Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 23.03.2021, Az.: 11 Sa 1062/20
Lehre vom Betriebsrisiko als generelle Gefahrtragungsregel im Dienst- und Arbeitsrecht; Betriebsrisiko und vorteilhafte Vertragsgestaltung durch Einsatz von geringfügig Beschäftigten; Annahmeverzug des Arbeitgebers bei pandemiebedingter behördlicher Schließung des Betriebs
Bibliographie
- Gericht
- LAG Niedersachsen
- Datum
- 23.03.2021
- Aktenzeichen
- 11 Sa 1062/20
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2021, 18886
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LAGNI:2021:0323.11Sa1062.20.00
Verfahrensgang
- nachfolgend
- BAG - 13.10.2021 - AZ: 5 AZR 211/21
Rechtsgrundlage
- § 326 Abs. 2 S. 1 Alt. 1 BGB
Fundstellen
- AE 2021, 133-134
- ArbR 2021, 276
- EWiR 2021, 504
- EzA-SD 21/2021, 5-6
- FA 2021, 173
- NZA-RR 2021, 293-294
- RdW 2021, 567-568
Amtlicher Leitsatz
Wird eine Verkaufsstelle des Fachhandels durch behördliche Anordnung infolge der COVID 19-Pandemie für den Kundenverkehr geschlossen, so erhält eine geringfügige beschäftigte Arbeitnehmerin ihren Vergütungsanspruch gem. § 615 Satz 1 und 3 BGB.
Redaktioneller Leitsatz
1. § 615 BGB verkörpert die Lehre vom Betriebsrisiko und ist eine spezielle Gefahrtragungsregel. Sie gilt unabhängig davon, ob der Arbeitgeber nicht willens oder nicht fähig ist, die Leistung anzunehmen und betrifft alle Fälle, in denen der Arbeitgeber aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen notwendige Arbeitsmittel nicht zur Verfügung stellen kann.
2. Die Anordnung von Kurzarbeit schließt einen Annahmeverzug aus. Dies gilt aber nicht bei geringfügig Beschäftigten infolge fehlender Beitragspflicht zur Arbeitslosenversicherung. Das Betriebsrisiko des Arbeitgebers sichert das Gegengewicht zu seinem durch Einsatz von geringfügig Beschäftigten erzielten betriebswirtschaftlichen Vorteil.
Tenor:
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Verden - 1 Ca 391/20 - vom 29.09.2020 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten der Berufung.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um die Verpflichtung des Arbeitgebers zur Entgeltzahlung für den Monat April 2020, während dessen die Filiale, in der die Klägerin tätig ist, aufgrund behördlicher Anordnung wegen der Corona-Pandemie geschlossen war.
Wegen des erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug genommen.
Das Arbeitsgericht Verden hat mit Urteil vom 29.09.2020 der Klage stattgegeben und die Berufung zugelassen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Beklagte schulde der Klägerin die Zahlung des im Rahmen des Minijobs vereinbarten Monatslohns von 00,00 € netto gemäß §§ 611, 615 Satz 3 BGB. Durch die behördlich angeordnete Schließung der Zweigfiliale habe sich das Betriebsrisiko zu Lasten der Beklagten realisiert. Wann den Arbeitgeber das Betriebsrisiko treffe, regele § 615 Satz 3 BGB nicht. Das Bundesarbeitsgericht vertrete in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass grundsätzlich und in erster Linie den Arbeitgeber das volle Betriebsrisiko treffe, da er den Betrieb und die betriebliche Gestaltung organisiere, die Verantwortung trage und die Erträge beziehe. Ob die Betriebsstörung auf ein Versagen sachlicher oder persönlicher Mittel des Betriebes oder auf sonstigen Einwirkungen auf das Unternehmen, etwa Naturkatastrophen, extreme Witterungsverhältnisse usw. beruhe, sei nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts unerheblich.
Anders könne es liegen, wenn - etwa aufgrund von Naturereignissen - auch der Arbeitnehmer am Erscheinen gehindert sei, da sich dann das von ihm zu tragende Wegerisiko realisiere. Das sei vorstehend jedoch nicht der Fall.
Die vom Bundesarbeitsgericht aufgestellten Grundsätze seien auch auf den Fall der Corona-Pandemie und die daraus resultierende behördliche Anordnung der temporären Schließung von Ladengeschäften anwendbar. Dabei komme es auch nicht darauf an, ob das Risiko der Betriebsschließung in der besonderen Eigenart des jeweiligen Betriebes angelegt sei oder ob etwa die generelle Schließung sämtlicher Betriebe angeordnet wird.
Zwar habe das Bundesarbeitsgericht in früheren Jahrzehnten teilweise die Auffassung vertreten, dass der Arbeitnehmer das Betriebsrisiko ausnahmsweise mittragen müsse, falls die Entgeltfortzahlung die Existenz des Betriebes gefährde. Die Beklagte habe aber nicht behauptet, dass mit der Lohnzahlung an die Klägerin in Höhe von 00,00 € eine Existenzgefährdung der Beklagten verbunden sei. Die Beklagte habe offenbar für die nicht geringfügig beschäftigten Arbeitnehmer Kurzarbeit wirksam angeordnet.
Gegen dieses ihr am 02.10.2020 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 08.10.2020 Berufung eingelegt und diese fristgemäß am 24.11.2020 begründet. Die Rechtsauffassung des Arbeitsgerichts sei unzutreffend. Die Argumentation des Arbeitsgerichts verkenne, dass es im vorliegenden Fall nicht um ein Problem im Betrieb der Beklagten gehe, sondern um eine behördliche Verfügung, die zu der Zeit alle Ladengeschäfte in der Bundesrepublik Deutschland betraf. Die Ursache für die Betriebsschließung habe insoweit nicht im Betrieb selbst gelegen, z. B. in dessen örtlicher Lage und/oder betrieblicher Ausstattung. Die Beklagte habe in keiner Weise etwas für diese Betriebsschließung können. Die durch die Corona-Pandemie bedingte und angeordnete Betriebsschließung falle nicht in den Risikobereich der Beklagten.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
das Urteil des Arbeitsgerichts Verden vom 29.09.2020 -1 Ca 391/20- abzuändern und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte habe das Ladengeschäft für den Monat April 2020 gänzlich geschlossen und der Klägerin mitgeteilt, dass sie zur Arbeit für den Monat April nicht zu erscheinen brauche. Die Klägerin gehe davon aus, dass der Betrieb aufgrund der Allgemeinverfügung des Ordnungsamtes B. vom 23.03.2020 eingestellt wurde. Das Arbeitsgericht habe zutreffend entschieden. Zutreffend sei dabei auch, dass es nicht darauf ankommen könne, ob das Risiko der Betriebsschließung in der besonderen Eigenart des jeweiligen Betriebes angelegt ist oder ob die generelle Schließung sämtlicher Betriebe angeordnet wurde. Im Übrigen sei auch die behördliche Schließung gerade aufgrund der durch den Betrieb begründeten Eigenart erfolgt, da nämlich das von dem Personenverkehr in derartigen Ladengeschäften ausgehende Ansteckungsrisiko ausgeschlossen werden sollte.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf die gewechselten Schriftsätze sowie die Protokollerklärungen der Parteien Bezug genommen.
Beide Parteien haben sich mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist zulässig gemäß §§ 519, 520 ZPO, §§ 64, 66 ArbGG.
Sie ist aber unbegründet. Das Arbeitsgericht hat zutreffend entschieden.
Die Klägerin kann Zahlung des vereinbarten Entgeltes für den Monat April 2020 wegen Annahmeverzuges gemäß § 615 Satz 1 und Satz 3 BGB verlangen. Das Arbeitsgericht hat zutreffend angenommen, dass Satz 3 selbst nicht die Frage regelt, wann der Arbeitgeber das Betriebsrisiko trägt (etwa MüKo-BGB/Henssler 8.Aufl. § 615 Rn. 90). Die vorliegende Sachverhaltskonstellation macht erneut deutlich, dass die vom Gesetzgeber verwendete Terminologie des Annahmeverzuges in § 615 BGB in der Abgrenzung zum Recht der Unmöglichkeit problematisch ist. Ist die Erbringung der Arbeitsleistung kalendarisch festgelegt, wie hier der Fall, ist die Leistung nicht mehr nachholbar bzw. eine nachgeholte Leistung wäre eine andere. Es wäre daher eher von der Annahmeunmöglichkeit zu sprechen (vgl. Staudinger-Richardi BGB Neubearb. 2019, § 615 Rn. 19 ff., 43 f.; MüKo-BGB/Henssler § 615 Rn. 8).
Wenn der Arbeitgeber den Betrieb schließt, ist ein weiteres tatsächliches Angebot der Arbeitsleistung durch den Arbeitnehmer entbehrlich (§ 296 BGB).
Scheitert der Leistungsvollzug am fehlenden Arbeitssubstrat (Begriff bereits in RAG vom 20.6.28, ARS 3, 116) - hier wegen Schließung des Geschäfts für Kunden -, trägt der Dienstberechtigte das Betriebsrisiko (vgl. Staudinger-Richardi a. a. O. Rn. 200). § 615 BGB ist danach eine spezielle Gefahrtragungsregel (etwa HWK-Krause 9. Aufl. § 615 Rn.9). Sie gilt unabhängig davon, ob der Arbeitgeber nicht willens oder nicht fähig ist, die Leistung anzunehmen (MüKo-BGB aaO. Rn. 8). Sie verdrängt auch den Anwendungsbereich des § 326 Abs.2 Satz 1, 1. Alt. BGB (HWK aaO. Rn. 11). § 615 Satz 3 BGB betrifft damit alle Fälle, in denen der Arbeitgeber, sei es aus tatsächlichen, sei es aus rechtlichen Gründen notwendige Arbeitsmittel nicht zur Verfügung stellen kann (MüKo-BGB aaO. Rn. 96).
Die Frage der Eigenart des Betriebes kann hier dahinstehen. Im Übrigen war laut Allgemeinverfügung der Freien Hansestadt Bremen nur die Öffnung von Einzelhandelsgeschäften für den Publikumsverkehr verboten. Damit wäre es durchaus möglich gewesen, die Klägerin mit den ohnehin nur wenigen Stunden mit anderen zumutbaren Aufgaben im Geschäft zu beschäftigen - Näheres über den vertraglichen Aufgabenbereich ist nicht vorgetragen. Diese Situation kommt dem allgemeinen Wirtschaftsrisiko nahe, das der Arbeitgeber trägt.
Zwar ist richtig, dass in der Entwicklung der Rechtsprechung zum Betriebsrisiko verschiedene Fallgruppen zu unterscheiden sind. Eine Sonderrolle spielt dabei die Fallgruppe von arbeitskampfbedingten Störungen (etwa Schaub Arbeitsrechtshandbuch 18. Aufl. § 194 Rn. 20 ff.; Staudinger-Richardi a. a. O. Rn. 210). Gesundheitspolizeilich angeordnete Betriebsschließungen betreffen üblicherweise nur einen einzelnen Betrieb und haben auch regelmäßig dort eine konkrete Ursache. Bei witterungsbedingten Betriebsstörungen, etwa bei Zusammenbruch des Straßenverkehrs, kann auch dem Arbeitnehmer das Wegerisiko treffen, wie das Arbeitsgericht zutreffend angeführt hat. Die während der Corona-Pandemie eingetretene Situation, dass behördliche Schließungen einerseits großflächig, nämlich landes- und bundesweit angeordnet und andererseits auch für längere Zeiträume aufrechterhalten worden sind, ist soweit ersichtlich bisher in der Rechtsprechung nicht behandelt. Dass eine Vielzahl von Unternehmen und damit eine Vielzahl von Arbeitgebern betroffen sind, ändert aber auf der Ebene der arbeitsvertraglichen Risikozuweisung nichts Entscheidendes. Etwa die Rechtsprechung zu den Fällen witterungsbedingter Störungen (Eisgang bereits RAG ARS 5, 110; Frost ARS 10, 150, Winterwetter BAG 17.11.98, 9 AZR 507/97, AP Nr. 6 zu § 1 TVG Tarifverträge: Betonsteingewerbe) zeigt, dass es auf ein "Vertretenmüssen" des Arbeitgebers gerade nicht ankommt.
Soweit sich die Beklagte auf eine Entscheidung des LG Paderborn vom 25.9.2020 bezieht, ist diese nicht einschlägig. Dort ging es um die Anwendung einer Vertragsklausel und den Begriff der höheren Gewalt. Wie oben dargelegt, sind etwa Witterungseinflüsse, die in anderem Zusammenhang durchaus höhere Gewalt darstellen können, im Rahmen des § 615 BGB häufig dem Betriebsrisiko des Arbeitgebers zuzuordnen.
Die vom Arbeitsgericht angesprochene ältere Rechtsprechung (etwa BAG 28.9.72, 2 AZR 506/71, BAGE 24, 446) zu einer Anspruchsbegrenzung bei einer drohenden Bestandsgefährdung des Betriebes ist rechtlich problematisch (vgl. Staudinger-Richardi aaO. Rn. 230; MüKo-BGB aaO. Rn. 105; HWK aaO. Rn.87). Das Arbeitsgericht hat ferner zutreffend darauf hingewiesen, dass die Beklagte eine Bestandsgefährdung auch nicht geltend macht.
Im Übrigen realisiert sich in dem wirtschaftlichen Risiko, die Arbeitskraft der Klägerin nicht verwerten zu können, zugleich eine Konsequenz der Vertragsgestaltung durch die Beklagte. Bei sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen kann eine derartige Situation durch die Anordnung von Kurzarbeit unter Inanspruchnahme von Leistungen der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung gemildert werden. Die wirksame Anordnung von Kurzarbeit schließt einen Annahmeverzug aus (BAG 22.4.09, 5 AZR 310/08, BAGE 130, 31 [BAG 18.03.2009 - 5 AZR 192/08]). Diese sozialversicherungsrechtliche Lösung ist bei geringfügig Beschäftigten infolge fehlender Beitragspflicht in der Arbeitslosenversicherung nicht gegeben. Das Betriebsrisiko spiegelt insoweit den betriebswirtschaftlichen Vorteil, den das Unternehmen durch den Einsatz von geringfügig Beschäftigten Arbeitnehmern erzielt.
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 97 Abs. 1 ZPO.