Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 13.03.2020, Az.: 9 LA 46/20

Abweisung einer Klage auf Feststellung nationaler Abschiebungsverbote wegen psychischer Erkrankung; Anforderungen an eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung im Rahmen des Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG; Berufung auf eine fehlende Sicherung des existentiellen Lebensunterhalts aufgrund einer Erkrankung; Zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
13.03.2020
Aktenzeichen
9 LA 46/20
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2020, 14587
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Auch im Rahmen der Prüfung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG ist der Maßstab des § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG für qualifizierte ärztliche Bescheinigungen anzuwenden, wenn sich der Ausländer auf eine Erkrankung beruft, aufgrund derer er im Zielstaat seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern könne.

Tenor:

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das auf die mündliche Verhandlung vom 27. Januar 2020 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Lüneburg - 3. Kammer (Einzelrichter) -, soweit damit die auf die Feststellung nationaler Abschiebungsverbote gerichtete Klage abgewiesen worden ist, wird abgelehnt.

Der Kläger trägt die außergerichtlichen Kosten des Zulassungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Antrag des Klägers, die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts zuzulassen, soweit dieses seine auf die Feststellung nationaler Abschiebungsverbote gerichtete Klage abgewiesen hat, bleibt ohne Erfolg.

Der Kläger hat den allein geltend gemachten Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) nicht in einer den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG entsprechenden Weise dargelegt.

Eine Rechtssache ist grundsätzlich bedeutsam i. S. d. § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG, wenn sie eine höchstrichterlich oder - soweit es eine Tatsachenfrage betrifft - obergerichtlich noch nicht beantwortete Frage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die im angestrebten Berufungsverfahren entscheidungserheblich und klärungsfähig wäre und im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Weiterentwicklung des Rechts einer fallübergreifenden Klärung in einem Berufungsverfahren bedarf.

Das Darlegungserfordernis nach § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG setzt insoweit die Formulierung einer bestimmten, noch ungeklärten und für die Berufungsentscheidung erheblichen Tatsachen- oder Rechtsfrage und außerdem die Angabe voraus, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung besteht (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 5.11.2018 - 1 B 77.18 - juris Rn. 9; vom 12.9.2018 - 1 B 50.18 - juris Rn. 4 zu §§ 132 Abs. 2 Nr. 1, 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO).

Hiernach kommt der Rechtssache die von dem Kläger geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung nicht zu.

Der Kläger wirft die Frage auf,

"ob die gesetzlichen Anforderungen des § 60a Abs. 2c S. 2, 3 AufenthG auch im Rahmen der Prüfung des § 60 Abs. 5 AufenthG gelten, wo es nicht um die Frage geht, ob Gesundheitsgefahr wegen einer behandlungsbedürftigen Erkrankung besteht, sondern um die Frage, ob die betreffende Person sich in einer Verfassung befindet, die es ihr ermöglicht, ihre Existenz zu sichern, um nicht einer menschrechtswidrigen Behandlung ausgesetzt zu sein."

Es bestehen bereits Zweifel, ob sich diese Frage im vorliegenden Verfahren stellt.

Das Verwaltungsgericht ist zu der Einschätzung gelangt, dass Herat und Mazare Sharif in Afghanistan zumutbare Fluchtalternativen für den Kläger seien. Der Kläger sei jung, ledig, im Wesentlichen gesund und arbeitsfähig. Defizite in den Faktoren Ortskenntnis und Unterstützungsnetzwerk könne der Kläger, der nach seinem Vortrag im Iran aufgewachsen sei und nie in Afghanistan gelebt habe, damit kompensieren. Die vorgetragenen psychischen Erkrankungen seien nicht ausreichend i. S. d. § 60a Abs. 2c AufenthG dargelegt.

Insoweit hat das Verwaltungsgericht seine Entscheidung - wohl hinsichtlich der Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 AufenthG - darauf gestützt, dass die vorgelegte fachärztliche Stellungnahme nicht den Anforderungen des § 60a Abs. 2c AufenthG genüge. Diese Auffassung teilt im Übrigen der Kläger.

Das Verwaltungsgericht hat allerdings weiter ausgeführt, dass die vorgetragenen psychischen Erkrankungen den Kläger auch nicht erheblich in seiner Arbeitsfähigkeit einschränken würden. Er habe schon als 13jähriger im Iran gearbeitet und sich eigenständig zur Flucht entschlossen. Selbst unter als äußerst belastend empfundenen Wohnumständen hier in Deutschland habe er einen Hauptschulabschluss erlangt.

Sollte das Verwaltungsgericht mit diesen Ausführungen die psychischen Erkrankungen des Klägers unterstellt, aber gleichwohl eine Arbeitsfähigkeit des Klägers aufgrund der weiteren genannten Einzelumstände angenommen haben, käme es auf die Beantwortung der aufgeworfenen Frage, ob eine Erkrankung im Rahmen der Prüfung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG entsprechend den Anforderungen des § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG glaubhaft gemacht werden muss, nicht an.

Aber selbst wenn das Verwaltungsgericht seine Entscheidung maßgeblich darauf gestützt haben sollte, ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG bestehe nicht, weil der Kläger psychische Erkrankungen nicht hinreichend gemäß § 60a Abs. 2c AufenthG dargelegt habe, ist die vom Kläger aufgeworfene Frage nicht in einem Berufungsverfahren klärungsbedürftig. Denn sie lässt sich ohne Weiteres anhand des Wortlauts des Gesetzes und der gesetzgeberischen Erwägungen bejahen.

Für die Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG enthält das Gesetz zwar - anders als § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG in der seit dem 21. August 2019 geltenden Fassung - keine Bestimmung über eine entsprechende Anwendung des § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG. Gleichwohl ist auch im Rahmen der Prüfung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG der Maßstab des § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG für qualifizierte ärztliche Bescheinigungen anzuwenden, wenn sich der Ausländer - wie hier der Kläger - auf eine Erkrankung beruft, aufgrund derer er im Zielstaat seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern könne.

Das Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt hat bereits in seinem Beschluss vom 28. September 2017 (- 2 L 85/17 - juris Rn. 6 - 10) die Frage, ob die ärztlichen Atteste oder Bescheinigungen, mit denen im Asylverfahren u. a. ein Abschiebungsverbot begründet werden soll, an dem gesetzlichen Maßstab des § 60a Abs. 2c Satz 2 ff. AufenthG zu bewerten sind, bejaht und ausgeführt:

"a) Der Wortlaut des § 60a Abs. 2c AufenthG stellt ausschließlich darauf ab, ob Abschiebungsverbote aus gesundheitlichen Gründen vorliegen und differenziert nicht zwischen inlands- und zielstaatsbezogenen Abschiebungsverboten, so dass der Annahme der Kläger, § 60a Abs. 2c AufenthG könne nur bei der Bewertung inlandsbezogener Abschiebungshindernisse zur Anwendung gelangen, schon vom Wortlaut her nicht zu folgen ist.

b) Auch lässt die Begründung zur Einführung des § 60a Abs. 2c und 2d AufenthG mit dem Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11.03.2016 (BGBl I, S. 390) erkennen, dass der Gesetzgeber mit der Regelung in § 60a Abs. 2c und 2d AufenthG die Anforderungen an die Geltendmachung psychischer Erkrankungen als Abschiebungshindernis insgesamt erschweren wollte.

In der Begründung des Gesetzentwurfs heißt es dazu (BT-Drucksache 18/7538, S. 1): "Vielfach scheitern Rückführungsversuche daran, dass medizinische Gründe einer Abschiebung entgegengehalten werden. Diese können jedoch oftmals nicht nachvollzogen werden, da keine einheitlichen Vorgaben für die zu erbringenden Atteste bestehen. Um Verzögerungen von Rückführungen und Missbrauch entgegenzuwirken, bedarf es der Präzisierung der Rahmenbedingungen für die Erstellung ärztlicher Atteste im Zusammenhang mit Abschiebungen." Soll die Vorschrift des § 60a Abs. 2c und 2 d AufenthG durch die Einführung erhöhter Anforderungen an den Inhalt ärztlicher Bescheinigungen damit nach der Intention des Gesetzgebers nicht nur dem zunehmenden Versuch, Rückführungen durch die Ausländerbehörde aus medizinischen Gründen zu verhindern, sondern generell dem Missbrauch bei der Inanspruchnahme von Abschiebungsschutz entgegenwirken, kommt der Vorschrift maßgebliche Bedeutung auch für die Prüfung zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote (§ 60 Abs. 5, 7 AufenthG) zu.

Hierfür spricht zudem die weitere Gesetzesbegründung (BT-Drucksache 18/7538, S. 19): "Mit der Regelung zur Glaubhaftmachung einer Erkrankung durch den Ausländer wird auf erhebliche praktische Probleme hinsichtlich der Bewertung der Validität von ärztlichen Bescheinigungen im Vorfeld einer Abschiebung reagiert, wie sie auch aus dem Bericht der Unterarbeitsgruppe Vollzugsdefizite der Bund - Länder - Arbeitsgruppe Rückführung über die Ergebnisse der Evaluierung des Berichts über die Probleme bei der praktischen Umsetzung von ausländerbehördlichen Ausreiseaufforderungen und Vollzugsmaßnahmen von April 2015 hervorgehen. Es besteht ein praktisches Bedürfnis, eine vom Ausländer vorgelegte Bescheinigung hinsichtlich der Erfüllung formaler und inhaltlicher Vorgaben zu validieren. Hierzu legt der Gesetzgeber nunmehr die in Absatz 2c genannten Qualitätskriterien fest, die die jeweilige ärztliche Bescheinigung insbesondere enthalten soll."

Der Gesetzgeber hat damit klar zum Ausdruck gebracht, dass die Vorschrift des § 60a Abs. 2c und 2d AufenthG aufgrund ihrer systematischen Stellung nicht lediglich als Teil der Regelungen in § 60a AufenthG anzusehen ist, sondern der Vorschrift allgemeine Bedeutung für die Frage zukommt, welche Anforderungen an eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung zu stellen sind...".

Diesen Ausführungen schließt sich der Senat an und macht sie sich zu eigen (siehe im Übrigen auch BVerwG, Beschluss vom 22.1.2020 - 1 B 3.20 - juris Rn. 4 unter Hinweis auf einen Beschluss des OVG SH vom 1.11.2019 - 4 LB 18/17 - n. v. wohl zu § 60 Abs. 5 AufenthG).

Die zitierte Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts des Landes Sachsen-Anhalt ist zwar vor Erlass der Regelung in § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG in der seit dem 21. August 2019 geltenden Fassung ergangen. Der Gesetzgeber hat aber mit der Einführung des Verweises auf § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG in § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG eine Klarstellung im Sinne der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts des Landes Sachsen-Anhalt vorgenommen und die unterschiedlichen Anforderungen an ärztliche Atteste hinsichtlich inlandsbezogener Abschiebungshindernisse in § 60a Abs. 2c AufenthG einerseits und zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote in § 60 Abs. 7 Satz 2 ff. AufenthG andererseits durch den Verweis auf § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG angeglichen (vgl. BT-Drucksache 19/10047, S. 37).

Einen solchen Verweis hat der Gesetzgeber in den weiter als § 60 Abs. 7 AufenthG gefassten § 60 Abs. 5 AufenthG zwar nicht eingeführt. Aus dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers, die Anforderungen an ärztliche Atteste hinsichtlich inlandsbezogener Abschiebungshindernisse und zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote anzugleichen, folgt aber, dass für die Glaubhaftmachung einer Erkrankung, auf die sich ein Ausländer im Rahmen der Feststellung von zielstaatsbezogenen Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG beruft, ebenfalls der Maßstab des § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 anzuwenden ist. Schließlich sind die tatsächlichen Umstände, die in der qualifizierten ärztlichen Bescheinigung gemäß § 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG anzugeben sind - wie etwa der Schweregrad der Erkrankung und die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation ergeben -, auch für die Prüfung im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG von Bedeutung, ob eine Erkrankung vorliegt, die es dem Ausländer nicht ermöglicht, sich im Zielstaat noch in einem ausreichenden Maße versorgen zu können.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.

Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).