Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 23.02.2021, Az.: 10 Sa 431/20

Parallelentscheidung zu LAG Niedersachsen 10 Sa 403/20 v. 23.02.2021

Bibliographie

Gericht
LAG Niedersachsen
Datum
23.02.2021
Aktenzeichen
10 Sa 431/20
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2021, 34669
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LAGNI:2021:0223.10Sa431.20.00

Verfahrensgang

vorgehend
ArbG Oldenburg - 05.02.2020 - AZ: 2 Ca 322/19

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Den Tarifvertragsparteien als selbständigen Grundrechtsträgern kommt aufgrund der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Sie haben eine Einschätzungsprärogative in Bezug auf die tatsächlichen Gegebenheiten und auf die betroffenen Interessen. Bei der Lösung tarifpolitischer Konflikte sind sie nicht verpflichtet, die jeweils zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Vereinbarung zu treffen. Es genügt, wenn für die getroffene Regelung ein sachlich vertretbarer Grund besteht.

  2. 2.

    Allerdings verpflichtet der Schutzauftrag des Art. 1 Abs. 3 GG die Arbeitsgerichte dann zur Beschränkung der Grundrechtsausübung durch die Tarifvertragsparteien, wenn diese mit den Freiheits- oder Gleichheitsrechten oder anderen Rechten mit Verfassungsrang der Normunterworfenen kollidiert. Sie müssen insoweit praktische Konkordanz herstellen und gleichheitswidrige Differenzierungen in Tarifnormen unterbinden.

  3. 3.

    Die Differenzierung bei der Höhe des Zuschlags zwischen ungeplanter Nachtarbeit und zur Nachtzeit geleisteter Schichtarbeit im MTV für die obst- und gemüseverarbeitende Industrie, Fruchtsaftindustrie und Mineralbrunnen Niedersachsen/Bremen vom 23. August 2005 ist sachlich gerechtfertigt. Die Tarifvertragsparteien haben die Nachtarbeit als Ausnahme gegenüber der Nachtschichtarbeit angesehen und zulässigerweise als belastender eingestuft.

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Oldenburg vom 5. Februar 2019 - 2 Ca 322/19 - wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Höhe tariflicher Nachtarbeitszuschläge.

Der Kläger ist bei der Beklagten, die Mineralwasser und Süßgetränke herstellt, in Schichtarbeit beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis findet aufgrund beidseitiger Tarifbindung der Manteltarifvertrag für die obst- und gemüseverarbeitende Industrie, Fruchtsaftindustrie und Mineralbrunnen Niedersachsen/Bremen vom 23. August 2005 (nachfolgend: MTV) Anwendung. Die einschlägigen Tarifnormen lauten:

"§ 4

Alters- und Schichtfreizeit

...

2. Schichtfreizeit (Geltung nur für Arbeitnehmer in Unternehmen gem. § 1 Ziffer 2a)

Arbeitnehmer, die ständig im Drei-Schicht-Wechsel arbeiten, erhalten für je 25 gelistete Nachtschichten in diesem System eine Freischicht.

Arbeitnehmer, die ständig im Zwei-Schicht-Wechsel arbeiten, erhalten nach diesem System für je 55 geleistete Spätschichten eine Freischicht.

Wechselschichtarbeit liegt vor, wenn ein regelmäßiger Wechsel des Schichtbeginns und damit der zeitlichen Lage der Schicht erfolgt und die Spätschicht mindestens bis 20.00 Uhr andauert.

...

§ 5

Mehrarbeit, Nacht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit

1. Begriffsbestimmung

...

c) Nachtarbeit

Nachtarbeit ist die in der Zeit von 21.00 Uhr bis 6.00 Uhr geleistete Arbeit, soweit es sich nicht um Schichtarbeit handelt.

...

2. Zuschläge

Für Mehrarbeit, Nachtarbeit, Schichtarbeit in der Nacht, Sonntags- und Feiertagsarbeit sind folgende Zuschläge zu zahlen:

a) für Mehrarbeit

25%

ab der 3. Mehrarbeitsstunde am Tage

30%

...

b) für Nachtarbeit

50%

c) für Schichtarbeit von 22.00 Uhr bis 6.00 Uhr

25%

...

3. Berechnung der Zuschläge

...

b) Beim Zusammentreffen mehrerer Zuschläge ist nur der jeweils höhere zu zahlen.

Hiervon ausgenommen ist der Zuschlag für Schichtarbeit (§ 5 Abs. 2c). Dieser Zuschlag ist auch bei Zusammentreffen mit anderen Zuschlägen zu zahlen.

...

§ 14

Ausschlussfrist

Gegenseitige Ansprüche aller Art aus dem Beschäftigungsverhältnis sind innerhalb einer Ausschlussfrist von 3 Monaten ab Entstehen des Anspruches geltend zu machen."

Bei der Beklagten wird im Zwei- oder Dreischichtsystem gearbeitet. Die Spätschicht endet um 20:00 Uhr. Der Kläger wird in Wechselschicht beschäftigt und leistet dabei auch Nachtschichten. Für diese erhält er einen Zuschlag von 25 v.H. auf den üblichen Stundenlohn.

Der Kläger hat die Auffassung vertreten, die unterschiedliche Behandlung von Nachtschicht- und unregelmäßiger Nachtarbeit bei der Zuschlagshöhe verstoße gegen den Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG. Sie ermangele einer sachlichen Rechtfertigung. Zweck der Zuschläge sei es, die mit Nachtarbeit üblicherweise einhergehenden gesundheitlichen und sozialen Nachteile auszugleichen. Diese entstünden unabhängig davon, ob die Nachtarbeit innerhalb eines Schichtsystems erfolge. Je häufiger nachts gearbeitet werde, desto höher sei die gesundheitliche Belastung; daher dürften regelmäßig nachts Arbeitende nicht schlechter gestellt werden als Arbeitnehmer, die nur gelegentlich zur Nachtzeit eingesetzt würden, zumal die Tarifregelung nicht danach unterscheide, ob die Nachtarbeit planbar sei oder nicht. Eine willkürliche Ungleichbehandlung, wie sie hier vorliege, sei von der Tarifautonomie nicht mehr gedeckt.

Der Kläger hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, ihm Nachtzuschläge in Höhe von

1) 158,00 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 1. Januar 2019;

2) 121,18 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 1. Februar 2019;

3) 171,86 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 1. März 2019;

4) 85,65 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 1. April 2019;

5) 153,85 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 1. Mai 2019 und

6) 185,19 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 1. Juni 2019

zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat vorgetragen, die Differenzierung verstoße nicht gegen den Gleichheitssatz. Es fehle bereits an vergleichbaren Arbeitnehmergruppen und an einer tatsächlichen Ungleichbehandlung im Betrieb. In zwölf Monaten sei lediglich 1 v.H. der geleisteten Nachtarbeitsstunden als Nachtarbeit in der Zeit von 21.00 Uhr bis 5.00 Uhr angefallen, nämlich 693 Stunden. Dem stünden 67.587 Stunden gegenüber, die in Nachtschicht erbracht worden seien. Ungeplante Nachtarbeit sei immer zugleich Mehrarbeit; der Zuschlag von 50 v.H. decke beide Komponenten ab. Die tariflichen Regelungen seien von der Einschätzungsprärogative der Tarifvertragsparteien gedeckt. Es werde bereits ab der ersten Stunde ein Nachtarbeitszuschlag gezahlt, und der Nachtarbeitszeitraum sei jeweils gleich definiert. Berücksichtige man zudem die tariflichen Kompensationsregelungen wie Freischichten, bezahlte Pausen oder Altersfreizeiten, so verbiete sich ein Eingriff in einzelne Komponenten. Zweck des höheren Zuschlags für sonstige Nachtarbeit sei es, die Schwelle zu deren Anordnung zu erhöhen. Die unregelmäßige Heranziehung zu Nachtarbeit schränke die Möglichkeit zur sozialen Teilhabe in weit größerem Maße ein als bei regelmäßiger Nachtschicht. Ein Eingriff in einzelne Komponenten des Tarifwerkes sei der Ausgewogenheit des Gesamtkonzepts abträglich und führe zu einem unzulässigen Eingriff in die Tarifautonomie. Schließlich seien die Zahlungsansprüche teilweise verfallen.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Die Differenzierung bei der Höhe der Nachtarbeitszuschläge verstoße nicht gegen den Gleichheitssatz. Den Tarifvertragsparteien komme ein weiter Gestaltungsspielraum zu, dessen Grenzen erst dann überschritten seien, wenn Gruppen von Normadressaten unterschiedlich behandelt würden, obgleich zwischen ihnen keine derart gewichtigen Unterschiede bestünden, dass sie eine Ungleichbehandlung rechtfertigen könnten. Das sei vorliegend nicht der Fall. Eine deutliche Schlechterstellung der Nachtarbeit leistenden Schichtarbeitnehmer sei nicht gegeben. Durchweg sei ab der ersten Stunde ein Zuschlag zu zahlen; der tarifliche Nachtarbeitszeitraum sei jeweils gleich. Die verbleibende Differenzierung sei sachlich gerechtfertigt. Den Arbeitnehmer, der sich mit zeitlichem Vorlauf auf die Nachtschicht einstellen und Dispositionen treffen könne, träfen die Eingriffe in das Familien- und Freizeitverhalten weniger hart als den sporadisch und ohne Planungsmöglichkeit zur Nachtarbeit herangezogenen. Neben den Zweck, dies auszugleichen, trete der Gedanke, die letztgenannte, nicht planbare Nachtarbeit zu verteuern, um die Schwelle zu ihrer Anordnung zu erhöhen. Außerdem seien Mehrarbeitszuschläge in den Nachtarbeitszuschlag von 50 v.H. einberechnet, weil lediglich der höchste von mehreren Zuschlägen gezahlt werde. Der Nachtarbeitszuschlag von 25 v.H. sei dagegen von dieser Regelung ausgenommen. Dies zeige, dass die unterschiedliche Höhe der Zuschläge in erster Linie dem Differenzierungsmerkmal der Mehrarbeit geschuldet sei. Ob im Betrieb der Beklagten die unregelmäßige Nachtarbeit die Ausnahme sei oder nicht, könne dahingestellt bleiben, denn dies lasse keine Rückschlüsse auf den Willen der Tarifvertragsparteien zu.

Gegen das ihm am 20. Februar 2020 zugestellte Urteil des Arbeitsgerichts hat der Kläger am 20. März 2020 Berufung eingelegt und sie innerhalb der verlängerten Frist am 11./19. Mai 2020 begründet.

Die vom Arbeitsgericht zugelassene Berufung macht geltend: Die Differenzierung bei der Zuschlagshöhe sei sachlich nicht gerechtfertigt. Dass der höhere Nachtzuschlag aus der Kombination von Mehr- und Nachtarbeit resultiere, lasse sich aus dem Tarifvertrag nicht ableiten. Eine durch Nachtarbeit verursachte Belastung treffe jeden Menschen gleich. Bei der Normsetzung seien die Tarifvertragsparteien hingegen von einem biologischen Gewöhnungsprozess ausgegangen, was nicht den heute als gesichert geltenden arbeitsmedizinischen Erkenntnissen entspreche. Indem die Tarifvertragsparteien die durch Nachtarbeit verursachte biologische und soziale Desynchronisation nicht berücksichtigt hätten, sei die ihnen zustehende Einschätzungsprärogative überschritten. Dies müsse durch Anpassung "nach oben" ausgeglichen werden, so dass für jede Form der Nachtarbeit ein Zuschlag von 50 v.H. geschuldet sei.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihm Nachtzuschläge in Höhe von

1) 158,00 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 1. Januar 2019;

2) 121,18 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 1. Februar 2019;

3) 171,86 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 1. März 2019;

4) 85,65 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 1. April 2019;

5) 153,85 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 1. Mai 2019 und

6) 185,19 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 1. Juni 2019

zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das arbeitsgerichtliche Urteil und macht insbesondere geltend: Die Berufung sei unzulässig, weil eine konkrete Auseinandersetzung mit den Gründen des angegriffenen Urteils fehle; namentlich auf die vom Arbeitsgericht angeführten, tariflich vorgesehenen Kompensationen werde nicht eingegangen. Die Berufung sei zudem unbegründet. Die Tarifvertragsparteien hätten den ihnen zustehenden Gestaltungsspielraum nicht überschritten. Nachtschichtarbeit sei vorhersehbar und planbar, während unregelmäßige Nachtarbeit von Fall zu Fall vertretungsweise, in Not- oder Eilfällen geleistet werde und fast immer mit Mehrarbeit einhergehe; um letztere mitauszugleichen, hätten die Tarifvertragsparteien den Zuschlag kumuliert. Nachtschichtarbeit werde zudem durch Schichtfreizeiten ausgeglichen. Es sei nicht dargelegt worden, dass unter Berücksichtigung der tatsächlichen Besonderheiten der Branche kein sachlicher Differenzierungsgrund bestehe; der pauschale Verweis auf belastende Wirkungen der Nachtarbeit könne dies nicht ersetzen. Im Übrigen sei es nicht Aufgabe der Gerichte, anstelle der Tarifvertragsparteien eine "Anpassung nach oben" vorzunehmen.

Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze einschließlich der Anlagen sowie die Protokolle der mündlichen Verhandlungen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I.

Die nach § 64 Abs. 1 und 2 ArbGG statthafte Berufung ist gemäß § 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG iVm. §§ 519, 520 ZPO zulässig. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und entgegen der Auffassung der Beklagten auch ordnungsgemäß begründet worden.

1.

Eine Berufungsbegründung muss gemäß § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 ZPO die Umstände bezeichnen, aus denen sich die Rechtsverletzung durch das angefochtene Urteil und deren Erheblichkeit für das Ergebnis der Entscheidung ergeben. Sie muss auf den zur Entscheidung stehenden Fall zugeschnitten sein und sich mit den rechtlichen oder tatsächlichen Argumenten des angefochtenen Urteils befassen, wenn sie diese bekämpfen will. Eine schlüssige, rechtlich haltbare Begründung kann zwar nicht verlangt werden; für die erforderliche Auseinandersetzung mit den Urteilsgründen der angefochtenen Entscheidung reicht es aber nicht aus, die tatsächliche oder rechtliche Würdigung durch das Arbeitsgericht mit formelhaften Wendungen zu rügen und lediglich auf das erstinstanzliche Vorbringen zu verweisen oder dieses zu wiederholen (BAG 26. April 2017 - 10 AZR 275/16 - Rn. 13; 17. Februar 2016 - 2 AZR 613/14 - Rn. 13).

2.

Diesem Erfordernis werden die Ausführungen der Berufung gerecht. Sie setzt sich hinreichend im Sinne des § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 ZPO mit den Gründen der angefochtenen Entscheidung auseinander. Sie meint, die vom Arbeitsgericht angenommenen Differenzierungsgründe seien nicht gegeben, macht geltend, es finde im Tarifvertrag keine Stütze, den höheren Zuschlag als kombinierten Ausgleich von Mehr- und Nachtarbeit zu verstehen, und hält den Erwägungen der Tarifvertragsparteien entgegen, sie widersprächen gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen, was zum Erfordernis einer Anpassung im Sinne einer Zuschlagshöhe von 50 v.H. für alle Formen von Nachtarbeit führe. Darin liegt eine hinreichende, auf den zur Entscheidung stehenden Sachverhalt zugeschnittene Auseinandersetzung mit den Gründen der angefochtenen Entscheidung.

II.

Die Berufung ist nicht begründet. Für die im Schichtmodell geleistete Nachtarbeit kann ein Zuschlag lediglich in der tariflich vorgesehenen, von der Beklagten gezahlten Höhe von 25 v.H. verlangt werden. Dies hat das Arbeitsgericht zutreffend erkannt. Die von den Tarifvertragsparteien vorgenommene Differenzierung zwischen Nachtarbeit außerhalb des Schichtmodells und Nachtschichtarbeit bei der Höhe der Zuschläge verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG, sondern hält sich innerhalb der den Tarifvertragsparteien zustehenden Einschätzungsprärogative.

1.

Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, der sich das Berufungsgericht anschließt, kommt den Tarifvertragsparteien als selbständigen Grundrechtsträgern aufgrund der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Sie haben eine Einschätzungsprärogative in Bezug auf die tatsächlichen Gegebenheiten und auf die betroffenen Interessen. Bei der Lösung tarifpolitischer Konflikte sind sie nicht verpflichtet, die jeweils zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Vereinbarung zu treffen. Es genügt, wenn für die getroffene Regelung ein sachlich vertretbarer Grund besteht (BAG 21. März 2018 - 10 AZR 34/17 - Rn. 43; LAG Niedersachsen 22. Oktober 2020 - 16 Sa 323/20 - Rn. 33; 18 November 2020 - 13 Sa 133/20 - Rn. 64).

2.

Allerdings verpflichtet der Schutzauftrag des Art. 1 Abs. 3 GG die Arbeitsgerichte dann zur Beschränkung der Grundrechtsausübung durch die Tarifvertragsparteien, wenn diese mit den Freiheits- oder Gleichheitsrechten oder anderen Rechten mit Verfassungsrang der Normunterworfenen kollidiert. Sie müssen insoweit praktische Konkordanz herstellen (BAG 19. Dezember 2019 - 6 AZR 563/18 - Rn. 21) und gleichheitswidrige Differenzierungen in Tarifnormen unterbinden (BAG 19. Dezember 2019 - 6 AZR 653/18 - Rn. 25). Dabei haben die Gerichte bei der Erfüllung ihres verfassungsrechtlichen Schutzauftrags in den Blick zu nehmen, dass eine besondere Form der Grundrechtskollision bewältigt und die durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistete kollektive Koalitionsfreiheit mit den betroffenen Individualgrundrechten in einen angemessenen Ausgleich gebracht werden muss. Die Gerichte müssen die besondere Sachnähe der Tarifvertragsparteien beachten und ferner berücksichtigen, dass sich die Arbeitnehmer im Regelfall durch den Beitritt zu ihrer Koalition oder durch die vertragliche Bezugnahme auf einen Tarifvertrag, die die Tarifnormen zum Vertragsinhalt macht, bewusst und freiwillig der Regelungsmacht der Tarifvertragsparteien auch für die Zukunft unterworfen haben. Die Gerichte dürfen mithin nicht eigene Gerechtigkeitsvorstellungen an die Stelle von Bewertungen der zuständigen Koalitionen setzen (vgl. BAG 19. Dezember 2019 - 6 AZR 563/18 - Rn. 26; LAG Niedersachsen 22. Oktober 2020 - 16 Sa 323/20 - Rn. 34).

3.

Bei Anwendung dieser Grundsätze ist die Differenzierung bei der Höhe des Zuschlags zwischen ungeplanter Nachtarbeit und zur Nachtzeit geleisteter Schichtarbeit sachlich gerechtfertigt.

a)

Zwar teilen die tariflichen Zuschlagsregelungen die Arbeitnehmer, die zur Nachtzeit Arbeitsleistung erbringen, in zwei Gruppen ein und behandeln die Angehörigen dieser Gruppen unterschiedlich: Der Zuschlag von 50 v.H. zum Stundenlohn für eine Nachtarbeitsstunde nach § 5 Ziff. 2. Buchst. b) MTV ist doppelt so hoch wie der in § 5 Ziff. 2. Buchst. c) MTV für Nachtarbeit im Schichtbetrieb geregelte Zuschlag von 25 v.H. Dem kann auch nicht mit Erfolg entgegengehalten werden, dass sich der höhere Zuschlag in Wahrheit aus einem Nachtarbeitszuschlag und einem Mehrarbeitszuschlag zusammensetze; dagegen spricht der Wortlaut des § 5 Ziff. 2 Buchst. b) MTV, wonach der Zuschlag für Nachtarbeit zu zahlen ist. Somit sollen Belastungen abgegolten werden, die durch diese ausgelöst werden. Die eine Kumulation verschiedener Zuschläge verhindernde Regelung des § 5 Ziff. 3. Buchst. b) MTV beschränkt sich nicht auf das Zusammentreffen von Nacht- und Mehrarbeit (so auch LAG Niedersachsen 18. November 2020 - 13 Sa 133/20 - Rn. 66 ff.). Eine unterschiedliche Behandlung beider Gruppen liegt ferner darin, dass der Zuschlag für Nachtarbeit, die nicht im Schichtbetrieb geleistet wird, auch für die in der Zeit von 21:00 bis 22:00 Uhr geleistete Arbeit anfällt.

b)

Für die unterschiedliche Behandlung beider Gruppen besteht jedoch ein sachlich vertretbarer Grund. Die Tarifvertragsparteien haben die Nachtarbeit als Ausnahme gegenüber der Nachtschichtarbeit gesehen und als belastender eingestuft; aufgrund dieser Wertung haben sie eine Differenzierung bei der Zuschlagshöhe vorgenommen (wie hier LAG Niedersachsen 18. November 2020 - 13 Sa 133/20 - Rn. 69 f.).

aa)

Für den Begriff die Schichtarbeit ist es wesentlich, dass eine bestimmte Arbeitsaufgabe über einen erheblich längeren Zeitraum als die tatsächliche Arbeitszeit eines Arbeitnehmers hinausgeht und daher von mehreren Arbeitnehmern oder Gruppen von ihnen in einer geregelten zeitlichen Reihenfolge teilweise auch außerhalb der allgemein üblichen Arbeitszeit erbracht wird (BAG 26. September 2007- 5 AZR 808/06 - Rn. 33; LAG Niedersachsen 18. November 2020 - 13 Sa 133/20 - Rn. 72). Dagegen stellt Nachtarbeit nach dem erkennbaren Willen der Tarifvertragsparteien die Ausnahme zum Regelfall der - auch nächtlichen - Schichtarbeit dar. Sie fällt nicht in den regelmäßigen Schichtrhythmus und betrifft nur einzelne Arbeitnehmer (LAG Niedersachsen 18. November 2020 - 13 Sa 133/20 - Rn. 73). In der Tarifwirklichkeit der Ernährungswirtschaft entfällt auf die solchermaßen ungeplante Nachtarbeit nur etwa 1 v.H. der insgesamt dort zur Nachtzeit verrichteten Arbeit.

bb)

Dass nach § 5 Ziff. 2 Buchst. c) MTV ein Anspruch auf einen Zuschlag für die Schichtarbeit von 22:00 Uhr bis 6:00 Uhr besteht, deutet auf den Willen der Tarifvertragsparteien hin, solche Arbeitszeit zu verteuern, um die mit der Leistung von Nachtarbeit in Schichtarbeit verbundenen Erschwernisse auszugleichen und ferner diese Form der Arbeitsleistung für den Arbeitgeber weniger attraktiv zu machen. Auf diesem indirekten Wege soll die gesundheitsschädliche Nachtarbeit eingedämmt werden (LAG Niedersachsen 18. November 2020 - 13 Sa 133/20 - Rn. 73; 8. Oktober 2020 - 16 Sa 53/20 - Rn. 51). Außerdem soll der Arbeitnehmer in einem gewissen Umfang für die erschwerte Teilhabe am sozialen Leben entschädigt werden (vgl. [zu § 6 Abs. 5 ArbZG] BAG 15. Juli 2020 - 10 AZR 123/19 - Rn. 28).

cc)

Demselben Zweck dient auch der Zuschlag für Nachtarbeit nach § 5 Ziff. 2 Buchst. b) MTV. Der im Vergleich zu demjenigen für schichtplanmäßige Nachtarbeit höhere Zuschlag soll zum einen die besonderen Erschwernisse abgelten, die durch den kurzfristigen Wechsel des Arbeitsrhythmus ausgelöst werden, weil sich der betroffene Arbeitnehmer in seinen Lebensgewohnheiten - Schlaf, Einnahme der Mahlzeiten, Freizeitgestaltung - umstellen muss. Zum anderen soll der höhere Zuschlag den Arbeitgeber dazu veranlassen, die im Verhältnis zur schichtplankonformen Nachtarbeit in Wechselschicht teurere unregelmäßige Nachtarbeit nach Möglichkeit zu vermeiden (LAG Niedersachsen 18. November 2020 - 13 Sa 133/20 - Rn. 75).

dd)

Die dem zugrunde liegende Annahme, Nachtarbeit sei belastender als Nachtschichtarbeit, hält sich unter Berücksichtigung der den Tarifparteien zukommenden Einschätzungsprärogative in Bezug auf die tatsächlichen Gegebenheiten der Branche und der betroffenen Interessen im zulässigen Rahmen.

(1)

Ein niedrigerer Zuschlag für Nachtschichtarbeit ist zwar nicht durch Aspekte des Gesundheitsschutzes gerechtfertigt: Die Gesundheit von Nachtschichtarbeitnehmern, die regelmäßig Nachtarbeit leisten, ist nach heutigem Kenntnisstand jedenfalls in nicht geringerem Maß gefährdet als diejenige von Arbeitnehmern, die außerhalb von Schichtsystemen unregelmäßig zu Nachtarbeit herangezogen werden. Diese ist nach gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen für jeden Menschen gesundheitsschädlich. Die Belastung der Beschäftigten steigt nach bisherigem Kenntnisstand in der Arbeitsmedizin durch die Anzahl der Nächte pro Monat und die Anzahl der Nächte hintereinander, in denen Nachtarbeit geleistet wird, auch wenn viele Schichtarbeitnehmer, die in einem Rhythmus von fünf und mehr hintereinander liegenden Nachtschichten arbeiten, subjektiv den Eindruck haben, dass sich ihr Körper der Nachtschicht besser anpasst (BAG 21. März 2018 - 10 AZR 34/17- Rn. 49; LAG Niedersachsen 18. November 2020 - 13 Sa 133/20 - Rn. 77).

(2)

Ein höherer Zuschlag für Nachtarbeit im Vergleich zu demjenigen für Nachtschichtarbeit kann jedoch wegen erschwerter Teilhabe am sozialen Leben gerechtfertigt sein. Im Gegensatz zum (Dauer-) Nachtarbeitnehmer kann der in Wechselschicht Tätige während der Zeiten mit Tagschicht am sozialen Leben teilhaben (vgl. BAG 27. Mai 2003 - 9 AZR 180/02 - Rn. 25; LAG Niedersachsen 18. November 2020 - 13 Sa 133/20 - Rn. 78). Jede Abweichung von der regulären Arbeitszeit innerhalb - länger im Voraus - feststehender Schichten macht für die Betroffenen eine erneute Abstimmung der Lebensbereiche Arbeit und Familie, Freunde und Freizeit erforderlich. Die Balance zwischen (Nacht-)Arbeit und Freizeit sowie familiären Verpflichtungen herzustellen, ist demzufolge umso schwieriger, je unregelmäßiger die Nachtarbeit anfällt. Daher ist es nicht grundsätzlich zu beanstanden, wenn Tarifvertragsparteien bei der Bestimmung der Zuschlagshöhe berücksichtigen, dass die schichtplanmäßige regelmäßige Arbeitszeit in geringerem Maße in das Familienleben und in das Freizeitverhalten eingreift als die nur ausnahmsweise und außerhalb von Schichten, mithin typischerweise unregelmäßig, geleistete Nachtarbeit (LAG Niedersachsen 18. November 2020 - 13 Sa 133/20 - Rn. 78; 8. Oktober 2020 - 16 Sa 53/20 - Rn. 54; 6. August 2020 - 6 Sa 64/20 - Rn. 75).

ee)

Die Differenzierung bewegt sich unter Berücksichtigung weiterer damit zusammenhängender Tarifregelungen noch innerhalb des Gestaltungsspielraums der Tarifvertragsparteien.

(1)

Zunächst ist zu berücksichtigen, dass der Einsatz in Wechselschichtsystemen die Anzahl gegebenenfalls anfallender Nachtschichten oder Arbeitsstunden in der tariflichen oder gesetzlichen Nachtzeit reduziert und begrenzt (vgl. BAG 11. Dezember 2013 - 10 AZR 736/12 - Rn. 22; LAG Niedersachsen 18. November 2020 - 13 Sa 133/20 - Rn. 80). Anhaltspunkte dafür, dass in der betroffenen Branche und im Verhältnis zur Zahl der Arbeitnehmer im Zwei- oder Dreischichtbetrieb unter Einbeziehung der Nachtzeit eine erhebliche Anzahl an Arbeitnehmern ausschließlich in der Nachtschicht tätig ist, bestehen nicht.

(2)

Ein Zuschlag von 25 v.H. auf das Bruttostundenentgelt stellt außerhalb tariflicher Regelungen grundsätzlich einen angemessenen Ausgleich für geleistete Nachtarbeit iSv. § 6 Abs. 5 ArbZG dar (vgl. BAG 15. Juli 2020 - 10 AZR 123/19 - Rn. 30). Konkrete Vorgaben zu der Höhe einer Entschädigung in Geld oder eines finanziellen Ausgleichs für Nachtarbeiter ergeben sich auch nicht aus Gründen des Unionsrechts (vgl. BAG 15. Juli 2020 - 10 AZR 123/19 - Rn. 50 ff.).

(3)

In die erforderliche Gesamtbetrachtung ist weiter einzustellen, dass die Tarifnorm des § 5 Ziff. 3. Buchst. b) Satz 1 MTV dazu führt, dass Mehrarbeit, die in Form von Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit geleistet wird, nicht mit einem weiteren Zuschlag versehen wird: Der dann an sich gemäß § 5 Ziff. 2. Buchst. a) MTV zu zahlende Mehrarbeitszuschlag von 25 bzw. 30 v.H. geht in dem Nachtarbeitszuschlag auf. Dagegen ist gemäß § 5 Ziff. 3. Buchst. b) Satz 2, 3 MTV der Nachtschichtzuschlag neben anderen Zuschlägen zu zahlen. Des Weiteren ist die Freischichtregelung gemäß § 4 Ziff. 2 Abs. 1 MTV zu berücksichtigen. Sie dient nicht nur dem Ausgleich von Schichtarbeit, sondern auch demjenigen geleisteter Nachtarbeit, denn sie knüpft ausdrücklich an die Anzahl geleisteter Nachtschichten an (vgl. LAG Niedersachsen 18. November 2020 - 13 Sa 133/20 - Rn. 82).

(4)

Insgesamt erfüllt der höhere Zuschlag für Nachtarbeit den von den Tarifvertragsparteien verfolgten Zweck, Nachtarbeit außerhalb eines Schichtsystems gegenüber der Nachtschichtarbeit zu verteuern. Auch wenn das Zuschlagssystem nicht in jeder denkbaren Konstellation als die gerechteste Lösung erscheinen mag, so haben die Tarifvertragsparteien doch für Nachtschichtarbeitnehmer nicht eine so erheblich ungünstigere Regelung geschaffen, dass dieser unter dem Aspekt der Gleichbehandlung aus Art. 3 Abs. 1 GG die Durchsetzung verweigert werden müsste (LAG Niedersachsen 18. November 2020 - 13 Sa 133/20 - Rn. 83). Die Balance zwischen (Nacht-)Arbeit und Freizeit sowie Familienverpflichtungen herzustellen, ist umso schwieriger, je unregelmäßiger die Nachtarbeit anfällt (LAG Niedersachsen 18. November 2020 - 13 Sa 133/20 - Rn. 83; 6. August 2020 - 6 Sa 64/20 - Rn. 75). Diese Einschätzung der Tarifvertragsparteien ist unter Berücksichtigung der in Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie und der damit einhergehenden geringeren Kontrolldichte durch die Arbeitsgerichte hinzunehmen.

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.

IV.

Die Zulassung der Revision folgt aus der grundsätzlichen Bedeutung der entscheidungserheblichen Rechtsfrage, § 72 Abs. 2 Ziff. 1 ArbGG .