Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 03.06.2020, Az.: 2 ME 215/20
Begründung eines Verwaltungsakts; Begründungselemente; Beschwerde; einstweilige Anordnung; Schulrecht; schulrechtlich; schulrechtliche Ordnungsmaßnahme; Überweisung in eine Parallelklasse; Verwaltungsakt; vorläufiger Rechtsschutz
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 03.06.2020
- Aktenzeichen
- 2 ME 215/20
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2020, 71714
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 02.04.2020 - AZ: 6 B 776/20
Rechtsgrundlagen
- § 123 Abs 1 VwGO
- § 44a VwGO
- § 1004 BGB
- § 61 SchulG ND
- § 61 Abs 3 SchulG ND
- § 146 VwGO
- § 80 Abs 5 VwGO
Fundstellen
- NordÖR 2020, 491
- SchuR 2023, 88-89
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Mit dem öffentlich-rechtlichen Widerrufsanspruch (analog § 1004 BGB) kann regelmäßig nicht der Widerruf bzw. eine Klarstellung einzelner Feststellungen verlangt werden, die der Begründung eines Verwaltungsakts - hier einer schulrechtlichen Ordnungsmaßnahme - dienen, der Gegenstand eines laufenden Verwaltungsverfahrens oder Verwaltungsstreitverfahrens ist.
Ob einzelne Begründungselemente wahr oder unwahr sind, ist regelmäßig der Überprüfung des Verwaltungsakts im dafür vorgesehenen Verwaltungsverfahren und/oder einem sich ggf anschließenden Verwaltungsstreitverfahren vorbehalten.
Tenor:
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover - 6. Kammer - vom 2. April 2020 wird zurückgewiesen.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 5.000 EUR festgesetzt.
Gründe
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover vom 2. April 2020, mit der der Antragsteller beantragt,
1. festzustellen, dass der Widerspruch des Antragstellers vom 17. Januar 2020 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 9. Januar 2020 zum Betreff “Festsetzung von Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen nach § 61 NSchG“ insoweit aufschiebende Wirkung hat, als sich die Antragsgegnerin weigert klarzustellen, dass der Antragsteller eine Mitschülerin nicht bewusst unsittlich berührt bzw. ihr nicht bewusst in den Schritt gefasst habe,
2. die Anordnung der sofortigen Vollziehung des Bescheides der Antragsgegnerin vom 9. Januar 2020 zum Betreff „Festsetzung von Erziehung-und Ordnungsmaßnahmen nach § 61 NSchG“ aufzuheben, soweit sich die Antragsgegnerin weigert klarzustellen, dass der Antragsteller eine Mitschülerin nicht bewusst unsittlich berührt bzw. ihr nicht bewusst in den Schritt gefasst habe,
3. die Antragsgegnerin vorläufig zur (schul-)öffentlichen Klarstellung zu verpflichten, dass der Antragsteller eine Mitschülerin nicht bewusst unsittlich berührt bzw. ihr nicht bewusst in den Schritt gefasst habe,
bleibt ohne Erfolg.
Die Anträge zu 1. und 2. bei denen es sich der Sache nach um Anträge auf vorläufigen Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO handelt, hat das Verwaltungsgericht zu Recht als unstatthaft und mithin unzulässig abgelehnt.
Die dagegen mit der Beschwerde erhobenen Einwände, auf deren Prüfung der Senat nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, greifen nicht durch.
Mit der Beschwerde macht der Antragsteller, der die 8. Klasse einer Kooperativen Gesamtschule besucht, geltend, er wende sich nicht mehr gegen die mit dem Bescheid der Antragsgegnerin vom 9. Januar 2020 verfügte Ordnungsmaßnahme „Versetzung in eine Parallelklasse“, weil er die mit der Ordnungsmaßnahme verbundene Chance für einen Neustart in der Parallelklasse ergreifen wolle. Er wende sich aber nach wie vor gegen die in der Begründung des Bescheides getroffenen Feststellungen, er habe mit einer Mitschülerin eine „tätliche Auseinandersetzung mit unsittlicher Berührung“ geführt und es sei „erwiesen“ dass er „einer Mitschülerin im Streit in den Schritt gefasst und auch nach Aufforderung nicht sofort losgelassen“ habe. In dieser Feststellung, die er bestreite, liege nicht nur ein Begründungselement des Bescheides, sondern ein eigener feststellender Verwaltungsakt, der selbstständig anfechtbar sei. Der dagegen erhobene Widerspruch entfalte keine aufschiebende Wirkung, sodass der Feststellungsantrag zu 1. entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nach § 80 Abs. 5 VwGO analog statthaft sei. Die Ansicht des Verwaltungsgerichts, der in dem Bescheid, namentlich in der Rechtsbehelfsbelehrung enthaltene Hinweis “Ich weise darauf hin, dass Widerspruch und Anfechtungsklage gegen die Anordnung von Ordnungsmaßnahmen keine aufschiebende Wirkung haben (§ 61 Abs. 4 Satz 3 NSchG)“ sei augenscheinlich versehentlich in den Bescheid geraten, sei nicht nachvollziehbar. Die Antragsgegnerin sei zwar eine rechtsunkundige Verfahrensbeteiligte. Sie sei aber von Anfang an von der rechtskundigen E. als Bevollmächtigte rechtlich beraten worden und habe nach deren Anweisung gehandelt. Auch den Antrag zu 2. habe das Verwaltungsgericht zu Unrecht als unstatthaft erachtet. Mit der Anordnung der sofortigen Vollziehung habe die Antragsgegnerin auch die sofortige Vollziehung der angegriffenen Feststellungen, der Antragsteller habe eine Mitschülerin bewusst „unsittlich berührt“ bzw. ihr „in den Schritt gefasst und auch nach Aufforderung nicht sofort losgelassen“ angeordnet. Diese sofortige Vollziehung müsse aufgehoben werden, um die Außenwirkung der Feststellung vorläufig - bis zu einer endgültigen Entscheidung über den Widerspruch des Antragstellers - zu beseitigen.
Dieses Beschwerdevorbringen führt zu keiner anderen rechtlichen Beurteilung.
Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht auf Antrag die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs und der Anfechtungsklage u.a. in den Fällen ganz oder teilweise wiederherstellen, in denen die Behörde die sofortige Vollziehung des Verwaltungsakts - wie hier - im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten angeordnet hat (§ 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO). Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung dient als Korrelat zum Vollzug des Verwaltungsakts (Puttler in Sodan/Ziekow, VwGO Kommentar, 5. Auflage 2018, § 80 Rn. 36). Gegenstand der Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs - ebenso wie der Anfechtungsklage - können demzufolge nur der Verwaltungsakt oder selbstständig anfechtbare Teile davon sein, nicht aber einzelne Begründungselemente der mit dem Verwaltungsakt getroffenen Regelung (BVerwG, Urt. v. 12.12. 2019 - 8 C 3.19 -, juris Rn. 15).
Davon ausgehend ist das Verwaltungsgericht zu Recht davon ausgegangen, dass die Anträge zu 1. und 2. unstatthaft sind, weil es sich bei den streitgegenständlichen Feststellungen um Elemente der Begründung der schulrechtlichen Ordnungsmaßnahme handelt, die nicht die rechtlichen Anforderungen eines selbständig anfechtbaren Verwaltungsakts (§ 35 VwVfG) erfüllen. Zwar können auch feststellende Verwaltungsakte Gegenstand eines Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO sein (§ 80 Abs. 1 Satz 2 VwGO). Bei den genannten Feststellungen handelt es sich aber nicht um einen feststellenden Verwaltungsakt; es fehlt bereits ein dafür erforderliches, der Feststellung durch Verwaltungsakt zugängliches Rechtsverhältnis.
Die Beschwerde hat auch mit dem auf den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO gerichteten Antrag zu 3. keinen Erfolg.
Nachdem die Ordnungsmaßnahme „Versetzung in die Parallelklasse“ durch den Wechsel des Antragstellers in die Parallelklasse vollzogen worden ist, macht der Antragsteller mit dem Antrag zu 3. geltend, ihm stehe gegenüber der Antragsgegnerin aus dem Gesichtspunkt einer Vollzugsfolgenbeseitigung ein Anspruch auf die Beseitigung der Folgen des Vollzugs ihrer Feststellungen, “der Antragsteller habe eine Mitschülerin bewusst unsittlich berührt bzw. ihr bewusst in den Schritt gefasst und auch nach Aufforderung nicht sofort losgelassen“ zu. Bei den Feststellungen, die aus Sicht des Antragstellers unwahr seien, handele es sich um einen feststellenden Verwaltungsakt, so dass der Antragsteller im Wege der Folgenbeseitigung einen Widerruf bzw. eine Klarstellung im Wege der begehrten (schul-)öffentlichen Erklärung der Antragsgegnerin verlangen könne. Neben dem Anordnungsanspruch liege auch ein Anordnungsgrund vor, denn bei allen Beteiligten und wie auch immer Betroffenen bleibe doch „hängen“, der Antragsteller habe eine Mitschülerin bewusst sexuell belästigt.
Mit diesem Beschwerdevorbringen dringt der Antragsteller nicht durch.
Die Voraussetzungen des hier für einen Anordnungsanspruch allein in Betracht kommenden öffentlich-rechtlichen Anspruchs auf Unterlassung bzw. Widerruf unwahrer/ehrverletzender amtlicher Äußerungen analog § 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB liegen nicht vor. Als Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 GG) bietet der Anspruch grundsätzlich Schutz vor staatlichen Äußerungen, die geeignet sind, sich abträglich auf das Ansehen, insbesondere das Bild der betroffenen Person in der Öffentlichkeit auszuwirken (vgl. BVerfG, Beschl. v. 6.11.2019 - 1 BvR 16/13 - juris, Rn. 80 m.w.N.).
Mit dem öffentlich-rechtlichen Widerrufsanspruch kann aber regelmäßig nicht die Unterlassung bzw. der Widerruf von Behauptungen verlangt werden, die ein Amtsträger, ein Beteiligter, ein Zeuge oder Sachverständiger im Rahmen der Rechtsverfolgung
oder Rechtsverteidigung in einem behördlichen oder gerichtlichen Verfahren geäußert hat. Dem liegt die Erwägung zugrunde, dass auf den Ablauf eines rechtsstaatlich geregelten Verfahrens nicht dadurch Einfluss genommen werden und seinem Ergebnis nicht dadurch vorgegriffen werden soll, dass ein an diesem Verfahren Beteiligter durch Unterlassungs- oder Beseitigungsansprüche in seiner Äußerungsfreiheit eingeengt wird. Ob das Vorbringen wahr und erheblich ist, soll allein in dem seiner eigenen Ordnung unterliegenden Ausgangsverfahren geklärt werden (vgl. BGH, Urt. v. 19.7.2012 - I ZR 105/11 -, juris Rn. 14, Urt. v. 22.1.1998 - I ZR 177/95 -, juris Rn. 43). Gleiches folgt prozessual aus § 44 a Satz 1 VwGO.
Davon ausgehend kann der Antragsteller einen Widerruf bzw. eine Klarstellung der genannten Behauptungen, die Bestandteil der Begründung der schulrechtlichen Ordnungsmaßnahme sind, die der Antragsteller mit seinem Widerspruch angegriffen hat, in dem noch laufenden Widerspruchsverfahren und dem in diesem Zusammenhang geführten Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes bzw. im Beschwerdeverfahren nicht verlangen. Ob einzelne Behauptungen eines Amtsträgers, die der Begründung einer behördlichen Maßnahme - hier der schulrechtlichen Ordnungsverfügung - dienen, wahr oder unwahr sind, bleibt der Entscheidung in dem verwaltungsverfahrensrechtlich vorgesehenen Widerspruchsverfahren und einer sich im geordneten Verwaltungsprozess ggf. anschließenden Anfechtungs- oder Fortsetzungsfeststellungsklage vorbehalten. Im Stadium des laufenden Verwaltungsverfahrens kann der Antragsteller einen - insoweit vorgreiflichen - (vorläufigen) gerichtlichen Rechtsschutz nicht beanspruchen.
Vor dem Hintergrund der bisherigen Stellungnahmen der Mitschülerinnen und Mitschüler im Verwaltungsverfahren erweisen sich die Ordnungsmaßnahme und die ihr zugrunde gelegten Erwägungen auch nicht als offensichtlich unwahr, so dass es dem Antragsteller zumutbar ist, den Ausgang der geordneten Verfahren abzuwarten. Mit der in dem Bescheid zudem getroffenen Feststellung „Sexuelle Hintergedanken bei A. sieht die Klassenkonferenz nicht“ wollte die Antragsgegnerin einer missverständlichen Interpretation der Auseinandersetzung zwischen der Mitschülerin und dem Antragsteller in Richtung einer „sexuellen Belästigung“, wie sie der Antragsteller nunmehr infolge der Begründung der Ordnungsmaßnahme augenscheinlich befürchtet, offenbar auch entgegenwirken.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Festsetzung des Streitwertes folgt aus § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 2 GKG. Unter Berücksichtigung der mit den Anträgen verbundenen Vorwegnahme der Hauptsache ist der Wert des Streitgegenstandes danach mit insgesamt 5.000 Euro zu bemessen.
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).