Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 06.10.2021, Az.: 13 Sa 1199/20

Verhältnismäßigkeitsprüfung bei außerordentlicher Kündigung; Unzulässige Flugblattverteilung auf dem Werksgelände trotz Haus- bzw. Werksverbots; Auflösungsantrag des Arbeitgebers und Schutz des Wahlbewerbers zur Betriebsratswahl

Bibliographie

Gericht
LAG Niedersachsen
Datum
06.10.2021
Aktenzeichen
13 Sa 1199/20
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2021, 61001
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LAGNI:2021:1006.13Sa1199.20.00

Verfahrensgang

nachfolgend
BAG - 27.09.2022 - AZ: 2 AZR 92/22

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Einzelfallentscheidung zu einer außerordentlichen hilfsweise ordentlich ausgesprochenen verhaltensbedingten Kündigung.

  2. 2.

    Zur Berücksichtigung des Kündigungsschutzes von Wahlbewerbern bei arbeitgeberseitigem Auflösungsantrag und Auflösungsgründen, die nach Eintreten des besonderen Kündigungsschutzes entstanden sind und mit der Betriebsratswahl im Zusammenhang stehen.

Redaktioneller Leitsatz

1. Da ein wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung i.S.d. § 626 BGB nicht nur die objektive und rechtswidrige Verletzung einer bestehenden Pflicht voraussetzt, sondern darüber hinaus auch ein schuldhaftes, vorwerfbares Verhalten des Arbeitnehmers, sind für die erforderliche Interessenabwägung insbesondere der Grad des Verschuldens sowie eine mögliche Wiederholungsgefahr, die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf und ferner auch das Gewicht und die Auswirkungen der Pflichtverletzung von Bedeutung.

2. Eine unzulässige Flugblattverteilung trotz Haus- bzw. Werksverbots kann eine fristlose Kündigung "an sich" rechtfertigen. Denn arbeitsvertraglich ist der Arbeitnehmer verpflichtet, die Eigentumsrechte des Arbeitgebers zu beachten. Auch liegt ein bewusster und vorsätzlicher Verstoß gegen Vorschriften der Arbeitsordnung vor.

3. Die Vorschriften des § 15 Abs. 3 Satz 1 KSchG i.V.m. § 103 BetrVG über den besonderen Kündigungsschutz für Wahlbewerber sind jedenfalls dann leges speciales gegenüber dem Auflösungsantrag des Arbeitgebers nach § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG, wenn der Auflösungsantrag auf ein Verhalten des Arbeitnehmers nach Erlangung des Status als Wahlbewerber für die Betriebsratswahl gestützt wird. Der Bestand des Arbeitsverhältnisses ist deshalb nach den Vorstellungen des Gesetzgebers nicht nur im eigentlichen Kündigungsverfahren, sondern auch im Auflösungsverfahren nach § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG in den Grenzen des Vertretbaren zu schützen.

Tenor:

  1. 1.

    Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Braunschweig vom 23.10.2020 (1 Ca 261/19) wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

  2. 2.

    Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen verhaltensbedingten Kündigung sowie einen arbeitgeberseitigen Auflösungsantrag.

Der am 20.08.1990 geborene, ledige und niemandem zum Unterhalt verpflichtete Kläger absolvierte ab 01.09.2008 im A-Stadt-Konzern eine Ausbildung zum Elektroniker für Automatisierungstechnik. Anschließend beschäftigte ihn die Rechtsvorgängerin der Beklagten, bei der er seit 2011 Mitglied der Jugend- und Auszubildendenvertretung (JAV) war, als Elektroniker in Vollzeit weiter. Seit 01.04.2014 besteht das Arbeitsverhältnis mit der Beklagten, die regelmäßig mehr als zehn Arbeitnehmer in Vollzeit beschäftigt.

Bei der Beklagten ist ein Betriebsrat gebildet, dem der Kläger vom 01.04.2014 bis 31.03.2018 angehörte.

Mit Schreiben vom 02.06.2014 (Anlage B1, Bl. 399 d. A.) mahnte die Beklagte den Kläger mit der Begründung ab, dieser habe am 30.04.2014 im Rahmen eines Gesprächs plötzlich und ohne Vorwarnung zu schreien angefangen, stark auf die Theke geschlagen und dieses Verhalten durch aggressiven Tonfall und Gesichtsausdruck unterstrichen. Im Rahmen eines Vergleichs im Rechtsstreit 2 Ca 312/14 ArbG Braunschweig verpflichtete sich die Beklagte, die Abmahnung mit dem 31.05.2015 ersatzlos aus der Personalakte des Klägers zu entfernen.

Mit Schreiben vom 28.02.2017 mahnte die Beklagte den Kläger mit der Begründung ab, dieser habe auf insgesamt 5 Belegschaftsversammlungen gleichlautend und unzutreffend behauptet, es sei eine ominöse Einstellung des Sohnes eines Betriebsratsmitglieds erfolgt, ohne dass dieser die erforderliche Eignung für die Position gehabt habe; Kinder von Betriebsratsmitgliedern seien nach ihrer Ausbildung in ein Arbeitsverhältnis übernommen worden, obwohl sie gesundheitlich dazu nicht geeignet gewesen seien. In dem daraufhin geführten Abmahnungsprozess (1 Ca 86/17 ArbG Braunschweig) urteilte das LAG Niedersachsen am 30.05.2018 (2 Sa 970/17) rechtskräftig, dass diese Abmahnung aus der Personalakte des Klägers zu entfernen ist.

Die Beklagte kündigte dem Kläger mit Schreiben vom 06.03.2017, 04.07.2017 und 23.08.2018. Zusammen mit der ersten Kündigung erteilte sie dem Kläger ein "Werks- und/oder Hausverbot" (Anlage B 1, Bl. 37 d. A.). In den arbeitsgerichtlichen Klageverfahren 1 Ca 115/17 (betreffend die Kündigung vom 06.03.2017) und 1 Ca 291/17 (= 10 Sa 101/19 LAG Niedersachsen betreffend die Kündigungen vom 04.07.2017 und 23.08.2018) wurde rechtskräftig die Unwirksamkeit der Kündigungen festgestellt.

Am 20.05.2019 führten der Kläger und die Personalleiterin Frau I. der Beklagten ein Telefonat, in dem es um eine vom Kläger beabsichtigte Verteilung von Flugblättern vor dem Werkstor ging. Hierzu verhält sich auch eine E-Mail des Klägers an Frau I. vom 21.05.2019.

Am 07.06.2019 von ca. 04:00 Uhr bis ca. 06:00 Uhr verteilten der Kläger, sein Kollege T. und Herr G. vor dem Tor 4 des Werks der Beklagten in A-Stadt das Flugblatt "Stahl 38, die Freie Liste, Sonderausgabe Mai 2019, Ausgabe 1" (Anlage B 2, Bl. 38 ff. d. A.). Während dieses Zeitraums fragte ein Mitarbeiter des Werkschutzes der Beklagten nach einer Erlaubnis für die Verteilung. Der Kläger zeigte daraufhin den Ausdruck seiner an Frau I. gerichteten Mail. Im weiteren Verlauf forderte der Schichtleiter S. des Sicherheitsdienstes den Kläger, Herrn G. und Herrn T. auf, die Flugblattverteilung einzustellen. Einzelheiten sind streitig.

Ab ca. 7:15 Uhr setzten der Kläger und Herr G. die Flugblattverteilung am Werkstor 4 fort. Während dieses weiteren Zeitraums stellten sich die Mitarbeiter S., E., H. und R. des Sicherheitsdienstes der Beklagten zwischen den Kläger und Herrn G. einerseits sowie die einfahrenden Fahrzeuge andererseits. Später traf auch der Leiter des Sicherheitsdienstes Herr F. am Tor 4 ein, gegenüber dem der Kläger die Worte "Ah, die Polizei ist da" äußerte und in dessen Gegenwart er nach einer - im Einzelnen streitigen - körperlichen Berührung Aufzeichnungen mit einem Smartphone machte. Ferner äußerte der Kläger in diesem Zusammenhang verletzt worden zu sein. Der genaue Wortlaut der Äußerung ist streitig. Nach Erscheinen der vom Sicherheitsdienst gerufenen Polizei gegen 7:57 Uhr stellten der Kläger und Herr G. die Flugblattverteilung ein und verließen den Bereich vor dem Werkstor.

Am Mittag desselben Tages erschienen der Kläger, Herr G. und der Mitarbeiter M. erneut und verteilten die Flugblätter nunmehr unstreitig außerhalb des Werksgrundstücks.

Es existiert ein an den Betriebsrat gerichtetes und in Kopie zur Akte gereichtes Schreiben vom 14.06.2019 nebst einem auf weitere Anlagen Bezug nehmenden Anhang (Anlage B 10, Bl. 125ff d. A.) betreffend Anhörung zu einer beabsichtigten außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Kündigung des Klägers, gestützt auf die Vorwürfe der wiederholten Weigerung, den Bereich des Werksgeländes vor dem Tor 4 zu verlassen und die Verteilung der Flugblätter einzustellen, der unbefugten Anfertigung von Film- und Tonaufnahmen sowie beleidigender Äußerung. Diesbezüglich existiert ein Schreiben des Betriebsrats mit Datum 17.06.2019 (Anlage B 7, Bl. 70 d. A.), in dem ein Beschluss mitgeteilt wird, keine Stellungnahme abzugeben.

Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 19.06.2019 (Anlage K 1, Bl. 8 d. A.) außerordentlich und fristlos, hilfsweise fristgerecht zum nächstmöglichen Zeitpunkt - nach ihrer Berechnung zum 31.10.2019.

Gegen diese Kündigung hat sich der Kläger mit seiner am 02.07.2019 bei dem Arbeitsgericht eingegangenen Kündigungsschutzklage gewendet.

Der Kläger hat geltend gemacht, für die Kündigungen fehle ein Kündigungsgrund. Er sei überzeugt gewesen, sich bei der Verteilung der Flugblätter außerhalb des Werkes befunden zu haben. Die Straße vor dem Werkstor sei weder durch Zäune noch durch Schilder oder in sonstiger Weise als Eigentum der Beklagten und dem Zutritt unbefugter Dritter entzogener Bereich gekennzeichnet gewesen.

Im Verlauf seines Vorgehens habe Herr F. ihm unvermittelt gezielt auf die rechte Hand geschlagen, in der er einige Exemplare des Flugblattes gehalten habe. Diese seien infolgedessen zu Boden gefallen. Nachdem er, der Kläger, mit seiner rechten Hand die Flugblätter wieder aufgehoben habe, habe Herr F. ihm erneut und wuchtig auf diese geschlagen und versucht, ihm die Flugblätter zu entreißen. Sodann sei er, der Kläger, von Mitarbeitern des Sicherheitsdienstes umzingelt worden. Als er habe ausweichen wollen, habe Herr F. ihn an seiner Warnweste gepackt, ihn hin und her geschüttelt und zu sich herangezogen. Durch den Angriff durcheinander, habe er, der Kläger, sein Smartphone aus der Tasche gezogen und Videoaufnahmen gestartet, nachdem schon zuvor Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes von ihm bzw. Herrn G. per Smartphone Aufnahmen gefertigt hätten.

Er bestreite eine ordnungsgemäße Anhörung des bei der Beklagten gebildeten Betriebsrats mit Nichtwissen.

Die Kündigung sei auch deshalb unwirksam, weil das in der Betriebsvereinbarung Arbeitsordnung bei Verstößen vorgesehene Verfahren nicht eingehalten worden sei.

Der Kläger hat - soweit für das Berufungsverfahren noch von Interesse - beantragt:

1. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis des Klägers durch die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 19.06.2019 nicht aufgelöst worden ist.

2. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis des Klägers auch durch die hilfsweise ausgesprochene ordentliche Kündigung der Beklagten vom 19.06.2019 nicht aufgelöst worden ist.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis zum 31.10.2019 gegen Zahlung einer in das Ermessen des Gerichts zu stellenden Abfindung aufzulösen.

Sie hat vorgetragen, der Kläger habe durch beharrliche Weigerung, den Anweisungen des Sicherheitsdienstes Folge zu leisten sowie durch Beleidigung und Bedrohung des Sicherheitsdienstleiters Herrn F. und die unberechtigte Fertigung von Bild- und Tonaufnahmen mittels seines Smartphones, arbeitsvertragliche Pflichten schwerwiegend verletzt.

Da das Werksgelände mehrere hundert Meter vor dem Tor beginne und durch das Straßenschild "M.-straße" gekennzeichnet sei, hätten sich der Kläger sowie die Herren G. und T. bei der Flugblattverteilung auf dem in ihrem - der Beklagten - Eigentum stehenden Gelände befunden. Das Tor auf dem Werksgelände begrenze lediglich den weiteren Zugang zu den Anlagen und Betriebsstätten.

Nach Beginn der Flugblattverteilung habe sich der schichtführende Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes S. zum Tor 4 begeben und den Kläger sowie die Herren G. und T. nach einer Genehmigung für die Flugblattverteilung an dieser Stelle gefragt. Mangels einer solchen habe Herr S. die drei aufgefordert, die Verteilung der Flugblätter auf dem Werksgelände einzustellen. Dabei habe er ihnen erklärt, dass sie sich auf dem Werksgelände befinden würden. Der Kläger habe daraufhin erwidert: "Du kannst gerne die Polizei rufen, wir bewegen uns hier nicht weg, weil ich weiß, dass ich hier stehen darf." Weiter habe der Kläger ausgeführt, dass sie sich außerhalb des Werksgeländes im öffentlichen Straßenraum befinden würden, so dass der Sicherheitsdienst ihnen nicht verbieten könne, dort zu stehen. Versuche von Herrn S., die drei zu bewegen, die Verteilung weiter unten an der Zufahrt zur K.-straße außerhalb des Werksgeländes fortzusetzen, seien erfolglos geblieben. Während der Diskussion habe Herr S. einer der verteilenden Personen ein Flugblatt aus der Hand genommen und erneut erfolglos gefordert, die Verteilung sofort zu unterlassen. Nach dem morgendlichen Schichtwechsel im Sicherheitsdienst sei die Gruppe durch Herrn S. und Herrn E. erneut erfolglos aufgefordert worden, die Verteilung der Flugblätter sofort einzustellen und das Werksgelände zu verlassen.

Nachdem der Kläger um 7:15 Uhr mit Herrn G. abermals am Tor 4 erschienen sei und beide erneut unter Erläuterung der Werksgrenzen erfolglos aufgefordert worden seien, die Verteilung der Flugblätter zu unterlassen und das Werksgelände zu verlassen, hätten sich die Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes zwischen den Kläger und Herrn G. sowie die fahrenden Fahrzeuge gestellt, um das weitere Verteilen der Flugblätter zu unterbinden. Dabei sei Herr E. von dem Kläger mit einer Hand gegen vorbeifahrende Fahrzeuge gedrückt und in eine lebensgefährliche Situation gebracht worden.

Der gegen 7:35 Uhr am Tor 4 eingetroffene Leiter des Sicherheitsdienstes F. sei von dem Kläger hämisch mit den Worten "Ah, die Polizei ist da!" begrüßt worden. Auch Herr F. habe den Kläger und Herrn G. unter Hinweis darauf, dass sie sich auf dem Werksgelände befänden, mehrfach aufgefordert, das Verteilen der Flugblätter an diesem Ort einzustellen und das Werksgelände unverzüglich zu verlassen. Der Kläger habe dies wiederum unter Hinweis darauf abgelehnt, dass sie sich nach seiner Einschätzung im öffentlichen Raum befänden. Nachdem Herr F. den beiden erklärt habe, dass er von seinem Hausrecht Gebrauch machen werde, habe der Kläger Herrn F., der zwischen ihm und den einfahrenden Fahrzeugen gestanden habe, in den fließenden Verkehr gedrängt, ihm dabei mit der Hand, in der sich Flugblätter befunden hätten, vor die Brust gestoßen und ihn in Richtung der fahrenden Fahrzeuge geschubst, um sich Raum für die Verteilung der Flugblätter zu verschaffen. Infolgedessen hätten einige Fahrzeuge ausweichen, andere abrupt abbremsen müssen, um Herrn F. nicht umzufahren.

Der Kläger und Herr G. hätten sodann jeweils ihre mitgeführten Smartphones gezogen und jeweils begonnen, Aufnahmen in Ton und in Bild zu machen. Der Aufforderung von Herrn F., dies zu unterlassen, seien sie nicht nachgekommen. Vielmehr habe der Kläger gezielt Aufnahmen mit seinem Smartphone von Herrn F. gefertigt.

Der Betriebsrat sei mit dem ihm am selben Tag zugegangenen Schreiben vom 14.06.2019 ordnungsgemäß angehört worden. Dem Schreiben seien sämtliche in Bezug genommenen Anhänge und Anlagen beigefügt gewesen. Dem Betriebsrat sei die zu beachtende gesetzliche Frist für die Kündigung des Klägers bekannt gewesen.

Hilfsweise sei das Arbeitsverhältnis gegen Zahlung einer Abfindung zum 31.10.2019 aufzulösen.

Der Kläger habe gegenüber Mitarbeitern des Sicherheitsdienstes am 07.06.2019 bewusst wahrheitswidrig behauptet Frau I. habe ihm das Verteilen der Flugblätter auf dem Werksgelände erlaubt.

Ferner habe er im Rahmen dieses Rechtsstreits jeweils bewusst wahrheitswidrig behauptet

- Herr F. habe ihm zweifach auf die rechte Hand geschlagen

- Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes hätten ihn und seine Mitstreiter umzingelt und Herr F. ihn "an seiner etwas locker sitzenden Warnweste gepackt, ihn hin und her geschüttelt und an ihn herangezogen"

- Herr F. habe ihn gefilmt.

In Zusammenschau mit den vorgetragenen Kündigungen sei ein gedeihliches Zusammenarbeiten zwischen den Parteien nicht mehr zu erwarten und das Vertrauensverhältnis unwiederbringlich zerstört.

Dessen ungeachtet sei das Arbeitsverhältnis durch weitere Vorfälle schwer belastet.

Im September 2010 habe der Kläger mit einem weiteren Vertreter der JAV im Rahmen einer Übergangsschulung die neuen Auszubildenden zusammengerufen und bedrängt, bei Problemen nur ihn und den Kollegen anzusprechen. Nach Beschwerden hierüber und erfolgloser Aufforderungen der Ausbilder dies zu unterlassen, habe die hinzugezogene Polizei ein Platzverbot gegen den Kläger und seinen Kollegen ausgesprochen. Der Kläger sei deswegen von ihrer Rechtsvorgängerin abgemahnt worden.

Im Jahre 2013 habe der Kläger versucht, die Ergreifung disziplinarischer Maßnahmen gegen einen Auszubildenden wegen Hakenkreuzschmierereien zu vereiteln.

Im Jahre 2014 habe der Kläger im Zuge der damals stattfindenden gemeinsamen Betriebsratswahlen der SZST und der Beklagten eine Listenwahl forciert, um so einen Arbeitsplatz bei ihr, der Beklagten, zu erhalten.

Nach seiner Wahl in den Betriebsrat sei es schnell zu Spannungen gekommen, die schließlich darin eskaliert seien, dass der Kläger ein Betriebsratsmitglied im Stahlwerk körperlich bedroht habe, weshalb die Abmahnung vom 02.06.2014 ausgesprochen worden sei.

Zudem nutze der Kläger seit Jahren soziale Medien um sowohl sie, die Beklagte, als auch den Betriebsrat zu diffamieren sowie um falsche Tatsachen in der Öffentlichkeit zu verbreiten und sich als vermeintliches Opfer darzustellen. Vor dem Hintergrund, dass ein Großteil der Belegschaft Mitglied bei der IG Metall sei und der Kläger pauschal und irreführend behaupte, die IG Metall würde sich unlauter verhalten und vorsätzlich Vertrauen missbrauchen, stehe zu erwarten, dass eine Beschäftigung des Klägers zu Konfrontationen in der Belegschaft führe.

Im Abmahnungsprozess 1 Ca 86/17 habe der Kläger am 14.06.2017 ebenfalls bewusst wahrheitswidrig vorgetragen.

Ferner habe der Kläger in ihrem Eigentum stehende und von den Ermittlungsbehörden beschlagnahmte Betriebsmittel (Arbeitsplatzrechner und Smartphone) nach deren Freigabe am 03.04.2017 erst am 20.08.2018 zurückgegeben und zuvor alle Daten gelöscht bzw. das Smartphone auf Werkseinstellung zurückgesetzt.

Wegen der beiden zuletzt genannten Vorfälle seien - insoweit unstreitig - die Kündigungen vom 04.07.2017 und 23.08.2018 ausgesprochen worden.

Der Kläger hat beantragt

den Auflösungsantrag zurückzuweisen.

Er hat geltend gemacht, Arbeitsplatzrechner und Smartphone seien ihm ausschließlich für seine damalige Tätigkeit als Betriebsrat zur Verfügung gestellt worden. Die Beklagte habe kein Datenzugriffsrecht gehabt. Die verspätete Herausgabe beruhe auf einer Nachlässigkeit.

Das Arbeitsgericht hat mit einem der Beklagten am 29.10.2020 zugestellten Urteil vom 23.10.2020 (Bl. 294 - 313 d.A.), auf das wegen der Einzelheiten des erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes sowie seiner Würdigung durch das Arbeitsgericht verwiesen wird, der Kündigungsschutzklage nach Vernehmung der Zeugen E. und F. stattgegeben und den Auflösungsantrag der Beklagten zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich die am 12.11.2020 eingelegte und am 29.01.2021 innerhalb verlängerter Frist begründete Berufung der Beklagten.

Die Beklagte wiederholt und vertieft ihr erstinstanzliches Vorbringen und trägt insbesondere vor, der Umstand, dass der Kläger zuvor Frau I. um Zustimmung für das Betreten des Werksgeländes und die Flugblattverteilung ersucht und gegenüber Herrn S. wahrheitswidrig eine Genehmigung von Frau I. behauptet habe, spreche gegen einen Rechtsirrtum über seine Berechtigung.

Die Beharrlichkeit seiner Weigerung das Werksgelände zu verlassen begründe eine negative Zukunftsprognose.

Jedenfalls die gebotene Gesamtschau der vorgetragenen Kündigungsgründe rechtfertige die ausgesprochene Kündigung.

Anderenfalls sei das Arbeitsverhältnis gegen Abfindungszahlung aufzulösen. So sei angesichts des Detailreichtums seiner Falschbehauptungen zu den Geschehnissen am 07.06.2019 im vorliegenden Rechtsstreit kein Spielraum für Interpretationen und von bewusst wahrheitswidrigem Vortrag des Klägers auszugehen. Soweit der Kläger Tätlichkeiten des Herrn F. behauptet habe, hätten sich solche nach den Aussagen der erstinstanzlich vernommenen Zeugen E. und F., die sie sich insoweit zu eigen mache, auch nicht in abgeschwächter Form zugetragen.

Nachdem er Herrn F. mehrfach hintereinander gegen die Brust gedrückt habe, habe der Kläger zudem gesagt: "Aua, er hat mich verletzt, habt ihr das gesehen?" Tatsächlich habe die Beweisaufnahme ergeben, dass es keine Tätlichkeit des Herrn F. gegenüber dem Kläger gegeben habe. Ferner habe der Kläger in diesem Zusammenhang Herrn G. aufgefordert, die Situation - gegen den ausdrücklichen Willen des Herrn F. - zu filmen, was dieser getan habe.

Zu den erstinstanzlich vorgetragenen Auflösungsgründen kämen neue Pflichtverletzungen hinzu. Während der Betriebsratswahlen vom 23.11. bis 06.12.2020, in deren Rahmen er als Kandidat der "CGM - freien Liste" angetreten sei, habe der Kläger gemeinsam mit Herrn T. und Herrn G. am 03.12.2020 diverse Wahllokale aufgesucht, um diese zu kontrollieren, obwohl dies weder von der teilweisen Aufhebung des Werkverbotes zum Zwecke der Wahlwerbung vom 05.10.2020 (Anlage B 2, Bl. 401f) gedeckt gewesen sei noch zu seinen Aufgaben gehört habe.

Am 06.12.2020 habe der Kläger ohne Erlaubnis auf dem Werksgelände an der öffentlichen Sitzung des Wahlvorstandes zur Öffnung der Briefwahl-Freiumschläge teilgenommen. Wegen dieser beiden Vorgänge habe sie dem Kläger - insoweit unstreitig - am 07.12.2020 eine Abmahnung erteilt (1 Ca 65/21 ArbG Braunschweig, derzeit 13 Sa 827/21 LAG Niedersachsen).

Jedenfalls in der Gesamtschau der vorgetragenen Auflösungsgründe sei eine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit nicht mehr zu erwarten. Der Kläger lege es gezielt auf Rechtsbrüche an.

Die Beklagte beantragt:

Das Urteil des Arbeitsgerichts Braunschweig vom 23.10.2020 (1 Ca 261/19) abzuändern und die Klage abzuweisen,

für den Fall, dass das Arbeitsverhältnis durch die hilfsweise ordentliche Kündigung vom 19.06.2019 nicht aufgelöst ist, das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis zum 31.10.2019 gegen Zahlung einer in das Ermessen des Gerichts zu stellenden Abfindung aufzulösen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er macht geltend, er habe keine direkten Aufnahmen von Herrn F. oder den übrigen Mitarbeitern des Sicherheitsdienstes gemacht, sondern nur sich selbst gefilmt. Allerdings sei Herr F. einige Male ungewollt teilweise mit auf das Bild geraten, weil er so nahe an ihn, den Kläger, herangekommen sei, dass er von der Kamera auf der Frontseite des Smartphones erfasst worden sei. Die übrigen Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes seien dann kurzzeitig mit auf das Bild geraten, wenn diese hinter ihm, dem Kläger, gestanden hätten. Herr S. habe zuvor gegen 07:30 mit seinem Handy Fotos von ihm und Herrn G. gemacht.

Auch sein Verhalten während der Betriebsratswahlen im Dezember 2020 könne den Auflösungsantrag nicht rechtfertigen. Das kurzzeitige Betreten der Wahllokale und die kurzen Gespräche mit den Wahlvorstandsmitgliedern änderten nichts daran, dass er das Betriebsgelände am 03.12.2020 zum Betreiben von Wahlwerbung betreten und sich dort aufgehalten habe. Jedenfalls sei das Betreten der Wahllokale durch das Schreiben der Beklagten vom 05.10.2020 gedeckt gewesen.

Am 06.12.2020 hätten die Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes das Passieren des Tores erlaubt und ihm einen Passierschein ausgehändigt, in dem als Grund für das Betreten des Werksgeländes "BR-Briefwahl" eingetragen sei (Anlage K5, Bl. 436 d. A.). Er sei davon ausgegangen, dass seine Anwesenheit bei der Auszählung der Stimmen der Betriebsratswahl und der Öffnung der Briefwahlunterlagen von der Aufhebung des Hausverbots vom 05.10.2020 mit umfasst gewesen sei, weil er die Stimmenauszählung in seiner E-Mail vom 30.09.2020 (Anlage K 6, Bl. 437 d. A.) ausdrücklich angesprochen habe. Zudem habe ihm Frau I. am 06.12.2020 sinngemäß gesagt: "Nein, bleiben Sie jetzt hier, das ist okay. Alles gut."

Wegen der Einzelheiten des zweitinstanzlichen Vorbringens wird auf die im Berufungsverfahren gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen und das Sitzungsprotokoll verwiesen.

Entscheidungsgründe

I.

Die Berufung der Beklagten ist gemäß § 64 Abs. 1 und Abs. 2 ArbGG statthaft sowie form- und fristgerecht im Sinne der §§ 66, 64 Abs. 6 ArbGG, 519, 520 ZPO eingelegt worden. Sie ist auch im Übrigen zulässig, jedoch unbegründet. Das Arbeitsgericht hat den Rechtstreit zutreffend entschieden.

1.

Die fristgerecht im Sinne der §§ 4, 13 Abs. 1 KSchG angegriffene außerordentliche Kündigung ist unwirksam, weil ein wichtiger Grund im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB fehlt.

a)

Zum Vorwurf unbefugter Flugblattverteilung auf dem Werksgelände trotz Haus-/Werksverbot und wiederholter Missachtung von Anweisungen des Werkschutzes, das Werksgelände zu verlassen:

aa)

Trifft das diesbezügliche Vorbringen der Beklagten zu, liegen Umstände vor, die "an sich" geeignet sind, den Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung zu rechtfertigen. Arbeitsvertraglich ist der Kläger verpflichtet, Eigentumsrechte des Arbeitgebers zu beachten. Das ergibt sich jedenfalls aus § 241 Abs. 2 BGB. Bei einer Verletzung dieser Pflicht hängt es von den Umständen des Einzelfalles ab, insbesondere Schwere und Folgen des Verstoßes, Vorliegen einer einschlägigen Abmahnung etc., ob der Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung gerechtfertigt ist. Ob und inwieweit mit der Pflichtverletzung zugleich Straftatbestände verwirklicht sind, ist kündigungsrechtlich ohne Belang.

bb)

Zugunsten der Beklagten kann ihr gesamter Vortrag zu diesem Kündigungsgrund als wahr unterstellt werden, insbesondere der von ihr behauptete Verlauf der Werksgrenze, deren Erläuterung, die mehrfachen Aufforderungen durch verschiedene Personen des Werkschutzes, die Verteilung einzustellen und das Werksgelände zu verlassen sowie das Nichtvorliegen einer Genehmigung durch Frau I.. Damit wäre in objektiver Hinsicht nicht nur von einer Verletzung von Eigentumsrechten der Beklagten auszugehen, sondern auch von einem Verstoß gegen die Arbeitsordnung. Denn die Beklagte hat mit der Sicherung ihres Eigentums und der Durchsetzung des aus ihrem Eigentum folgenden Hausrechts den Werkschutz beauftragt. Der Kläger war über § 7 des Arbeitsvertrages und § 77 Abs. 4 BetrVG verpflichtet, § 16 S. 3 und § 18 Nr. 1 BV Arbeitsordnung zu beachten. Hiergegen hätte er verstoßen, indem er den - unterstellt berechtigten - Aufforderungen des Werkschutzes keine Folge leistete. Zugleich hätte der Kläger objektiv gegen das erteilte Werksverbot verstoßen. Dass er dies außerhalb seiner Arbeitszeit getan hat, wäre sowohl nach den unterstellten als auch nach den unstreitigen Umständen unerheblich.

cc)

Das Arbeitsgericht hat jedoch zutreffend erkannt, dass die unterstellte Pflichtverletzung des Klägers unter Berücksichtigung der Einzelfallumstände sowie der Abwägung der beiderseitigen Interessen keine außerordentliche Kündigung rechtfertigt.

(1)

Bei der Prüfung, ob dem Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers trotz Vorliegens einer erheblichen Pflichtverletzung jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar ist, ist in einer Gesamtwürdigung das Interesse des Arbeitgebers an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das Interesse des Arbeitnehmers an dessen Fortbestand abzuwägen. Es hat eine Bewertung des Einzelfalls unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen. Dabei lassen sich die Umstände, anhand derer zu beurteilen ist, ob dem Arbeitgeber die Weiterbeschäftigung zumindest bis zum Ende der Frist für eine ordentliche Kündigung zumutbar war oder nicht, nicht abschließend festlegen (BAG 20.11.2014 - 2 AZR 651/13 -, juris, Rn. 21). Da ein wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung im Sinne des § 626 BGB nicht nur die objektive und rechtswidrige Verletzung einer bestehenden Pflicht voraussetzt, sondern darüber hinaus auch ein schuldhaftes, vorwerfbares Verhalten des Arbeitnehmers, sind für die erforderliche Interessenabwägung insbesondere der Grad des Verschuldens sowie eine mögliche Wiederholungsgefahr, die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf und ferner regelmäßig das Gewicht und die Auswirkungen einer Vertragspflichtverletzung von Bedeutung. Eine außerordentliche Kündigung kommt nur in Betracht, wenn es keinen angemessenen Weg gibt, das Arbeitsverhältnis fortzusetzen, weil dem Arbeitgeber sämtliche milderen Reaktionsmöglichkeiten unzumutbar sind. Im Vergleich zu einer außerordentlichen fristlosen Kündigung kommen als mildere Mittel insbesondere eine Abmahnung oder eine ordentliche Kündigung in Betracht. Sie sind dann alternative Gestaltungsmittel, wenn schon sie geeignet sind, den mit der außerordentlichen Kündigung verfolgten Zweck - nicht die Sanktion pflichtwidrigen Verhaltens, sondern die Vermeidung des Risikos künftiger Störungen des Arbeitsverhältnisses - zu erreichen (BAG 20.11.2014 - 2 AZR 651/13 -, juris, Rn. 21).

(2)

Danach hat das Arbeitsgericht unter Berücksichtigung des Prognoseprinzips zutreffend angenommen, als milderes Mittel gegenüber der ausgesprochenen (Verbund-)Kündigung sei wegen dieser angenommenen Pflichtverletzung eine Abmahnung in Betracht gekommen.

(a)

Beruht die Vertragspflichtverletzung auf steuerbarem Verhalten des Arbeitnehmers, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sein künftiges Verhalten schon durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses positiv beeinflusst werden kann. Ordentliche und außerordentliche Kündigung wegen einer Vertragspflichtverletzung setzen deshalb regelmäßig eine Abmahnung voraus. Einer solchen bedarf es nach Maßgabe des auch in § 314 Abs. 2 iVm. § 323 Abs. 2 BGB zum Ausdruck kommenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur dann nicht, wenn bereits ex ante erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft auch nach Abmahnung nicht zu erwarten steht, oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich - auch für den Arbeitnehmer erkennbar - ausgeschlossen ist (BAG 20.11.2014 - 2 AZR 651/13 -, juris, Rn. 22).

(b)

Der Kläger war am 07.06.2019 noch nicht einschlägig abgemahnt. Sowohl die Abmahnung vom 02.06.2014 als auch die Abmahnung vom 28.02.2017 betrafen andersartige Pflichtverletzungen. Hinzu kommt, dass die Abmahnung wegen der angeblichen Unbeherrschtheit des Klägers bereits über 4 Jahre vor dem 07.06.2019 aus der Personalakte entfernt worden war und die Abmahnung wegen der angeblichen Falschbehauptung nach der rechtskräftigen Entscheidung des LAG Niedersachsen vom 30.05.2018 sachlich unberechtigt war.

Die Beklagte hat auch nicht dargelegt, dass die Kündigungen vom 06.03.2017, 04.07.2017 und 23.08.2018 die Funktion einer Abmahnung erfüllen, was jedenfalls dann in Betracht kommt, wenn der Kündigungssachverhalt feststeht, einschlägig ist und die Kündigung aus anderen Gründen, z.B. wegen fehlender Abmahnung, für sozialwidrig erachtet worden ist (vgl. BAG 31.08.1989 - 2 AZR 13/89 -, juris). Es ist aber im Streitfall schon nicht erkennbar, dass die seinerzeit zugrundeliegenden Vorwürfe einschlägig sind. Zum Hintergrund der Kündigung vom 06.03.2017 ist nichts näher vorgetragen. Die Kündigung vom 04.07.2017 betraf den Vorwurf des Prozessbetruges. Die Kündigung vom 23.08.2018 hatte verschiedene Vorwürfe im Zusammenhang mit überlassenen Betriebsmitteln/Datenträgern zum Gegenstand.

(c)

Eine Abmahnung war auch nicht ausnahmsweise entbehrlich.

(aa)

Es liegt keine so schwere Pflichtverletzung vor, dass der Beklagten bereits deren erstmalige Hinnahme ohne Ausspruch einer Kündigung nach objektiven Maßstäben unzumutbar war. Zwar hätte sich der Kläger mehrfach und vorsätzlich über Aufforderungen des Werkschutzes hinweggesetzt. Die Aufforderungen, die Flugblattverteilung einzustellen und das Werksgeländes zu verlassen, erfolgten jedoch allesamt innerhalb eines einheitlichen Geschehens vor dem Werkstor 4 am Morgen des 07.06.2019. Der Kläger ging ferner angesichts des unstreitigen Standortes der Gruppe vor dem Werkstor/der Umzäunung und vor dem Schild "Privatgrundstück" davon aus, sich außerhalb der Werksgrenzen zu befinden und zu seiner Handlung befugt gewesen zu sein, wie die von der Beklagten selbst vorgetragenen Äußerungen des Klägers, dass sie hierzu berechtigt seien und sich nicht auf dem Werksgelände befänden, verdeutlichen. Dem Vortrag der Beklagte kann nicht entnommen werden, dass Frau I. auf die Nachfrage des Klägers im Mai das angekündigte Verteilen ausdrücklich untersagt oder konkrete entgegenstehende betriebliche oder sonstige Belange geltend gemacht hat. Bei dieser Sachlage kann nicht einmal ausgeschlossen werden, dass der Kläger das Verhalten der Frau I. sogar als stillschweigende Genehmigung aufgefasst hat, auch wenn sie die Verteilung im juristischen Sinne nicht genehmigt haben mag.

Die Beklagte hat ferner nicht hinreichend dargelegt, dass aufgrund des Verlaufs des Telefonats mit Frau I. am 20.05.2019 sowie des Inhalts seiner E-Mail an Frau I. vom Folgetag oder aufgrund sonstiger Umstände auf eine von Anfang an bestehende Kenntnis des Klägers von dem von ihr behaupteten Verlauf der Werksgrenze und - mit Blick auf das bestehende Werkverbot - auf eine Verbotswidrigkeit seines Tuns geschlossen werden kann. Den genauen Inhalt der Kommunikation hat die Beklagte nicht mitgeteilt. Selbst wenn der Kläger bei Frau I. nachgefragt hätte, ob etwas gegen die beabsichtigte Verteilung von Flugblättern vor dem Werkstor spricht, ließe dies keinen zuverlässigen Schluss auf die behauptete Kenntnis von der Werksgrenze zu. Die Anfrage belegt allenfalls, dass der Kläger es für möglich gehalten hat, dass der beabsichtigten Verteilung unmittelbar vor dem Werkstor Belange der Beklagten entgegenstehen könnten. Insoweit käme jedoch neben einem Verstoß gegen das Werksverbot bzw. die Grundstücksgrenzen ebenso Bedenken der Beklagten wegen der Zugänglichkeit des Werkes oder der Verkehrssicherheit in Betracht. Ebensowenig kann nach dem Vortrag der Beklagten ausgeschlossen werden, dass der Kläger mit der Anfrage angesichts der fortwährenden Meinungsverschiedenheiten der Parteien und mit Blick auf das bereits bestehende Werksverbot sichergehen wollte, keinen Grund für eine neue Auseinandersetzung zu setzen und einem Einschreiten des Werksschutzes vorzubeugen.

Zwar hatte der Kläger nach dem ersten Hinweis der Sicherheitskräfte auf den Verlauf der Werksgrenze Anlass an seiner Berechtigung zu zweifeln, weshalb jedenfalls ab diesem Zeitpunkt von schuldhaftem Verhalten des Klägers auszugehen war. Gleichwohl kann im Rahmen der Interessenabwägung auch ein vermeidbarer Irrtum des Arbeitnehmers Bedeutung gewinnen (vgl. BAG 29.08.2013 - 2 AZR 273/12 -, Rn. 40, juris). Insoweit kann hier nicht unberücksichtigt bleiben, dass eine Überprüfung der von den Sicherheitskräften gegebenen - den sichtbaren Umständen (Standort vor dem Werkstor/der Umzäunung und vor dem Schild mit der Aufschrift "Privatgrundstück") aber anscheinend widersprechenden - Information durch den Kläger und seine Kollegen in der konkreten Situation nicht ohne weiteres möglich war. Dies gilt auch noch in Ansehung der gut einstündigen Unterbrechung der Verteilaktion zu einer Tageszeit, zu der eine Klärung der Streitfrage schwerlich möglich erscheint. Ferner ist zugunsten des Klägers zu berücksichtigen, dass die Verteilung auf dem Werksgelände auf Seiten der Beklagten weder zu einer Beschädigung von Eigentum geführt noch die Ausübung ihres Gewerbebetriebes beeinträchtigt hat. Für unzulässige Inhalte des verteilten Magazins hat die Beklagte nichts vorgebracht. Das Gewicht der unterstellten Pflichtverletzung und die damit verbundenen Folgen auf Seiten der Beklagten sind somit beschränkt und hätten sich mangels anderer Anhaltspunkte bezüglich dieses Vorwurfs in der ansonsten folgenlosen Hinnahme des zeitlich begrenzten Geschehens erschöpft. Wegen dieses Verhaltens musste der Kläger bei der gebotenen objektiven Betrachtung allenfalls mit einer Abmahnung rechnen.

(bb)

Es war zum Zeitpunkt der Kündigung auch nicht von vorneherein erkennbar, dass eine Verhaltensänderung des Klägers in Zukunft nach Abmahnung nicht zu erwarten war. Für die erforderliche Feststellung des Gegenteils hat die Beklagte keine hinreichenden Tatsachen vorgebracht. Zwar hat der Kläger nach ihrem Vortrag mehrfachen Aufforderungen keine Folge geleistet. Diese erfolgten aber allesamt im Rahmen eines zusammenhängenden Geschehens am Morgen des 07.06.2019. Zudem war noch vor Einleitung arbeitsrechtlicher Maßnahmen aufgrund des weiteren Verhaltens des Klägers nach Eintreffen der Polizei am 07.06.2019 zu erwarten, dass er künftig vergleichbare Aktionen unter Beachtung der Werksgrenzen und damit ohne Auseinandersetzungen mit dem Werkschutz durchführt. Denn nach dem eigenen Vortrag der Beklagten haben der Kläger und seine Kollegen ab Mittag des Tages die Verteilaktion vor den Werksgrenzen fortgesetzt.

b)

Zum Vorwurf unerlaubter Ton- und Filmaufnahmen

(1)

Trifft dieses Vorbringen zu, hätte der Kläger seine ihm nach § 241 Abs. 2 BGB obliegende Pflicht zur Rücksichtnahme auf die berechtigten Interessen des Beklagten verletzt und einen "an sich geeigneten" Grund für eine außerordentliche Kündigung gesetzt. Denn das Recht am eigenen Bild und damit auch das ungenehmigte Anfertigen von Bildnissen ist vom Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Einzelnen umfasst. Der Arbeitgeber hat - schon im Interesse des Betriebsfriedens - seine Mitarbeiter bei der Ausübung ihrer Tätigkeit auch im Hinblick auf das Recht am eigenen Bild zu schützen. Auch hier ist die straf- oder ordnungswidrigkeitsrechtliche Beurteilung kündigungsrechtlich ohne Belang (vgl. BAG 19.07.2012 - 2 AZR 989/11 -, Rn. 40, juris zu heimlichen Tonaufnahmen). Maßgeblich ist das Gewicht einer mit diesem Verhalten verbundenen Verletzung der Pflicht zur Rücksichtnahme auf die berechtigten Interessen der Beklagten, das sich etwa aus der Dauer, der Häufigkeit, der Heimlichkeit oder dem betroffenen Bereich der Pflichtverletzung (z. B. Intimsphäre) ergeben kann.

(2)

Die Kammer unterstellt auch hier den Vortrag der Beklagten zu dem Handymitschnitt des Klägers und dessen Zusammenhang im Verlauf der Auseinandersetzung als zutreffend. Spätestens die Fortsetzung der Aufnahme gegen den Willen des Herrn F. stellt sich danach als Pflichtwidrigkeit dar, ohne dass allerdings allein deswegen bereits objektiv der Ausspruch einer Kündigung ohne Abmahnung unter Abwägung der beiderseitigen Interessen gerechtfertigt wäre. Der Mitschnitt ist nach dem als wahr unterstellten Vortrag der Beklagten zwar vorsätzlich, aber nicht heimlich erfolgt und hat insgesamt nur eine kurze Zeit gedauert. Er betraf nicht die Intim- oder engere Privatsphäre des Herrn F., sondern seine Arbeitstätigkeit an einem allgemein zugänglichen Ort.

c)

Zum Vorwurf hämische Äußerung "Ah, die Polizei ist da!"

Es kann zugunsten der Beklagten angenommen werden, dass eine vom Arbeitnehmer hämisch verlautbarte Äußerung "Ah, die Polizei ist da!" gegenüber dem Leiter des Sicherheitsdienstes an sich geeignet ist, den Ausspruch einer Kündigung zu rechtfertigen. Für sich betrachtet rechtfertigt diese unstreitige Äußerung - selbst wenn sie entsprechend dem Vortrag der Beklagten hämisch verlautbart worden sein sollte - aufgrund der Geringfügigkeit einer damit verbundenen Pflichtverletzung unter Abwägung der beiderseitigen Interessen jedenfalls nicht den Ausspruch einer Kündigung ohne einschlägige Abmahnung. Weder inhaltlich, noch hinsichtlich der behaupteten Art der Verlautbarung noch hinsichtlich der Gesamtumstände, unter denen sie abgegeben worden sein soll, läge eine (grobe) Beleidigung des Herrn F..

d)

Zum Vorwurf des Drückens zweier Sicherheitskräfte gegen einfahrende Fahrzeuge

aa)

Ein tätlicher Angriff auf einen Arbeitskollegen stellt eine schwere Verletzung arbeitsvertraglicher Nebenpflichten (§ 241 Abs. 2 BGB) dar, die den Arbeitgeber zur sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses aus wichtigem Grund berechtigen kann. Der Arbeitgeber ist nicht nur allen Arbeitnehmern verpflichtet, dafür zu sorgen, dass sie keinen Tätlichkeiten ausgesetzt sind, sondern hat auch ein eigenes Interesse daran, dass die betriebliche Zusammenarbeit nicht durch tätliche Auseinandersetzungen beeinträchtigt wird und nicht durch Verletzungen Arbeitskräfte ausfallen. Der Arbeitgeber darf auch berücksichtigen, wie es sich auf das Verhalten der übrigen Arbeitnehmer auswirkt, wenn er von einer Kündigung absieht. Insoweit handelt es sich noch um Folgen des Fehlverhaltens, für das der Arbeitnehmer einzustehen hat. Bei Tätlichkeiten unter Arbeitskollegen bedarf es vor Ausspruch einer Kündigung regelmäßig keiner Abmahnung, denn der Arbeitnehmer weiß von vornherein, dass der Arbeitgeber ein derartiges Fehlverhalten missbilligt. Der Grund, weshalb der Arbeitgeber bereits eine einmalige, schwerwiegende Tätlichkeit zum Anlass für eine fristlose Kündigung nehmen darf, liegt maßgeblich in der von dem betreffenden Arbeitnehmer ausgehenden, durch die verübte Tätlichkeit bereits realisierten und damit auch in Zukunft zu erwartenden Gefährdung anderer Arbeitnehmer des Betriebs, zu deren Schutz der Arbeitgeber verpflichtet ist. Die Reaktion des Arbeitgebers auf ein solches Verhalten muss daher geeignet sein, weitere derartige Vorfälle, von denen erhebliche Gesundheitsgefahren für seine Belegschaft ausgehen, möglichst auszuschließen (zu alledem BAG 18.09.2008 - 2 AZR 1039/06 - juris).

bb)

Das Arbeitsgericht hat unter Zugrundelegung der Aussage des Zeugen E. fehlerfrei angenommen, dass der Kläger diesem gegenüber keine Tätlichkeit im vorstehenden Sinne begangen hat, die eine Kündigung ohne vorherige Abmahnung rechtfertigt.

(1)

Das Arbeitsgericht hat aufgrund der Vernehmung des hierzu von der Beklagten benannten Zeugen E. festgestellt, dass der Kläger mit seiner rechten Hand dem mit dem Rücken zu ihm stehenden Zeugen E. an dessen zwecks Absperrung ausgestreckten linken Unterarm gefasst und nach vorne in Richtung der ca. 1 Meter vor diesem mit einer Geschwindigkeit von ca. 10 - 15 km/h einfahrenden Fahrzeuge geschoben hat. Einer Wiederholung der Beweisaufnahme bedurfte es insoweit nicht. Das Berufungsgericht ist verpflichtet, das Ergebnis einer erstinstanzlich fehlerfrei durchgeführten Beweisaufnahme seiner eigenen Entscheidung zugrundezulegen (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO). Lediglich bei Zweifeln an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen ist eine erneute Beweisaufnahme zwingend geboten (BGH 14.07.2009 - VIII ZR 3/09 - juris). Die Beklagte rügt mit der Berufung jedoch keinen übergangenen Beweisantritt. Soweit sie - zutreffend - darauf verweist, der Zeuge habe eine Entfernung von "ca. unter einem Meter" zu den einfahrenden Fahrzeugen zu Protokoll gegeben statt die vom Arbeitsgericht erörterte Entfernung von "ca. einen Meter", betrifft dies nicht die Vollständigkeit der Feststellungen, sondern die Frage der richtigen Würdigung.

(2)

Die aus der Aussage des Zeugen E. hergeleitete Würdigung des Arbeitsgerichts, der Zeuge E. sei nicht gegen ein einfahrendes Fahrzeug gedrückt worden und das Drücken in Richtung der einfahrenden Fahrzeuge weise unter den gegebenen Umständen ein deutlich geringeres Gefährdungspotential auf, das mangels Gefährdungsvorsatzes die Kündigung ohne vorherige Abmahnung nicht rechtfertige, ist auch unter Zugrundelegung der protokollierten Entfernungsangabe von "ca. unter einem Meter" nicht zu beanstanden. Zunächst ist den festgestellten Umständen nach insbesondere offensichtlich, dass der Kläger den Zeugen durch ein Anfassen und Nach-Vorne-Drücken des Unterarmes nicht unmittelbar selbst verletzen konnte und wollte. Dagegen, dass es ihm darauf ankam eine Verletzung des Zeugen mithilfe der einfahrenden Fahrzeuge herbeizuführen spricht, dass nach Angaben des Zeugen die Flugblattverteiler über die Arme der Sicherheitskräfte hinweg Flugblätter zu einfahrenden Fahrzeugen durchgereicht bzw. dies versucht haben und - mit Ausnahme von Berührungen - keine weiteren Rangeleien erfolgt sind. Trotz des durch den - einmaligen - Druck des Klägers bedingten Eindrehens und Ausbalancierens des Zeugen ist es weder zu einer Berührung eines Fahrzeugs gekommen noch hat der Zeuge offensichtlich eine ernsthafte Gefährdung wahrgenommen. Nach dessen Bekundung hat er nach Wiedereinnahme seiner ursprünglichen Position nicht einmal einen Wortwechsel mit dem schräg hinter ihm stehenden Kläger begonnen, obwohl er diesen kannte und auch gesehen hat, dass dieser der Verursacher der Situation war. Auch im Rahmen seiner gerichtlichen Vernehmung hat der Zeuge nicht geäußert, sich in der Situation gefährdet gefühlt zu haben. Wäre Zielrichtung des klägerischen Handelns in dieser Situation nicht die Flugblattverteilung oder deren Ermöglichung, sondern eine Verletzung des Zeugen E. durch einfahrende Fahrzeuge gewesen, hätte zudem ein Einwirken auf den Rumpf des Zeugen und - bei ausbleibendem Erfolg - eine Wiederholung nähergelegen, als nur ein einmaliges Einwirken auf dessen ausgestreckten Unterarm.

Auch mit einer Entfernung von "ca. unter einem Meter" hat die Beklagte keinen hinreichend schweren Gefährdungsgrad und keinen Gefährdungsvorsatz des Klägers bewiesen. Denn eine Entfernungsangabe von ca. 1 Meter beinhaltet auch eine Entfernung von etwas unter einem Meter. Ist aber aufgrund der vagen Angabe "ca. unter einem Meter" eine Entfernung von etwas unter einem Meter nicht ausgeschlossen, so ist eine erheblich größere Gefährdung des Zeugen als die vom Arbeitsgericht angenommene gerade nicht hinreichend sicher.

Soweit das Arbeitsgericht ferner den zu Protokoll gegebenen Umstand, dass der Kläger zum Vorfallszeitpunkt "kein Flugblatt in der Hand" gehabt hat, nicht ausdrücklich im Rahmen der Beweiswürdigung angesprochen hat, führt dies nicht zu einer anderen Bewertung der Zeugenaussage. Denn selbst wenn der Kläger zum Zeitpunkt des Anfassens und Wegdrückens des Unterarms des Zeugen in beiden Händen kein Flugblatt gehalten haben sollte, ließe dies angesichts der Umstände nicht hinreichend sicher darauf schließen, es sei ihm (allein) um eine Gefährdung des Zeugen E. gegangen. Es kann ihm ebenso darum gegangen sein, den Arm des Zeugen wegzudrücken, um Herrn G. die Übergabe eines Flugblattes an einen einfahrenden Mitarbeiter zu ermöglichen. Der Zeuge hatte die Grundsituation so beschrieben, dass die Flugblattverteiler über die Arme der Sicherheitskräfte hinweg Flugblätter zu einfahrenden Fahrzeugen durchgereicht bzw. dies versucht hätten. Eine somit allenfalls feststellbare fahrlässige und minderschwere Gefährdung der körperlichen Unversehrtheit des Zeugen E. stellt keine Tätlichkeit in dem unter d) aa) beschriebenen Sinn dar und kann für sich genommen eine Kündigung ohne einschlägige Abmahnung nicht rechtfertigen.

cc)

Das Arbeitsgericht hat unter Zugrundelegung der Aussage des für glaubwürdig erachteten Zeugen F. ebenfalls fehlerfrei angenommen, dass der Kläger auch diesem gegenüber keine Tätlichkeit begangen hat, die eine Kündigung ohne vorherige Abmahnung rechtfertigt.

Das Arbeitsgericht hat seiner Bewertung zugrundegelegt, dass der Zeuge F. mit dem Rücken zu den im Abstand von ca. 30 - 50 cm hinter ihm durchfahrenden Fahrzeugen gestanden hat, als der Kläger mit beiden Händen Flugblätter festgehalten und ihm diese mehrfach hintereinander gegen die Brust gedrückt hat, worauf er dem Kläger die Flugblätter aus der Hand gezogen und einen Schritt nach vorne gemacht hat. Danach war die Zielrichtung des klägerischen Handelns zwar allein eine Berührung des Herrn F.. Ferner ist ein Abstand des Zeugen von ca. 30 - 50 cm zu den durchfahrenden Fahrzeugen in dieser Situation durchaus kritisch. Andererseits hat der Kläger den Zeugen F. nach dessen Schilderung weder geschlagen noch gestoßen. Der Kläger hatte in beiden Händen Flugblätter. Der Zeuge hat auch nichts dafür vorgetragen, dass der vom Kläger ausgeübte "Druck" so beschaffen war, dass er das Gleichgewicht hätte verlieren können oder nach hinten in Richtung Fahrbahn zurücktreten musste, um dieses nicht zu verlieren. Vielmehr war der Zeuge nach seinem Bekunden in der Lage dem Kläger - ohne druckbedingt zurücktreten oder sich ausbalancieren zu müssen - die Flugblätter aus den Händen zu ziehen und einen Schritt nach vorne zu gehen. Auch hat der Zeuge F. nicht bestätigt, dass infolge des Vorgehens des Klägers einige Fahrzeuge ausweichen, andere abrupt abbremsen mussten, um ihn, den Zeugen, nicht umzufahren.

Nichts anderes gilt unter weiterer Berücksichtigung der Aussage des Zeugen E.. Dieser hat in Bezug auf die fragliche Kontakthandlung des Klägers nicht einmal das Wort "gedrückt", sondern lediglich das noch allgemeinere Wort "berührt" verwendet. Zwar hat der Zeuge E. in diesem Zusammenhang auch ausgeführt, der Zeuge F. sei zurückgewichen. Bei dem vom Zeugen E. geschilderten Zurückweichen handelte es sich jedoch um eine willensgesteuerte und nicht etwa durch die Wucht der Berührung bedingte Handlung des Zeugen F.. Denn der Zeuge E. hat das Zurückweichen sogleich damit erklärt, dass er (Anm.: der Zeuge F.) keine körperliche Konfrontation wollte. Zudem spräche das vom Zeugen E. geschilderte willentliche Zurückweichen gegen die vom Zeugen F. behauptete Entfernung zu den einfahrenden Fahrzeugen.

e)

Die gebotene Gesamtschau der vorstehend unter a) bis d) erörterten Vorwürfe rechtfertigt die Kündigung ohne Abmahnung ebenfalls noch nicht. Zwar hätte der Kläger objektiv und schuldhaft mehrere Pflichtverletzungen begangen, die jeweils für sich abmahnungswürdig wären. Sämtliche angenommenen Pflichtverletzungen hätten sich aber letztlich im Rahmen eines einheitlichen Gesamtgeschehens zugetragen, das seinen Ausgang in der durch äußere Umstände gestützten irrigen Annahme des Klägers genommen hat, vor dem Werkstor zur Flugblattverteilung berechtigt gewesen zu sein. Die weiteren Pflichtverletzungen hätten sich im Rahmen einer sich aufschaukelnden Auseinandersetzung als Reaktion auf vermeintlich unberechtigte Handlungen des Werkschutzes (Aufforderung, die Verteilung der Flugblätter einzustellen und den Ort zu verlassen; Versuche, die Flugblattverteilung durch körperlichen Einsatz zu verhindern) ergeben. Wäre es dem Kläger von vorneherein darum gegangen mit der Flugblattverteilung gezielt Rechtsbruch zu begehen, hätte er nicht zuvor bei Frau I. nachgefragt, ob etwas gegen die beabsichtigte Verteilung von Flugblättern vor dem Werkstor spricht. In diesem Zusammenhang hat die Beklagte nicht dargelegt, bei der Nachfrage des Klägers im Mai durch klare Kommunikation eines Verbotes im Vorfeld alles ihrerseits Mögliche dafür getan zu haben, dass es zu keiner Flugblattverteilung vor dem Werkstor kommt.

Ins Gewicht fällt ferner, dass niemand vom Sicherheitsdienst körperlich beeinträchtigt oder gezielt in eine lebensgefährliche Situation gebracht worden ist und bei Ausspruch der Kündigung aufgrund des weiteren Verhaltens des Klägers nach Eintreffen (und Abrücken) der Polizei, aber noch vor Einleitung arbeitsrechtlicher Maßnahmen, zu erwarten war, dass er künftig vergleichbare Aktionen unter Beachtung der Werksgrenzen und damit ohne Auseinandersetzungen mit dem Werkschutz durchführt. Bei der gebotenen objektiven Betrachtung konnte die Beklagte daher noch hinreichendes Vertrauen in den Kläger haben.

2.

Aus den vorstehenden Gründen scheitert auch die hilfsweise ausgesprochene ordentliche Kündigung, denn auch vor Ausspruch einer ordentlichen verhaltensbedingten Kündigung bedarf es nach dem Prognoseprinzip grundsätzlich des Ausspruchs einer einschlägigen Abmahnung.

3.

Der Auflösungsantrag der Beklagten hat auch unter Berücksichtigung des Berufungsvorbringens keinen Erfolg.

a)

Der Arbeitgeber kann die Auflösung des Arbeitsverhältnisses nur verlangen, wenn er Gründe vorträgt, die eine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit mit dem Arbeitnehmer nicht erwarten lassen. Der dem Kündigungsschutzgesetz zugrundeliegende Gedanke des Bestandsschutzes verlangt allerdings, dass eine Auflösung des Arbeitsverhältnisses nach § 9 KSchG nur ausnahmsweise in Betracht kommt und an die Gründe für die Auflösung des Arbeitsverhältnisses auf Betreiben des Arbeitgebers strenge Anforderungen zu stellen sind (vgl. BVerfG 22.10.2004 - 1 BvR 1944/01 - juris; BAG 07.03.2002 - 2 AZR 158/01 - juris). Als Auflösungsgründe für den Arbeitgeber iSv. § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG kommen Umstände in Betracht, die das persönliche Verhältnis zum Arbeitnehmer, eine Wertung seiner Persönlichkeit, Leistung oder Eignung für die ihm übertragenen Aufgaben und sein Verhältnis zu den übrigen Mitarbeitern betreffen. Die Gründe, die eine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit zwischen den Vertragspartnern nicht erwarten lassen, müssen nicht im Verhalten, insbesondere nicht im schuldhaften Verhalten des Arbeitnehmers liegen. Entscheidend ist, ob die objektive Lage bei Schluss der mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz die Besorgnis rechtfertigt, eine weitere gedeihliche Zusammenarbeit sei gefährdet.

b)

Hiervon ausgehend liegen keine hinreichenden Auflösungsgründe vor.

aa)

Allein das - jeweils unzureichende - Kündigungsvorbringen im vorliegenden Kündigungs-schutzprozess sowie in den vorangegangenen Kündigungsschutzverfahren 1 Ca 115/17 und 1 Ca 291/17 ArbG Braunschweig rechtfertigt keine Auflösung des Arbeitsverhältnisses.

(1)

Der Geeignetheit als Auflösungsgrund steht es nicht von vornherein entgegen, dass das Verhalten des Klägers die Kündigung selbst nicht rechtfertigen konnte. Die Beklagte kann sich zur Begründung ihres Auflösungsantrags auch auf Gründe berufen, auf die sie zuvor - erfolglos - die ausgesprochene Kündigung gestützt hat. In diesen Fällen muss sie aber im Einzelnen vortragen, weshalb die unzureichenden Kündigungsgründe einer den Betriebszwecken dienlichen weiteren Zusammenarbeit entgegenstehen sollen. Der Vortrag muss so beschaffen sein, dass sich das Gericht, wollte es die Auflösung des Arbeitsverhältnisses auf dieses Vorbringen stützen, nicht in Widerspruch zu seiner Beurteilung des Kündigungsgrundes als unzureichend setzen müsste (BAG 24.05.2018 - 2 AZR 73/18 -, Rn. 19, juris).

(2)

Diesen Anforderungen genügt der Vortrag der Beklagten nicht.

(a)

Wenn das zu ihren Gunsten als wahr unterstellte Vorbringen zu den Gründen der Kündigung vom 19.06.2019 - wie vorstehend festgestellt - zum Kündigungszeitpunkt die streitgegenständliche Kündigung nicht rechtfertigen konnte, weil bei objektiver Betrachtung angesichts der Gesamtumstände der Ausspruch einer Abmahnung ein zumutbares milderes Mittel und infolgedessen eine Rückkehr des Klägers zur Vertragstreue zu erwarten war, dann bedarf es - auch unter Berücksichtigung des andersartigen Prüfungsmaßstabs bei Kündigung und Auflösungsantrag - einer näheren Begründung, warum jedenfalls zum Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung im Berufungsverfahren - allein aus diesen Gründen - eine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit nicht mehr zu erwarten war. Solcher Vortrag der Beklagten fehlt weiterhin. So ist etwa nichts dafür vorgetragen, weshalb nunmehr davon auszugehen ist, eine Abmahnung werde doch nicht erfolgversprechend sein und für einen anzunehmenden Wiederholungsfall drohe der Beklagten großer Schaden.

(b)

Nichts anderes gilt, soweit die Beklagte den Auflösungsantrag auf die Gründe stützt, die zu den Kündigungen vom 04.07.2017 (angeblich bewusst wahrheitswidriger Prozessvortrag im Abmahnungsprozess 1 Ca 86/17) und 23.08.2018 (mehr als 1 Jahr verspätete Zurückgabe eines betrieblichen Arbeitsplatzrechners nebst Smartphone unter vorheriger Datenlöschung bzw. Zurücksetzung auf Werkseinstellung) geführt haben. Dabei kann zugunsten der Beklagten davon ausgegangen werden, dass sie sich zur Begründung ihres Auflösungsantrags auch jetzt noch auf Gründe berufen kann, auf die sie zuvor erfolglos frühere Kündigungen gestützt hat. Soweit im vorangegangenen Kündigungsschutzverfahren 1 Ca 291/17 ArbG Braunschweig (10 Sa 101/19 LAG Niedersachsen) betreffend die Kündigungen vom 04.07.2017 und 23.08.2018 jedoch überhaupt Pflichtverletzungen des Klägers festgestellt worden sind, sind diese andersartig, als die Gründe für die Kündigung vom 19.06.2019. Inwiefern diese nunmehr bei Schluss der mündlichen Verhandlung in Verbindung mit den unzureichenden Kündigungsgründen des Streitfalles die Erwartung einer den Betriebszwecken entgegenstehenden weiteren Zusammenarbeit begründen sollen, hätte die Beklagte durch geeigneten - greifbaren - Sachvortrag begründen müssen. Allein der Hinweis auf frühere angebliche Pflichtverletzungen, die eine Kündigung nicht zu rechtfertigen vermochten und die darauf gestützte Wertung man habe infolgedessen das Vertrauen in den Kläger verloren und erwarte keine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit, reicht nicht aus (vgl. BAG 08.10.2009 - 2 AZR 682/08 -, Rn. 20, juris).

bb)

Im Ergebnis nichts anderes gilt für die Gründe, die der Abmahnung vom 02.06.2014 zugrunde lagen. Mit der Abmahnung hat die Beklagte zunächst selbst verdeutlicht, dass ihr eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses wegen des abgemahnten Vorfalls noch zumutbar war. Hinzu kommt, dass die Abmahnung aufgrund eines bestandskräftig gewordenen gerichtlichen Vergleiches bereits mit Ablauf des 31.03.2015 ersatzlos aus der Personalakte des Klägers zu entfernen war. Damit ist es der Beklagten verwehrt, sich nunmehr auf diesen, erhebliche Zeit zurückliegenden Vorgang zur Begründung eines Auflösungsantrags zu berufen.

cc)

Eine angebliche Falschbehauptung des Klägers gegenüber Mitarbeitern des Sicherheitsdienstes am 07.06.2019, Frau I. habe ihm das Verteilen der Flugblätter auf dem Werksgelände erlaubt, hat die Beklagten schon nicht hinreichend dargelegt. Nach der Betriebsratsanhörung (dort S. 3) und dem ursprünglichen Prozessvortrag der Beklagten (so noch S. 4 Berufungsbegründung) hat der Kläger am 07.06.2019 nach dem Vorzeigen seiner an Frau I. gerichteten Mail und der Frage des Sicherheitsdienstes nach einer Antwortmail gesagt, dass er eine Genehmigung nicht brauche. Soweit die Beklagte aus diesem Vortrag ableiten will (vgl. S. 3 des Schriftsatzes vom 22.11.2019, S. 6 Berufungsbegründung, S. 2 des Schriftsatzes vom 30.08.2021), der Kläger habe (wahrheitswidrig) eine Genehmigung von I. behauptet, trägt ihr unter Beweisantritt S. gestellter Tatsachenvortrag diese Schlussfolgerung nicht.

dd)

Der Auflösungsantrag ist auch nicht wegen bewusst wahrheitswidrigem oder leichtfertig falschem Prozessvortrag des Klägers begründet.

(1)

Soweit in einem laufenden Gerichtsverfahren - etwa im Kündigungsschutzprozess - Erklärungen abgegeben werden, ist zu berücksichtigen, dass diese durch ein berechtigtes Interesse des Arbeitnehmers gedeckt sein können. Parteien dürfen zur Verteidigung von Rechten schon im Hinblick auf den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) alles vortragen, was als rechts-, einwendungs- oder einredebegründender Umstand prozesserheblich sein kann. Ein Prozessbeteiligter darf auch starke, eindringliche Ausdrücke und sinnfällige Schlagworte benutzen, um seine Rechtsposition zu unterstreichen, selbst wenn er seinen Standpunkt vorsichtiger hätte formulieren können. Dies gilt allerdings nur in den Grenzen der Wahrheitspflicht. Parteien dürfen nicht leichtfertig Tatsachenbehauptungen aufstellen, deren Unhaltbarkeit ohne Weiteres auf der Hand liegt (BAG 29.08.2013 - 2 AZR 419/12 -, Rn. 37, juris). Bewusst wahrheitswidriger Prozessvortrag eines Arbeitnehmers in einem Kündigungsrechtsstreit, den dieser hält, weil er befürchtet, mit wahrheitsgemäßen Angaben den Prozess zu verlieren, ist geeignet, eine Auflösung des Arbeitsverhältnisses zu rechtfertigen. Ein Arbeitnehmer, der bewusst falsch vorträgt, um sich einen Vorteil im Rechtsstreit mit seinem Arbeitgeber zu verschaffen, verletzt - ungeachtet der strafrechtlichen Relevanz seines Handelns - in erheblicher Weise seine nach § 241 Abs. 2 BGB auch im gekündigten Arbeitsverhältnis bestehende Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Interessen des Arbeitgebers (BAG 24.05.2018 - 2 AZR 73/18 -, Rn. 25, juris).

Allerdings kann nicht jeder unzutreffende Parteivortrag als "Lüge" bezeichnet werden. Die Wahrnehmung eines Geschehens ist generell nicht unbeeinflusst vom äußeren und inneren Standpunkt des Wahrnehmenden. Gleiches gilt für Erinnerung und Wiedergabe, zumal in einem von starker Polarität geprägten Verhältnis, wie es zwischen Prozessparteien häufig besteht. Wenn sich das Gericht nach den Regeln des Prozessrechts in §§ 138, 286 ZPO die - rechtlich bindende, aber um deswillen nicht der Gefahr des Irrtums enthobene - Überzeugung bildet, ein bestimmter Sachverhalt habe sich so und nicht anders zugetragen, ist damit die frühere, möglicherweise abweichende Darstellung einer Partei nicht zugleich als gezielte Irreführung des Gerichts oder der Gegenpartei ausgewiesen. Es bedarf vielmehr besonderer Anhaltspunkte, um einen solchen - schweren - Vorwurf zu begründen (BAG 10.06.2010 - 2 AZR 541/09 -, juris, Rn. 57).

Die Beweislast sowohl für die Unwahrheit der Behauptungen als ggf. auch für das entsprechende Bewusstsein beim Arbeitnehmer trifft die Arbeitgeberin (BAG 24. Mai 2018, a.a.O. Rn. 30).

(2)

Hiervon ausgehend gilt im Einzelnen Folgendes:

(a)

Bezüglich der Behauptung, Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes hätten ihn und seine Mitstreiter "umzingelt", ist festzustellen, dass die Beklagte zuvor in ihrer Klageerwiderung (S. 7, Bl. 27 d. A.) selbst schon vorgetragen hatte, Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes hätten sich zwischen die Verteilenden und die fahrenden Fahrzeuge gestellt. Der Kläger hat dies im Schriftsatz vom 13.09.2019 auf S. 10 (Bl. 89 d. A. letzter Absatz) bestätigt und auf der Folgeseite vorgetragen "Anschließend begannen Herr S. und weitere Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes damit, erneut den Kläger und Herrn G. zu umzingeln und sie an der Verteilung der Magazine zu behindern." Die Verwendung des Wortes "erneut", ohne dass der Kläger zuvor schon ein Umzingeln behauptet hatte, spricht in diesem Zusammenhang dafür, dass er mit "umzingeln" den von der Beklagten beschriebenen Vorgang meint, bei dem sich Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes zwischen die Verteilenden und die fahrenden Fahrzeuge gestellt haben und dass er diesen Vorgang als "Umzingeln" wahrgenommen oder insoweit überspitzt oder nachlässig formuliert hat. Unabhängig davon liegt angesichts der Ähnlichkeit des beiderseitigen Vortrags in diesem Punkt kein hinreichender Grund für die Annahme vor, der Kläger sei davon ausgegangen ohne diesen - unterstellt objektiv wahrheitswidrigen - Vortrag den Prozess zu verlieren.

(b)

Soweit die Beklagte dem Kläger die Falschbehauptung vorwirft, Herr F. habe ihn, gefilmt, ist der Vorwurf an sich schon unzutreffend, weil der Kläger eine entsprechende Behauptung nicht aufgestellt hatte. Der Kläger hatte auf S. 11 seines Schriftsatzes vom 13.09.2019 vielmehr vorgetragen, dass Herr S. begonnen habe, mit seinem Handy Fotos von ihm und Herrn G. zu machen.

Sollte die Beklagte Herrn S. und nicht Herrn F. gemeint haben, ergäbe sich kein anderes Ergebnis. Mit der bloßen Benennung der angeblich vom Kläger falsch vorgetragenen Tatsachen hat die Beklagte ihrer Darlegungslast für bewusst wahrheitswidrigen oder leichtfertig erbrachten Falschvortrag noch nicht genügt. Ein solches Bewusstsein wäre eine sogenannte innere Tatsache, auf deren Vorliegen aufgrund vorzutragender äußerer Umstände hinreichend sicher zu schließen sein müsste. Auch auf die Leichtfertigkeit einer aufgestellten Falschbehauptung müsste aufgrund feststellbarer äußerer Tatsachen hinreichend zuverlässig geschlossen werden können. Unterstellt, es träfe zu, dass Herr S. den Kläger nicht gefilmt hat, fehlen hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger bewusst wahrheitswidrig oder leichtfertig das Gegenteil behauptet hat. Die Kammer verkennt nicht, dass der Kläger detailreich zu einer Handyaufnahme durch Herrn S. vorgetragen hat und eine detailreiche abweichende Schilderung ein grundsätzlich geeignetes Indiz für zumindest bewusst leichtfertigen Falschvortrag sein kann. Diese Umstände reichen der Kammer angesichts unstreitiger Besonderheiten des Streitfalls jedoch nicht aus. Diese haben am Vorfallstag in einer Meinungsverschiedenheit bestanden, die sich allein hinsichtlich der hier fraglichen Auflösungsgründe über ca. 45 Minuten zugespitzt hat. Beteiligt ab 7:15 Uhr waren 6 später 7 Personen, die allesamt aktiv am Geschehen beteiligt waren. Es war nach der seitens der Beklagten übernommenen Aussagen der Zeugen E. und F. ein mehraktiges Geschehen, eine permanent dynamische Situation, in der der Kläger und Herr G. einer Überzahl von Sicherheitskräften gegenüberstanden, in der es unstreitig wechselseitige Berührungen und Äußerungen gegeben hat und in der unstreitig mit Handys durch den Kläger, Herrn G. und Herrn F. hantiert wurde und von einem Mitarbeiter der Sicherheitskräfte die Polizei herbeitelefoniert worden ist. Soweit die Beklagte behaupten will, die Vorgänge hätten sich auch nicht in ähnlicher Form abgespielt, bezieht sich dies auf die Tätlichkeiten (vgl. S. 26 Berufungsbegründung), nicht auf eine Handynutzung durch Herrn S.. Die Beklagte hat auch nicht etwa behauptet und unter Beweis gestellt, dass Herr S. in der gesamten Zeit von 7:15 bis ca. 8:00 Uhr kein Handy in der Hand gehalten habe. Solches ergibt sich auch nicht aus den erstinstanzlichen Aussagen der Zeugen F. und E..

(c)

Eine bewusst wahrheitswidrige oder leichtfertig aufgestellte Behauptung Herr F. habe ihm zweifach auf die rechte Hand geschlagen, ist unter Zugrundelegung der Aussage des Zeugen F. nicht mit der erforderlichen Eindeutigkeit feststellbar. Zunächst gelten insoweit die vorstehenden Ausführungen unter (b) bzgl. Detailreichtum der Angaben einerseits und den Besonderheiten des streitgegenständlichen Geschehens andererseits entsprechend. Die wertende Behauptung der Beklagten, die angebliche Tätlichkeit habe sich auch nicht in ähnlicher Form abgespielt, vermag die Kammer anhand der erstinstanzlichen Aussage des Zeugen F., die sich die Beklagte im Berufungsverfahren zu eigen gemacht hat, nicht mit der erforderlichen Deutlichkeit nachvollziehen. Herr F. hat bekundet, der Kläger habe ihm im Rahmen einer permanent dynamischen Situation die Flugblätter - mit beiden Händen gefasst - gegen die Brust gedrückt, worauf er - F. - sie ihm aus der Hand gezogen habe. Alsdann habe der Kläger ihm die Flugblätter sofort wieder entnommen. Danach erscheint es gerade nicht ausgeschlossen, dass F. und der Kläger sich zweimal an den Händen berührt haben und der Kläger dies jeweils als gezielten Schlag auf die rechte Hand, in der er Flugblätter gehalten habe, wahrgenommen hat. Dies gilt umso mehr, als Herr F. im Rahmen seiner weiteren Aussage erklärt hat, er habe dem Kläger die Flugblätter "entrissen" und sei einen Schritt nach vorne gegangen.

(d)

Auch wenn Herr F. den Kläger nicht angegriffen haben sollte, indem er ihn an seiner Warnweste gepackt, hin und her geschüttelt und zu sich herangezogen hat, folgt daraus nicht bewusst wahrheitswidriger Tatsachenvortrag des Klägers. Auch hier gelten die vorstehenden Ausführungen unter (b) bzgl. Detailreichtum der Angaben einerseits und den Besonderheiten des streitgegenständlichen Geschehens andererseits entsprechend. Die Beklagte trägt aber selbst vor, dass der Kläger und Herr F. körperlich aneinandergeraten seien, indem der Kläger auf Herrn F. zugekommen sei, diesem die Flugblätter gegen die Brust gedrückt und ihn in Richtung der einfahrenden Fahrzeuge gedrückt bzw. gestoßen habe. Hierzu hat Herr F. u. a. ausgesagt: "Als ich von Herrn A. gegen die Brust mehrfach gestoßen worden bin, habe ich ihm die Flugblätter entrissen und bin einen Schritt nach vorne gegangen. Ich bin nicht zurückgewichen (...)". Wenn danach Herr F. trotz einer Berührung durch den Kläger im Brustbereich nicht zurückgewichen, sondern nach vorne, also auf den Kläger zugegangen ist, erscheint der Kammer damit gerade nicht hinreichend sicher ausgeschlossen, dass dieser die Handlung so, wie geschildert empfunden bzw. erinnert hat.

ee)

Die Behauptung "Aua, er hat mich verletzt, habt ihr das gesehen?" obwohl es - unterstellt - keine zielgerichtete Tätlichkeit des Herrn F. gegenüber dem Kläger gegeben hat, rechtfertigt den Auflösungsantrag nicht. Wenn, wie unter cc) (2) (c) erörtert, es gerade nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden kann, dass Herr F. und der Kläger sich zweimal an den Händen berührt haben und der Kläger dies jeweils als schmerzhaften bzw. wuchtigen Schlag auf die rechte Hand wahrgenommen bzw. erinnert hat, fehlt eine hinreichende Grundlage für provokatives Verhalten.

ff)

Mit der von der Beklagten selbst behaupteten Abmahnung wegen der Vorgänge im September 2010 (JAV) hat die Rechtsvorgängerin der Beklagten verdeutlicht, dass eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses wegen des abgemahnten Vorfalls noch zumutbar war. Hinzu kommt, dass die Abmahnung zum Kündigungszeitpunkt bereits knapp 9 Jahre zurücklag und unbestritten aus der Personalakte des Klägers entfernt worden ist. Damit ist es der Beklagten verwehrt, sich nunmehr auf diesen Vorfall zur Begründung eines Auflösungsantrags zu berufen.

gg)

Bezüglich des Vorfalls "Hakenkreuzschmiererei" trägt die Beklagte selbst vor, dass der Kläger in Ausübung seiner Funktion als Jugendvertreter gehandelt hat, die er nicht mehr innehat. Inwieweit dieser Vorgang nach rund 6 Jahren Zweifel an einer den Betriebszwecken dienlichen weiteren Zusammenarbeit zwischen den Vertragspartnern begründet, hat die Beklagte nicht dargelegt. Die pauschale Behauptung auf S. 39 der Berufungsbegründung, eine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit sei gefährdet, reicht dafür nicht.

hh)

Ebensowenig ist ersichtlich, wie das Handeln des Klägers im Zusammenhang mit der Betriebsratswahl 2014 und seine Motive hierfür eine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit im Rahmen des Arbeitsverhältnisses hindern soll. Pflichtwidriges Verhalten wirft ihm die Beklagte insoweit nicht vor.

ii)

Weder die Verbreitung von Videobotschaften des Klägers auf seiner Facebook-Seite als solche, noch der Inhalt der von der Beklagten aufgeführten konkreten Äußerungen lässt eine Pflichtverletzung erkennen. Es handelt sich jeweils um Meinungsäußerungen des Klägers, überwiegend in Bezug auf den Betriebsrat, die IG Metall und die angefochtene Betriebsratswahl, in denen tatsächliche und wertende Elemente einander durchdringen und die ersichtlich keine Schmähkritik oder Formalbeleidigungen enthalten. Dann aber sind solche Äußerungen in der Regel hinzunehmen, auch wenn sie nachteilig für den Betroffenen sind. Die Beklagte, die diese Äußerungen jeweils auch nur auszugsweise vorträgt, hat nicht dargelegt, dass der Kläger die Grenzen der grundgesetzlich geschützten Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) in Bezug auf ihre Rechte oder diejenigen ihrer Arbeitnehmer überschritten hat. Dass es wegen der Äußerungen des Klägers in den sozialen Medien bereits in der Vergangenheit zu konkreten "Konfrontationen" in der Belegschaft gekommen ist und welcher Art diese gewesen sind, hat die Beklagte nicht dargelegt, wobei die bloße Äußerung abweichender Auffassungen durch andere Mitarbeiter jedenfalls noch nicht als auflösungsrelevante Konfrontation gewertet werden könnte. Die Behauptung, dass eine weitere Beschäftigung des Klägers aufgrund seiner Aussagen in den sozialen Medien zu Konfrontationen in der Belegschaft führen wird, die eine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit nicht erwarten lässt, entbehrt damit einer tragfähigen Prognosegrundlage.

jj)

Die Beklagte kann den Auflösungsantrag schließlich nicht allein mit Erfolg auf Umstände im Zusammenhang mit der Betriebsratswahl im Dezember 2020 stützen. Sowohl am 03. als auch am 06.12.2020 hatte der Kläger besonderen Kündigungsschutz als Wahlbewerber gem. § 15 Abs. 3 S. 1 KSchG. Die Vorschrift des § 15 Abs. 3 Satz 1 KSchG in Verbindung mit § 103 BetrVG über den besonderen Kündigungsschutz für Wahlbewerber sind jedenfalls dann leges speciales gegenüber dem Auflösungsantrag des Arbeitgebers nach § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG, wenn der Auflösungsantrag - wie hier - auf ein Verhalten des Arbeitnehmers nach Erlangung des Status als Wahlbewerber für die Betriebsratswahl gestützt wird. Sinn und Zweck und die Systematik sowohl des § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG als auch des § 103 BetrVG sprechen für einen Vorrang der Regelung des § 103 BetrVG jedenfalls gegenüber solchen Auflösungsgründen, die nach dem Eintreten des besonderen Kündigungsschutzes entstanden sind. Denn nach der Grundkonzeption des Kündigungsschutzgesetzes soll das Arbeitnehmerinteresse am Erhalt des Arbeitsplatzes grundsätzlich Vorrang gegenüber dem Arbeitgeberinteresse an der Auflösung des Arbeitsverhältnisses haben. Der Bestand des Arbeitsverhältnisses ist nach den Vorstellungen des Gesetzgebers nicht nur im eigentlichen Kündigungsverfahren, sondern auch im Auflösungsverfahren nach § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG in den Grenzen des Vertretbaren zu schützen (vgl. im Einzelnen LAG Berlin 27.05.2004 - 13 Sa 313/04 -, Rn. 34ff, juris, m.w.N.).

kk)

Schließlich verhilft die Gesamtschau der vorgebrachten Auflösungsgründe dem Antrag nicht zum Erfolg. Zutreffend hat das Arbeitsgericht ausgeführt, dass das Arbeitsverhältnis seit längerer Zeit belastet erscheint. In der Regel treten im Zusammenhang mit jeder Abmahnung, Kündigung etc. Spannungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf. Diese allein vermögen einen Auflösungsantrag aber noch nicht zu rechtfertigen (vgl. BAG 24.09.1992 - 8 AZR 557/91 -, Rn. 28, juris). Die Wertung der Beklagten, dass es der Kläger immer wieder gezielt auf Rechtsbrüche anlege, entbehrt unter Berücksichtigung der vorstehenden Ausführungen einer hinreichenden Tatsachengrundlage. Soweit die Beklagte zur Begründung des Auflösungsantrags auf wiederholte bewusst oder leichtfertig aufgestellte Falschbehauptungen des Klägers verweist, haben sich diese im Rahmen des vorliegenden und der vorangegangenen Verfahren nicht feststellen lassen. Zwar mag auch bereits der dringende Verdacht einer wiederholten schweren Pflichtverletzung einen Auflösungsantrag begründen können (zur sogen. Verdachtsauflösung ErfK-Kiel, 21. Aufl. § 9 KSchG, Rn. 17). Die Beklagte hat den Auflösungsantrag jedoch nur auf den Tatvorwurf, nicht auch auf einen dringenden Verdacht gestützt. Ungeachtet dessen hatte das LAG Niedersachsen im Verfahren 10 Sa 101/19 bereits den dringenden Verdacht eines versuchten Prozessbetruges verneint. Im Verfahren 2 Sa 970/17 hatte es ausgeführt, dass die dort streitgegenständliche Behauptung eine Meinungsäußerung ohne konkret fassbaren Tatsachenkern beinhaltet hat, die sich in den Grenzen der geschützten Meinungsfreiheit gehalten hat. Soweit im Streitfall die erkennende Kammer zugunsten der Beklagten objektiv wahrheitswidrige Behauptungen des Klägers angenommen hat, wäre der Verdacht hinsichtlich der subjektiven Seite noch nicht hinreichend dringend. Denn die Dringlichkeit des Verdachts erfordert eine große Wahrscheinlichkeit dafür, dass er zutrifft. Die Verdachtsmomente müssten gleichsam erdrückend sein (vgl. BAG 18.06.2015 - 2 AZR 256/14 - Juris Rn. 21f). Daran fehlt es hier aus den oben erörterten Gründen. Im Übrigen ist zu berücksichtigen, dass es sich bei der Beklagten um einen Großbetrieb handelt in dem der Kläger als Elektroniker keine herausgehobene Stellung innehat. Die zu Tage getretenen Meinungsverschiedenheiten haben ihren Ausgang zuletzt durchweg im Zusammenhang mit dem ausgesprochenen Werksverbot bzw. der angefochtenen Betriebsratswahl 2018 genommen. Ein fortbestehendes Arbeitsverhältnis wird aber nicht typischerweise durch eine Freistellung und ein Werksverbot charakterisiert. Beides steht in untrennbarem Zusammengang mit den zuvor ausgesprochenen arbeitgeberseitigen Kündigungen, die sämtlich unwirksam sind. Die Kammer verkennt nicht, dass der Kläger durch sein Verhalten nicht unerheblich zu der eingetretenen Situation beigetragen hat. Es sind ihr aber keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür erkennbar, dass es aufgrund dessen bei einer erneuten Invollzugsetzung des Arbeitsverhältnisses im Arbeitsumfeld des Klägers zu objektiv nachhaltigen Störungen des Betriebsfriedens bzw. zu unzureichenden Arbeitsleistungen kommen wird.

4.

Auch das weitere Vorbringen der Beklagten, auf das in diesem Urteil nicht mehr besonders eingegangen wird, weil die Entscheidungsgründe gemäß § 313 Abs. 3 ZPO lediglich eine kurze Zusammenfassung der tragenden Erwägungen enthalten sollen, führt nicht zu einem abweichenden Ergebnis.

II.

Die Beklagte hat als unterlegene Partei die Kosten des erfolglos gebliebenen Rechtsmittels gemäß § 97 Abs. 1 ZPO zu tragen.