Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 03.06.2020, Az.: 2 ME 265/20
Abiturprüfung; Beurteilungszeitraum; Bewertung; Corona-Pandemie; Ersatzleistung; Informationspflichten; Leistungen mündliche; Referat; Unterrichtsausfall; Zulassung
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 03.06.2020
- Aktenzeichen
- 2 ME 265/20
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2020, 71712
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 12.05.2020 - AZ: 6 B 2583/20
Rechtsgrundlagen
- § 15 Abs 4 S 5 GymOStuaAbschlV ND
- § 55 Abs 4 S 1 SchulG ND
- § 123 Abs 1 VwGO
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Verstöße gegen Informations-, Beratungs- und Kommunikationspflichten sind grundsätzlich weder geeignet, einen Anspruch auf die Versetzung in den nächsthöheren Schuljahrgang noch auf eine Zulassung zum Abitur zu begründen (im Anschluss an Senatsbeschl. v. 17.1.2019 - 2 ME 812/18 -, NVwZ-RR 2019, 729, juris).
2. Zur Frage, ob die Anzahl der Unterrichtseinheiten angesichts der Unterrichtsausfälle wegen der Corona-Pandemie eine ausreichende Grundlage für die Bewertung der im Unterricht gezeigten Leistungen bildet - hier: bejaht - und ob eine Ersatzleistung (hier: Referat) anzubieten ist - hier: verneint.
Tenor:
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover - Einzelrichter der 6. Kammer - vom 12. Mai 2020 wird zurückgewiesen.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstands wird in Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts für das erstinstanzliche Verfahren und für das Beschwerdeverfahren auf jeweils 2.500 EUR festgesetzt.
Gründe
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den erstinstanzlichen Beschluss, mit welchem das Verwaltungsgericht ihren Antrag, die Antragsgegnerin (ein Berufliches Gymnasium Gesundheit und Soziales) im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, sie vorläufig zu den Abiturprüfungen zuzulassen, abgelehnt hat, hat keinen Erfolg. Im Beschwerdeverfahren begehrt die Antragstellerin nunmehr der Sache nach, die Antragsgegnerin unter Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, sie zu der Abiturprüfung vorläufig nachträglich zuzulassen, ihr die Teilnahme an dem am 4. Juni 2020 beginnenden Nachschreibedurchgang vorläufig zu gestatten und die dort abgelegten Prüfungen vorläufig zu bewerten, hilfsweise, ihr die Abiturprüfung zu einem späteren Zeitpunkt zu ermöglichen und zu bewerten.
Das Verwaltungsgericht hat zur Begründung des angefochtenen Beschlusses im Wesentlichen ausgeführt, die Antragstellerin habe einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Die Antragstellerin erfülle die Zulassungsvoraussetzung gemäß § 15 Abs. 4 Satz 5 AVO-GOBAK nicht, da ihre Leistungen im (dritten Prüfungs-)Fach Englisch im 4. Halbjahr (d.h. des 2. Halbjahres im 13. Schuljahrgang) insgesamt lediglich mit vier Punkten - Klausur mit sechs Punkten (40 %) und mündliche Leistungen drei Punkte (60 %) - bewertet worden seien, sodass sie lediglich in acht und nicht wie erforderlich in neun Schulhalbjahresergebnissen in zweifacher Wertung mindestens fünf Punkte erreicht habe. Die Bewertung ihrer mündlichen Leistungen im Fach Englisch in dem genannten Schulhalbjahr mit lediglich drei Punkten sei rechtlich nicht zu beanstanden. Die Antragsteller habe hinreichende Tatsachen, dass diese Bewertung auf einer fehlerhaften Grundlage beruhe und die Fachlehrkraft den ihr zustehenden Beurteilungsspielraum verletzt habe, nicht glaubhaft gemacht. Eine ausreichende Grundlage für die Bewertung der mündlichen Leistungen sei trotz der tatsächlichen Verkürzung des Schulhalbjahres wegen der Corona-Pandemie gegeben, da im Zeitraum vom 1. Februar 2020 bis zum tatsächlichen Ende des Schulhalbjahres im Fach Englisch neun Doppelstunden bzw. unter Einbeziehung der zwei weiteren Unterrichtseinheiten vom 28. Januar 2020 und 31. Januar 2020 elf Doppelstunden stattgefunden hätten, wobei die Antragstellerin an acht bzw. zehn Doppelstunden anwesend gewesen sei. Der Einwand der Antragstellerin, sie habe im Unterricht Hausaufgaben vorgetragen, sei nicht berechtigt. Eingereichte Hausaufgaben seien für sich genommen keine mündliche Leistung. Wenn eine Lehrkraft bei dem Vortragen von Hausaufgaben sich nicht unmittelbar äußere, lasse dies keinen Rückschluss auf die Bewertung dieser Aufgaben zu. Ein ausdrückliches Angebot der Lehrkraft am 21. Januar 2020, ihre Hausaufgaben vorzutragen, habe die Antragstellerin nicht angenommen. Die Antragstellerin könne sich nicht darauf berufen, dass ihre Leistung im Rahmen einer Gruppenarbeit nicht berücksichtigt worden sei. Nach der Übersicht der Fachlehrkraft seien am 21. und 23. Januar 2020 Gruppenarbeitsaufträge erledigt worden, die anschließend am 28. und 30. Januar 2020 bewertet worden seien. Aus dem Umstand, dass die Lehrkraft betont habe, die Antragstellerin habe sich an zwei Tagen nicht beteiligt, folge entgegen der Ansicht der Antragstellerin nicht im Umkehrschluss, dass die mündliche Beteiligung ansonsten sehr gut gewesen sein müsse. Aus der Notenübersicht ergebe sich, dass die Lehrkraft die Leistungen mit vier und einem Punkt bewertet habe. Dass die Lehrkraft der Antragstellerin das Halten eines Referats verweigert habe, führe nicht zu einem Verstoß gegen allgemein anerkannte Bewertungsgrundsätze. Das Halten eines Referats sei im 4. Schulhalbjahr nicht obligatorisch vorgesehen gewesen, sodass die Handhabung im Ermessen der Lehrkraft gestanden habe. Die Begründung der Lehrkraft, sie könne aufgrund der Kürze des Halbjahres und des prüfungsrelevanten Unterrichtsstoffs allgemein Referate nicht einplanen, sei nicht zu beanstanden. Unerheblich sei, ob Lehrkräfte in anderen Kursen diese Möglichkeit eröffnet hätten. Die Antragstellerin sei zudem von der Lehrkraft am 14. Januar 2020 ausdrücklich darauf hingewiesen worden, dass sie ein Referat nicht halten könne und sie sich dringend mündlich stärker beteiligen müsse. Trotz der Verkürzung des Bewertungszeitraums durch die „Corona-Schließungen“ sei eine Leistungsbewertung noch möglich gewesen, zumal dieser Umstand alle Schülerinnen und Schüler im gleichen Maße betreffe.
Diese Ausführungen des Verwaltungsgerichts stellt die Antragstellerin mit ihrem Vorbringen im Beschwerdeverfahren, auf dessen Überprüfung sich der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO zu beschränken hat, nicht durchgreifend in Frage.
Aus dem Umstand, dass die Antragsgegnerin die Mutter der Antragstellerin - die zwar das 18., nicht aber das 21. Lebensjahr vollendet und die der Unterrichtung nicht widersprochen hat - entgegen § 55 Abs. 4 Satz 1 NSchG nicht darüber unterrichtet hat, dass der Abiturabschluss ihrer Tochter gefährdet ist, kann die Antragstellerin nichts für sich herleiten. Verstöße gegen Informations-, Beratungs- und Kommunikationspflichten sind grundsätzlich weder geeignet, einen Anspruch auf eine Versetzung in den nächsthöheren Schuljahrgang (vgl. Senatsbeschl. v. 4.11.2019 - 2 ME 682/19 - juris m.w.N. und v. 17.1.2019 - 2 ME 812/18 -, NVwZ-RR 2019, 729, juris) noch - wie hier - die Zulassung zum Abitur zu begründen. Gleiches gilt für den Vortrag der Antragstellerin, die Fachlehrerin habe sich Beratungsgesprächen „willkürlich verweigert“.
Die Bewertung der mündlichen Leistungen der Antragstellerin im Fach Englisch im 4. Halbjahr leidet nicht an durchgreifenden Rechtsfehlern.
Die Fachlehrkraft hat zwar die von der Antragstellerin in dem Zeitraum vom 16. Januar bis zum 30. Januar 2020 gezeigten Leistungen (drei, null, vier und sechs Punkte) zur Benotung der mündlichen Mitarbeit mit in die Bewertung einbezogen. Das hier maßgebliche Halbjahr begann aber erst am 1. Februar 2020, sodass der zeitlich davorliegende Zeitraum außen vor zu bleiben hat. Dieser Umstand verhilft der Beschwerde aber nicht zum Erfolg. Denn nach der in den Verwaltungsvorgängen befindlichen Übersicht ergeben sich unter Berücksichtigung des richtigen Bewertungszeitraums vom 1. Februar bis zum pandemiebedingten Ende des Präsenzunterrichts am 13. März 2020 lediglich 1,25 Punkte (und damit 1 Punkt) statt wie bisher 2,25 Punkte. In diesem Zeitraum hat die Fachlehrkraft die mündliche Mitarbeit der Antragstellerin mit null Punkten (jeweils 6.2.2020 und 13.2.2020), vier Punkten (25.2.2020) und einem Punkt (27.2.2020) bewertet. Insgesamt umfasste der maßgebliche Bewertungszeitraum (ohne die Tage, an denen die Antragstellerin oder die Fachlehrlehrkraft jeweils erkrankt waren) acht Doppelstunden.
Dieser Unterrichtsumfang im 4. Halbjahr vom 1. Februar 2020 bis zum tatsächlichen Unterrichtsende am 13. März 2020 bildet - worauf bereits das Verwaltungsgericht zu Recht hingewiesen hat - eine ausreichende Grundlage für die Leistungsbewertung (vgl. OVG NRW, Urt. v. 31.8.1979 - XV A 824/78 -, juris Rn. 45 für sieben Unterrichtswochen). Die Anzahl der Unterrichtseinheiten war zwar knapp bemessen, liegt aber immer noch bei mehr als der Hälfte des regulären Unterrichtsumfangs. Das reicht jedenfalls mit Blick auf die außergewöhnliche Herausforderung, die die Coronapandemie für den Schulalltag darstellt, aus, um die Annahme der Fachlehrerin, sie könne aufgrund des erbrachten Unterrichts eine Leistungsbewertung vornehmen, zu rechtfertigen.
Entgegen der Ansicht der Antragstellerin bedurfte es nicht der Möglichkeit, „Ersatzleistungen“ etwa in Gestalt eines Referats anzubieten und diese in die Bewertung der mündlichen Mitarbeit miteinzubeziehen. Eine solche Verpflichtung kann abhängig von den Umständen des Einzelfalls in Betracht zu ziehen sein, wenn aufgrund eines Unterrichtsausfalls eine verlässliche Bewertung der Leistungen nicht möglich ist, weil beispielsweise der Betrachtungszeitraum zu gering ist oder das Leistungsbild des Schülers bzw. der Schülerin in den zu beurteilenden Phasen in besonderer Weise uneinheitlich ausfällt oder auffällig von den Vorleistungen abweicht. All das ist hier nicht der Fall.
Die Fachlehrerin hatte sich angesichts der Kürze des Halbjahres und mit Blick auf den in diesem Halbjahr unterrichteten abiturrelevanten schwierigen Stoff dafür entschieden, keine Referate anzubieten, und dies der Antragstellerin auf Nachfrage am 14. Januar 2020 ausdrücklich mitgeteilt. Diese Entscheidung ist gemessen an den obigen Maßgaben nicht zu beanstanden und unterfällt der pädagogischen Freiheit der einzelnen Lehrkraft, sodass die Antragstellerin aus dem Umstand, dass in einem Parallelkurs eine andere Lehrkraft diese Möglichkeit eröffnet hatte, nichts für sich herleiten kann. Unerheblich ist in diesem Zusammenhang der Umstand, dass nach Aussage der Antragstellerin ihre Tutorin ihr gegenüber das Halten eines Referats in Aussicht gestellt und dass sie sich auf diese Aussage verlassen habe. Denn die Entscheidung über das Angebot eines Referats obliegt - für die Antragstellerin erkennbar - nicht der Tutorin, sondern der Fachlehrkraft.
Dass die Fachlehrerin mit Blick auf den Unterrichtsausfall am 3. und 5. März 2020 aufgrund ihrer Erkrankung und insbesondere seit dem 17. März 2020 wegen der Corona-Pandemie keine weiteren Ersatzleistungen angeboten hat, begründet keinen durchgreifenden Rechtsfehler. Wegen der Corona-Pandemie sind bis zum Ende des regulären Unterrichts für den Abiturjahrgang am 16. April 2020 fünf Doppelstunden und damit weniger als die Hälfte der an sich vorgesehenen Unterrichtszeit ausgefallen. Aus der maßgeblichen Sicht der Fachlehrerin ergaben die von der Antragstellerin bisher im Unterricht gezeigten Leistungen zudem ein einheitliches negatives Bild, sodass eine verlässliche Bewertung dieser Leistungen der Antragstellerin im Unterricht auch unter Berücksichtigung der Ausfallzeiten möglich war.
Der Beschwerdeeinwand der Antragstellerin, die Fachlehrerin habe ihre Einzel- und Gruppenarbeiten nicht bewertet, greift nicht durch. Ausweislich der Bemerkungen der Fachlehrerin waren am Unterrichtstag des 10. März 2020 während der Doppelstunde entgegen der Behauptung der Antragstellerin lediglich Hörverstehensaufgaben geübt worden und die Kursteilnehmer korrigierten aufgrund der Kürze der Zeit ihre Ergebnisse eigenständig, während Hausaufgaben nicht mündlich vorgetragen worden sind. Aus der mit der Beschwerdeschrift vorgelegten eidesstattlichen Versicherung einer Mitschülerin der Antragstellerin vom 25. Mai 2020 ergibt sich nichts anderes. Hiernach war die Zeit zum Ende der Stunde zwar durchaus knapp, aber sie hätten Teile der Hörverständnisaufgaben vergleichen können, wobei sich die Antragstellerin mehrfach beteiligt habe. Ob das zur Vergabe einer Note ausreicht, unterfällt dem pädagogischen Einschätzungsspielraum der Fachlehrkraft, wobei unzulässige Überschreitungen dieses Spielraums nicht ersichtlich sind.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nr. 38.6 und Nr. 1.5 Satz 1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit - Fassung 2013 - (NordÖR 2014,11). Der Senat geht anders als das Verwaltungsgericht nicht von einer faktischen Vorwegnahme der Hauptsache aus, sodass er von seiner Befugnis gemäß § 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG Gebrauch macht, die erstinstanzliche Streitwertfestsetzung von Amts wegen zu ändern.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).