zwischen 7.500,00 EUR und 15.000,00 EUR betrage. Der vom Verwaltungsgericht festgesetzte Streitwert könne daher nicht nachvollzogen werden. Die zitierte Rechtsprechung dürfte überholt sein.

II.

Die zulässige Beschwerde ist unbegründet. Die vom Verwaltungsgericht (für das verbundene Verfahren) vorgenommene Streitwertfestsetzung in Höhe von 34.000,00 EUR weist keine Rechtsfehler auf.

Als Ausgangspunkt der Streitwertfestsetzung hat das Verwaltungsgericht zutreffend § 52 Abs. 1 GKG angenommen. Nach dieser Vorschrift ist in Verfahren u.a. vor den Gerichten der Verwaltungsgerichtsbarkeit der Streitwert grundsätzlich nach der sich aus dem Antrag des Klägers für ihn ergebenden Bedeutung der Sache nach Ermessen zu bestimmen. Entgegen der Auffassung der Klägerin war das Verwaltungsgericht bei der Ausübung des ihm durch § 52 Abs. 1 GKG eröffneten Ermessens nicht verpflichtet, auf den Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit i.d.F. der am 31.5./1.6.2012 und 18.7.2013 beschlossenen Änderungen (vgl. https://www.bverwg.de/user/data/media/streitwertkatalog.pdf) abzustellen. Seine stattdessen vorgenommene Orientierung an den Streitwertannahmen der Bausenate des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts für Verfahren ab dem 1. Januar 2002 (vgl. https://oberverwaltungsgericht.niedersachsen.de/service/streitwertkatalog/-79572.html; im Folgenden kurz: Streitwertannahmen der Bausenate) ist nicht zu beanstanden.

Der von einer aus Richterinnen und Richtern der Verwaltungsgerichtsbarkeit zusammengesetzten Streitwertkommission erarbeitete Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit hat - worauf in seinen Vorbemerkungen auch ausdrücklich hingewiesen wird - keine normative Verbindlichkeit, sondern enthält lediglich Empfehlungen (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 25. Aufl. 2019, Anh § 164, Rn. 6 insb. mit Verweis auf BVerfG, Kammerbeschl. v. 24.8.1993 - 2 BvR 1858/92 -, juris Rn. 32). Von der Möglichkeit, von diesem Streitwertkatalog abzuweichen, hat der Senat durch die auf ihn und den früher ebenfalls für das Baurecht zuständigen 6. Senat des Gerichts zurückgehenden Streitwertannahmen der Bausenate Gebrauch gemacht (vgl. Senatsbeschl. v. 14.10.2014 - 1 OA 127/14 -, juris Rn. 1). Dieser Katalog ist aus der Rechtsprechung der Bausenate entwickelt und trägt deshalb zur Übersichtlichkeit und zur Gleichbehandlung bei der Handhabung des Ermessens in baurechtlichen Fällen innerhalb der niedersächsischen Verwaltungsgerichtsbarkeit bei. Die Streitwertannahmen der Bausenate bieten darüber hinaus ein stärker ausdifferenziertes System, das sich bemüht, auf alle wesentlichen im baurechtlichen Bereich vorkommenden Fallgestaltungen einzugehen (vgl. Senatsbeschl. v. 23.7.2013 - 1 OA 102/13 -, n.v., Beschlussabdruck S. 4).

Mit seiner Orientierung an den Streitwertannahmen der Bausenate ist das Verwaltungsgericht demgemäß der ständigen Rechtsprechung des Senats gefolgt. Zwar mag aufgrund des zwischenzeitlich eingetretenen Zeitablaufs für die Zukunft eine Überarbeitung des Katalogs in Betracht zu ziehen sein. Überholt sind die Streitwertannahmen aber, anders als die Klägerin meint, derzeit noch nicht. Konkrete Einwände gegen den von Ziff. 8 a) der Streitwertannahmen der Bausenate für Nachbarklagen, die - wie im Fall der Klägerin - die Beeinträchtigung eines Einfamilienhauses betreffen, vorgesehenen Streitwertrahmen von 4.000,00 EUR bis 30.000,00 EUR hat sie auch nicht erhoben.

An der Darlegung von Bedenken fehlt es auch gegenüber dem vom Verwaltungsgericht vorgenommenen Ansatz eines sich aus dem Streitwertrahmen ergebenden Mittelwertes von 17.000,00 EUR für jedes der beiden erstinstanzlichen Verfahren. Grundlage der Streitwertbemessung im Baunachbarstreit sind der zur Begründung vorgetragene Sachverhalt und insbesondere die geklagten Beeinträchtigungen (vgl. Senatsbeschl. v. 7.1.2014 - 1 OA 225/13 -, juris Leitsatz 1 und Rn. 2). Geltend gemacht hatte die Klägerin jeweils eine mit der Nutzungsänderung verbundene Verletzung des erforderlichen Grenzabstandes sowie eine Beeinträchtigung ihrer Privatsphäre durch neu geschaffene Einsichtsmöglichkeiten und Lärmbelästigungen. Die hinter dem Ansatz des Mittelwertes stehende Einordnung als Nachbarklage von für den Rechtsschutzsuchenden durchschnittlicher Bedeutung ist hiernach vertretbar.

Schließlich hat das Verwaltungsgericht zu Recht die von ihm angenommenen Einzelstreitwerte für das verbundene Verfahren addiert. Gemäß § 39 Abs. 1 GKG werden in demselben Verfahren und in demselben Rechtszug die Werte mehrerer Streitgegenstände zusammengerechnet, soweit - was vorliegend nicht der Fall ist - nichts anderes bestimmt ist. Zwar setzt die Zusammenrechnung nach § 39 Abs. 1 GKG voraus, dass die mehreren Ansprüche von selbständigem Wert sind, mithin nicht wirtschaftlich denselben Gegenstand haben bzw. nicht auf dasselbe Ziel gerichtet sind (vgl. BVerwG, Beschl. v. 22.9.1981 - 1 C 23.81 -, juris Rn. 1; Beschl. v. 16.12.1988 - 7 C 93.86 -, juris Rn. 12; siehe auch Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 15.1.2010 - 8 OA 225/09 -, juris Leitsatz 1 und Rn. 4 m.w.N.). Dieses in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellte „Additionsverbot wegen wirtschaftlicher Identität“ greift hier aber nicht ein. Das von der Klägerin zunächst anhängig gemachte Begehren auf bauaufsichtliches Einschreiten des Beklagten gegen den Beigeladenen wird nicht durch die sodann gegen die die Nutzungsänderung legalisierende Baugenehmigung erhobene Klage vollständig konsumiert.

Zwar setzt die von der Klägerin erstrebte Nutzungsuntersagung gemäß § 79 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 5 NBauO einen baurechtswidrigen Zustand und damit die vorhergehende Aufhebung der dem Beigeladenen erteilten Baugenehmigung voraus. Umgekehrt folgt aus der Illegalität der von dem Beigeladenen vorgenommenen Nutzungsänderung aber noch keine - gegenüber der Klägerin bestehende - Verpflichtung des Beklagten zum bauaufsichtlichen Einschreiten. Die Anordnung von Maßnahmen bleibt in das Ermessen des Beklagten gestellt. Die mit den beiden Klagen verfolgten Ansprüche sind hiernach von selbständigem Wert (ähnlich OVG Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 9.8.2011 - 1 E 10808/11 -, juris Leitsatz 4 und Rn. 12 zur Zusammenrechnung der Streitwerte einer Verpflichtungsklage auf Erteilung einer Baugenehmigung und einer Anfechtungsklage gegen eine Beseitigungsverfügung).

Die Nebenentscheidungen folgen aus § 68 Abs. 3 GKG.

Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).