Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 31.03.2020, Az.: 10 PA 68/20

Beurteilungsspielraum; Formularzwang; gerichtliche Kontrolldichte; Jugendhilfe; Maßgeblicher Zeitpunkt; Prozesskostenhilfe; Steuerungsverantwortung des Jugendhilfeträgers

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
31.03.2020
Aktenzeichen
10 PA 68/20
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2020, 71688
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 19.02.2020 - AZ: 4 A 152/19

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Die Zurückweisung einer Beschwerde gegen einen Beschluss, mit dem das Verwaltungsgericht den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe (auch) auf Grund der fehlenden Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse abgelehnt hat, setzt nicht voraus, dass der Senat den Beschwerdeführer unter Fristsetzung zur Vorlage einer vollständig ausgefüllten Erklärung aufgefordert hat.

2. Die gerichtliche Kontrolldichte bezüglich der Ablehnung einer jugendhilferechtlichen Leistung ist auf Grund der Steuerungsverantwortung des Jugendhilfeträgers beschränkt.

3. Im Jugendhilferecht ist der für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgebliche Zeitpunkt grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung.

Tenor:

Die Beschwerde der Klägerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Lüneburg - 4. Kammer - vom 19. Februar 2020 wird zurückgewiesen.

Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet.

Gründe

Die Beschwerde der Klägerin gegen den erstinstanzlichen Beschluss, mit dem das Verwaltungsgericht ihren Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für die gegen den ablehnenden Bescheid des Beklagten vom 22. November 2018 bezüglich der Gewährung von Vollzeitpflege nach § 33 SGB VIII erhobene Klage abgelehnt hat, hat keinen Erfolg.

Das Verwaltungsgericht hat die Bewilligung der Prozesskostenhilfe selbstständig tragend mit der Begründung abgelehnt, die Klägerin habe keine Prozesskostenhilfeunterlagen bezüglich ihrer Mündel, auf deren persönliche und wirtschaftliche Verhältnisse abzustellen sei, vorgelegt. Auch wenn es das Verwaltungsgericht unterlassen hat, die Klägerin unter Fristsetzung zur Verlage dieser Unterlagen aufzufordern, kann die beantragte Prozesskostenhilfe nicht bewilligt werden, da § 166 VwGO i.V.m. § 117 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 und 4 ZPO vorschreibt, dass einem Prozesskostenhilfeantrag eine Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse unter Verwendung des vom Bundesminister der Justiz eingeführten Formulars, das vollständig ausgefüllt sein muss, beizufügen ist, die Klägerin es jedoch bis zur Entscheidung des Senats versäumt hat, die ausgefüllten Formulare vorzulegen. Der Hinweis auf den Bezug von Waisenrente und Kindergeld sowie die Übersendung der entsprechen Bescheide genügen diesen Anforderungen nicht. Eine Ausnahme vom Formularzwang des § 117 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 und 4 ZPO ist vorliegend nicht gegeben. Soweit minderjährige unverheiratete Kinder gemäß § 2 Abs. 1 der Verordnung zur Verwendung eines Formulars für die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse bei Prozess- und Verfahrenskostenhilfe (Prozesskostenhilfeformularverordnung - PKHFV) in Kindschafts- oder Unterhaltssachen das vorgegebene Formular nicht verwenden müssen, sondern eine vereinfachte Erklärung mit dem Inhalt des § 2 Abs. 1 Satz 3 PKHFV abgeben können, kommt diese Ausnahme bezüglich der 2001 geborenen B. C. bereits auf Grund ihrer Volljährigkeit nicht in Betracht. Darüber hinaus stellt das vorliegende verwaltungsgerichtliche Verfahren kein Verfahren i.S.d. § 2 Abs. 1 Satz 1 PKHFV dar. Auch der Bezug bestimmter Sozialleistungen entbindet nicht von der Verwendung des gesetzlich vorgeschriebenen Vordrucks, sondern führt allein zu einer Formerleichterung nach § 2 Abs. 2 PKHFV (vgl. BVerfG, stattgebender Kammerbeschluss vom 11.02.1999 - 2 BvR 229/98 -, juris Rn. 14). Daher ist der Beschluss des Verwaltungsgerichts, mit dem der Antrag der Klägerin auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt worden ist, jedenfalls im Ergebnis nicht zu beanstanden. Folglich ist die Beschwerde gegen den verwaltungsgerichtlichen Beschluss zurückzuweisen.

Dieser Entscheidung steht nicht entgegen, dass der Senat die Klägerin nicht seinerseits unter Fristsetzung zur Vorlage einer vollständig ausgefüllten Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse ihrer Mündel aufgefordert hat. Denn dazu bestand auch unter dem Gesichtspunkt der prozessualen Fürsorgepflicht keine Veranlassung. Die Klägerin konnte der Begründung des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses entnehmen, dass die beantragte Prozesskostenhilfe (auch) deswegen nicht bewilligt werden konnte, weil die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Mündel der Klägerin fehlte. Daher musste sich der Klägerin die Notwendigkeit, eine vollständig ausgefüllte Erklärung nachzureichen, geradezu aufdrängen (vgl. Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 12.04.2010 - 4 PA 88/10 -, juris Rn. 4; und Beschluss vom 01.07.2010 - 2 PA 238/10 -, juris Rn. 4), was vorliegend jedoch bis zum Ablauf der Beschwerdefrist nicht erfolgte.

Die verwaltungsgerichtliche Entscheidung ist auch im Übrigen nicht zu beanstanden. In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Urteil vom 09.12.2014 - 5 C 32.13 -, juris Rn. 30) hat das Verwaltungsgericht ausgeführt, dass die gerichtliche Kontrolldichte bezüglich der Ablehnung der begehrten Hilfe auf Grund der Steuerungsverantwortung des Jugendhilfeträgers beschränkt ist. Auch die Entscheidung über die Geeignetheit der Hilfe ist das Ergebnis eines kooperativen pädagogischen Entscheidungsprozesses unter Mitwirkung des Kindes bzw. Jugendlichen und mehrerer Fachkräfte, welches nicht den Anspruch objektiver Richtigkeit erhebt, jedoch eine angemessene Lösung zur Bewältigung der festgestellten Belastungssituation enthalten soll, die fachlich vertretbar und nachvollziehbar sein muss. Die verwaltungsgerichtliche Kontrolle hat sich daher darauf zu beschränken, ob allgemeingültige fachliche und rechtliche Maßstäbe beachtet worden, keine sachfremden Erwägungen eingeflossen und ob die Leistungsadressaten ausreichend beteiligt worden sind (BVerwG, Urteil vom 09.12.2014 - 5 C 32.13 -, juris Rn. 30; Bayerischer VGH, Beschluss vom 21.02.2013 - 12 CE 12.2136 -, juris Rn. 29; Senatsbeschluss vom 25.03.2020 - 10 LA 292/18 -). Nur wenn feststeht, dass allein die begehrte Maßnahme zur Deckung des Hilfebedarfs erforderlich und geeignet ist und damit das Ermessen des Jugendhilfeträgers reduziert ist, kann trotz dieses Beurteilungsspielraums eine Verpflichtung des Jugendhilfeträgers zur Durchführung der beantragten Maßnahme ausgesprochen werden (vgl. Bayerischer VGH, Beschluss vom 21.02.2013 - 12 CE 12.2136 -, juris Rn. 30; nachfolgend auch die von der Klägerin angeführte Entscheidung des VG München, Beschluss vom 20.03.2013 - M 18 E 12.4704 -, juris Rn. 44).

Die verwaltungsgerichtliche Entscheidung ist auch bezüglich des für die gerichtliche Kontrolle maßgeblichen Zeitpunktes nicht zu beanstanden.

Denn nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann der Anspruch auf Leistungen der Sozialhilfe grundsätzlich nur in dem zeitlichen Umfang in zulässiger Weise zum Gegenstand der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle gemacht werden, in dem der Sozialhilfeträger den Hilfefall geregelt hat. Das ist regelmäßig der Zeitraum bis zur letzten Verwaltungsentscheidung (vgl. BVerwG, Urteil vom 30.11.1966 – V C 29.66BVerwGE 25, 307, 308 f. – juris Rn. 16; BVerwG, Urteil vom 19.01.1972 – V C 10.71 – BverwGE 39, 261, 265 f. – juris Rn. 13). Dies gilt grundsätzlich auch für wiederkehrende Leistungen der Eingliederungshilfe (vgl. BVerwG, Urteil vom 16.01.1986 – 5 C 36.84 – juris Rn. 7 – sowie Urteil vom 30.04.1992 – 5 C 1.88 – juris Rn. 11 f.; Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 04.02.2009 – 4 LC 514/07 – juris Rn. 31). Aus dieser zeitlichen Begrenzung des Streitgegenstandes folgt, dass für die gerichtliche Überprüfung ablehnender Leistungsbescheide in der Regel die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung maßgeblich ist, wie dies auch das Verwaltungsgericht seiner Entscheidung zu Grunde gelegt hat (so bereits Senatsbeschluss vom 19.06.2019 - 10 LA 75/19 -).

Diese zeitliche Fixierung gilt allerdings nicht uneingeschränkt. So gilt eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass der Gegenstand der gerichtlichen Nachprüfung durch die Zeit bis zum Erlass des letzten Behördenbescheides begrenzt ist, für den Fall, dass die Behörde den Sozialhilfefall statt für den dem Bescheid nächstliegenden Zeitraum für einen längeren Zeitraum geregelt hat oder wenn der Sozialhilfeträger die Kostenübernahme für ein Hilfsmittel von längerer Gebrauchsdauer, das der Hilfesuchende für einen in die Zukunft hineinreichenden Bedarfszeitraum begehrt, für die Dauer dieses Zeitraums abgelehnt hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 31.08.1995 – 5 C 9.94 – BverwGE 99, 149-158 - juris Rn. 12 ff.; Senatsbeschluss vom 19.06.2019 - 10 LA 75/19 -; OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 28.09.2007 – 3 L 231/05 -, juris Rn. 5). Denn ebenso wie sich die Bewilligung von Leistungen der Eingliederungshilfe über einen längeren Zeitraum (über den Erlass des ablehnenden Bescheides hinaus) erstrecken kann, kann auch die Ablehnung einer solchen Bewilligung einen längeren Zeitraum erfassen. Der die Bewilligung oder Ablehnung betreffende Regelungszeitraum braucht dabei nicht ausdrücklich benannt zu sein, sondern kann sich auch aus dem maßgeblichen Bescheid durch Auslegung ergeben (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.06.1995 – 5 C 30.93 – juris Rn. 11; Senatsbeschluss vom 19.06.2019 - 10 LA 75/19 -).

Mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 22. November 2018 hat der Beklagte den Hilfefall nicht auf Dauer bzw. für einen längeren Zeitraum geregelt, sondern die Hilfegewährung mit der Begründung abgelehnt, dass „zum Zeitpunkt der Pflegestellenprüfung“ davon auszugehen sei, dass die Pflegeltern, ihren Lebensunterhalt langfristig nicht unabhängig vom Pflegegeld sicherstellten könnten sowie die Wohnverhältnisse nicht ausreichend seien und zu befürchten sei, dass die Pflegeeltern den Bedürfnissen der drei Pflegekinder neben ihren eigenen drei Kindern nicht gerecht werden könnten. Es liegt in der Natur der Sache der beantragten Hilfeform, dass sich mit dem zunehmenden Alter sowohl der leiblichen als auch der Pflegekinder diese Bedingungen ggf. auch kurzfristig ändern können und ein weiterer Antrag der Klägerin unter Berücksichtigung der im Hilfeplan vom 14. Januar 2020 (Bl. 127 ff. der Gerichtsakte) und 25. Februar 2020 (Bl. 130 ff. der Gerichtsakte) festgestellten erfreulichen Entwicklungen positiv zu bescheiden sein könnte.

Die von der Klägerin mit der Beschwerde angeführten Argumente wären daher bei einem neuen Antrag zu berücksichtigen und vermögen ihrer Beschwerde nicht zum Erfolg zu verhelfen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 188 VwGO und § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 127 Abs. 4 ZPO.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).