Verwaltungsgericht Oldenburg
Urt. v. 02.11.2015, Az.: 12 A 2572/15
Aufnahmerichtlinie; sicherer Drittstaat; Qual; systemische Schwachstelle; Ungarn
Bibliographie
- Gericht
- VG Oldenburg
- Datum
- 02.11.2015
- Aktenzeichen
- 12 A 2572/15
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2015, 45335
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 26a AsylVfG
- § 34a AsylVfG
- Art 3 MRK
- Art 4 EUGrdRCh
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Die ungarischen Aufnahmebedingungen für Flüchtlinge werden den Mindestanforderungen zur Gewährung einer Unterkunft, Versorgung und Verpflegung nicht gerecht.
2. Das ungarische Asylsystem verletzt das Non-Refoulement-Gebot.
3. Zur ungarischen Inhaftierungspraxis der Dublin-Rückkehrer.
Tenor:
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 3. Juni 2015 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Tatbestand:
Der Kläger wendet sich gegen die Entscheidung der Beklagten, seinen Asylantrag als unzulässig abzulehnen und seine Abschiebung nach Ungarn anzuordnen.
Der Kläger ist irakischer Staatsangehöriger. Nach eigenen Angaben reiste er u.a. über Ungarn im März 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte kurz darauf seine Anerkennung als Asylberechtigter.
Die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) durchgeführte EURODAC-Anfrage ergab einen Treffer für Ungarn. Dem Wiederaufnahmegesuch des Bundesamtes stimmte die zuständige ungarische Behörde am 29. April 2015 zu.
Mit Bescheid vom 3. Juni 2015 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung nach Ungarn an. Zur Begründung wurde im Einzelnen ausgeführt, dass der Asylantrag gemäß § 27a AsylVfG unzulässig sei, da Ungarn aufgrund des dort gestellten Asylantrages nach der Dublin III-VO für die Prüfung des Asylantrages zuständig sei. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Bundesrepublik Deutschland veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO auszuüben, seien nicht ersichtlich. Gründe für die Annahme von systemischen Mängeln im ungarischen Asylsystem lägen nicht vor. Daher werde der Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland materiell nicht geprüft.
Der Kläger hat am 22. Juni 2015 Klage erhoben. Auf den gleichzeitig erhobenen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat das Gericht durch Beschluss vom 15. Juli 2015 die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung im angefochtenen Bescheid angeordnet (12 B 2574/15). Wegen der Begründung wird auf die Ausführungen in diesem Beschluss Bezug genommen.
Die Beklagte machte auch nach Abschluss des Eilverfahrens von ihrem Selbsteintrittsrecht keinen Gebrauch.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 3. Juni 2015 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie bezieht sich zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und den des Verwaltungsvorganges der Beklagten Bezug genommen; sie sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.
Entscheidungsgründe
Über die Klage konnte ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, weil die Beteiligten sich hiermit einverstanden erklärt haben (§ 101 Abs. 2 VwGO).
Die Klage ist als Anfechtungsklage (vgl. zur Statthaftigkeit der Anfechtungsklage Nds. OVG, Beschl. v. 6. November 2014 - 13 LA 66/14 -, OVG NRW, Urt. v. 7. März 2014 - 1 A 21/12.A -; BayVGH, Beschl. v. 2. Februar 2015 - 13 a ZB 14.50068 -, jeweils juris; nunmehr auch BVerwG, Urt. v. 27. Oktober 2015 - 1 C 32.14 -, zur Veröffentlichung bestimmt) zulässig und begründet. Der angegriffene Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 3. Juni 2015 ist im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. Satz 1 2. Halbsatz AsylG) rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 VwGO. Das Bundesamt hat den Asylantrag des Klägers zu Unrecht nach § 27 a AsylVfG - jetzt § 27a AsylG - als unzulässig abgelehnt und daraufhin auf der Grundlage des § 34 a AsylVfG - jetzt § 34a AsylG - die Abschiebung nach Ungarn angeordnet.
Die Voraussetzungen des § 27 a AsylG, wonach ein Asylantrag unzulässig ist, wenn ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist, liegen hier nicht vor.
Vorliegend ist Ungarn zwar grundsätzlich gem. Art. 18 Abs. 1 lit. b, 20 Abs. 5, 23 Dublin III-VO zuständig. Die Zuständigkeit nach den allgemeinen Zuständigkeitsregelungen greift jedoch gem. Art. 3 Abs. 2 UA 2 Dublin III-VO ausnahmsweise nicht ein, wenn das Asyl- oder Aufnahmesystem in dem danach zuständigen Staat systemische Mängel aufweist, die eine Gefahr der Verletzung des Art. 4 GR-Charta mit sich bringen. In diesem Fall darf eine Überstellung in den an sich zuständigen Staat nicht erfolgen. So verhält es sich hier. Aufgrund der dem Gericht vorliegenden Erkenntnismittel hat das Verwaltungsgericht Oldenburg - 12. Kammer - in den Fällen der vorliegenden Art die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet (vgl. etwa: VG Oldenburg - 12. Kammer -, Beschluss vom 18. Juni 2014 - 12 B 1238/14 -, veröffentlicht in der Rechtsprechungsdatenbank des Nds. OVG unter www.rechtsprechung.niedersachsen.de und juris). Darauf wird zunächst Bezug genommen.
Darin ist ausgeführt, dass dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem, zu dem insbesondere die Dublin-Verordnungen gehören, die Vermutung zugrunde liegt, dass jeder Asylbewerber in jedem Mitgliedstaat gemäß den Anforderungen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (ABl. C 83/389 vom 30. März 2010), des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (BGBl. II 1953, S. 559) sowie der Europäischen Konvention der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (BGBl. II 1952, S. 685, ber. S. 953, in der Fassung der Bekanntmachung vom 20. Oktober 2010 (BGBl. II S. 1198)) behandelt wird. Es gilt daher die Vermutung, dass Asylbewerbern in jedem Mitgliedsstaat eine Behandlung entsprechend den Erfordernissen der GR-Charta, der Genfer Flüchtlingskonvention - GFK - und der Europäischen Menschenrechtskonvention - EMRK - zukommt.
Die diesem „Prinzip des gegenseitigen Vertrauens“ (EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 a.a.O.; ders.: Urteil vom 14. November 2013 - C-4/11 -, NVwZ 2014, S. 129 u. juris) bzw. dem „Konzept der normativen Vergewisserung“ (BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 - 2 BvR 1938/93 u. 2315/93 -, BVerfGE 94, S. 49 = NJW 1996, S. 1665 u. juris) zugrunde liegende Vermutung ist jedoch dann als widerlegt zu betrachten, wenn den Mitgliedstaaten „nicht unbekannt sein kann“, also ernsthaft zu befürchten ist, dass dem Asylverfahren einschließlich seiner Aufnahmebedingungen in einem zuständigen Mitgliedstaat derart grundlegende, systemische Mängel anhaften, dass für dorthin überstellte Asylbewerber die Gefahr besteht, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GR-Charta ausgesetzt zu werden (EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011, a.a.O.; ders.: Urteil vom 14. November 2013, a.a.O.). In einem solchen Fall ist die Prüfung anhand der Zuständigkeitskriterien der Dublin-Verordnungen fortzuführen, um festzustellen, ob anhand der weiteren Kriterien ein anderer Mitgliedstaat als für die Prüfung des Asylantrages zuständig bestimmt werden kann. Kann hiernach keine Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat vorgenommen werden oder ist zu befürchten, dass durch ein unangemessen langes Verfahren eine Situation, in der Grundrechte des Asylbewerbers verletzt werden, verschlimmert wird, muss der angegangene Mitgliedstaat den Asylantrag selbst prüfen (vgl. Art. 3 Abs. 2 UA 3 Dublin III-VO; EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011, a.a.O.; ders.: Urteil vom 14. November 2013, a.a.O.).
Als systemische Mängel sind solche Störungen anzusehen, die entweder im System eines nationalen Asylverfahrens angelegt sind und deswegen Asylbewerber oder bestimmte Gruppen von ihnen nicht vereinzelt oder zufällig, sondern in einer Vielzahl von Fällen objektiv vorhersehbar treffen oder die dieses System aufgrund einer empirisch feststellbaren Umsetzung in der Praxis ganz oder in weiten Teilen funktionslos werden lassen (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 19. März 2014 - 10 B 6.14 -, NVwZ 2014, 1093 [VerfGH Rheinland-Pfalz 04.04.2014 - VGH A 15/14,VGH A 17/14], und vom 6. Juni 2014 - 10 B 35.14 -, NVwZ 2014, 1677; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 18. März 2015 - A 11 S 2042/14 -, juris; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21. Februar 2014 - 10 A 10656/13 -, juris; Bank/Hruschka, Die EuGH-Entscheidung zu Überstellungen nach Griechenland und ihre Folgen für Dublin-Verfahren (nicht nur) in Deutschland, ZAR 2012, S. 182).
Die Auslegung der Tatbestandsmerkmale des Art. 4 GR-Charta ist gem. Art. 52 Abs. 3 S. 1 GR-Charta einschließlich der Erläuterungen hierzu (ABL. C 303/17 vom 14. Dezember 207) i. V.m. Art. 6 Abs. 1 S. 3 EUV vom 7. Februar 1992 (ABl. C 191, S. 1), zuletzt geändert durch Art. 1 des Vertrages von Lissabon vom 13. Dezember 2007 (ABl. C 306, S. 1, ber. ABl. 2008 C 111 S. 56 u. ABl. 2009 C 290 S. 1) an Art. 3 EMRK auszurichten. Nach der Rechtsprechung des EGMR (Urteil vom 21. Januar 2011 - 30696/09 (M.S.S. v Belgium and Greece), EuGRZ 2011, 243 = NVwZ 2011, 413) ist eine Behandlung dann unmenschlich, wenn sie absichtlich über Stunden erfolgt und entweder tatsächliche körperliche Verletzungen oder schwere körperliche oder psychische Leiden verursacht. Als erniedrigend ist eine Behandlung dann anzusehen, wenn sie eine Person demütigt oder herabwürdigt und fehlenden Respekt für ihre Menschenwürde zeigt oder diese herabmindert oder wenn sie Gefühle der Furcht, Angst oder Unterlegenheit hervorruft, die geeignet sind, den moralischen oder psychischen Widerstand der Person zu brechen. Die Behandlung/Misshandlung muss dabei, um in den Schutzbereich des Art. 3 EMRK zu fallen, einen Mindestgrad an Schwere erreichen. Dessen Beurteilung ist allerdings relativ, hängt also von den Umständen des Falles ab, insbesondere von der Dauer der Behandlung und ihren physischen und psychischen Auswirkungen sowie mitunter auch vom Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Opfers. Demnach genügen Unzulänglichkeiten in Einzelfällen oder jeder geringe Verstoß gegen die unionsrechtlichen Vorgaben nicht. So ist Art. 3 EMRK nicht in dem Sinn auszulegen, dass er die Vertragsparteien verpflichtete, jedermann in ihrem Hoheitsgebiet mit einer Wohnung zu versorgen. Auch begründet Art. 3 EMRK keine allgemeine Verpflichtung, Flüchtlingen finanzielle Unterstützung zu gewähren oder ihnen einen bestimmten Lebensstandard zu ermöglichen (EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011, a.a.O.; ders.: Beschluss vom 2. April 2013 - 27725/10 - Mohammed Hussein u.a. gegen die Niederlande und Italien, ZAR 2013, S. 336 u. juris).
Gleichwohl sind die in der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen - Aufnahmerichtlinie (ABl. L 180 S. 96) - genannten Mindeststandards für die Aufnahme von Asylsuchenden in den Mitgliedstaaten zu berücksichtigen. Asylsuchende werden in einem Mitgliedstaat unmenschlich oder erniedrigend behandelt, wenn ihnen nicht die Leistungen der Daseinsvorsorge gewährt werden, die ihnen nach der Aufnahmerichtlinie zustehen. Ihnen müssen während der Dauer des Asylverfahrens die notwendigen Mittel zur Verfügung stehen, mit denen sie ihre elementaren Grundbedürfnisse (wie z.B. Unterkunft, Nahrungsaufnahme und Hygienebedürfnisse) in zumutbarer Weise befriedigen können. Als Maßstab sind die Art. 17 und 18 der Aufnahmerichtlinie mit den dort geregelten zeitlich begrenzten Einschränkungsmöglichkeiten bei vorübergehenden Unterbringungsengpässen und der Verpflichtung, auch in diesen Fällen die Grundbedürfnisse zu decken, heranzuziehen (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12.A -, juris, unter Hinweis auf die Entscheidungen des EGMR vom 21. Januar 2011 und des EuGH vom 27. Februar 2014). Diesen Anspruch auf Befriedigung der Grundbedürfnisse haben nicht nur besonders schutzbedürftige Personen wie Familien/Alleinstehende mit Kleinkindern oder Kranke mit besonderen medizinischen Versorgungsansprüchen, sondern alle Asylsuchende, somit auch Alleinstehende, junge und gesunde männliche Personen. Auch diese sind im dargestellten Umfang vor Obdachlosigkeit, Unterernährung, Gewalt und gesundheitsgefährdenden Umständen in Unterkünften zu schützen.
Prognosemaßstab für das Vorliegen derart relevanter Mängel ist eine beachtliche Wahrscheinlichkeit. Die Annahme systemischer Mängel setzt somit voraus, dass das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen im zuständigen Mitgliedstaat aufgrund größerer Funktionsstörungen regelhaft so defizitär sind, dass anzunehmen ist, dass dort auch dem Asylsuchenden im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (BVerwG, Beschluss vom 19. März 2014, a.a.O.). Bei einer zusammenfassenden, qualifizierten - nicht rein quantitativen - Würdigung aller Umstände, die für das Vorliegen solcher Mängel sprechen, muss ihnen ein größeres Gewicht als den dagegen sprechenden Tatsachen zukommen, d.h. es müssen hinreichend gesicherte Erkenntnisse dazu vorliegen, dass es immer wieder zu den genannten Grundrechtsverletzungen kommt (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 18. März 2015, a.a.O., Urteil vom 10. November 2014 - A 11 S 1778/14 -, juris; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 7. März 2014, a.a.O.; OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 14. November 2013 - 4 L 44/13 -, juris; BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 - 10 C 23/12 -, BVerwGE 146, S. 67 und juris; OVG Rheinland-Pfalz, a.a.O., juris).
Die für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage in dem zuständigen Mitgliedstaat vorrangig zu berücksichtigenden Erkenntnismittel sind insbesondere Berichte der Kommission zur Bewertung des Dublin-Systems und des UNHCR zur Lage von Flüchtlingen und Migranten vor Ort. Daneben sind auch weitere Erkenntnisse aus Berichten von internationalen Nichtregierungsorganisationen und Presseberichte heranzuziehen. Den Berichten des UNHCR kommt dabei wegen der ihm durch die Genfer Flüchtlingskonvention übertragenen Rolle eine besondere Relevanz zu (vgl. EuGH, Urteile vom 21. Dezember 2011, a.a.O. und vom 30. Mai 2013 – C 528/11 -, NVwZ-RR 2013, 660).
Gemessen an diesen Maßgaben hat das Gericht in der genannten Entscheidung vom vom 18. Juni 2014 - 12 B 1238/14 - ausgeführt, dass solche systemischen Mängel bis Ende 2012 vorlagen. Das Gericht ist aufgrund der aktuell vorliegenden Erkenntnismittel zur Lage in Ungarn, die sich in den letzten Monaten dramatisch zugespitzt hat, weiterhin überzeugt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Ungarn derzeit systemische Schwachstellen im Sinne des Art. 3 Abs. 2 UA 2 Dublin III-VO aufweisen.
Die Aufnahmebedingungen werden den genannten Mindestanforderungen zur Gewährung einer Unterkunft, Versorgung und Verpflegung schon wegen der Kapazitätsprobleme nicht gerecht. Diese Probleme treffen eine Reihe von europäischen Staaten, unter anderem auch Deutschland, in erheblichem Umfang auch Ungarn.
Die Europäische Kommission berichtete im September 2015 von inzwischen 98.072 Asylanträgen in 2015 in Ungarn. Im Jahr 2012 wurden lediglich 2.157 Asylanträge gestellt, die Zahl der Asylbewerber stieg im Jahre 2013 auf 18.900 und verdoppelte sich im Jahr 2014 auf 42.777 (vgl. Hungarian Helsinki Committee (HHC), Bericht vom 4. März 2015, abrufbar unterhttp://helsinki.hu/wp-content/uploads/Asylum-2015-Hungary-press-info-...pdf). In den ersten acht Monaten von 2015 wurden in Ungarn 145.000 irreguläre Grenzübertritte festgestellt (vgl. Bericht der Europäischen Kommission vom 9. September 2015, abrufbar unter http://europa.eu/rapid/press-release). Bei einer Aufnahmekapazität von circa 2.500 Plätzen für Flüchtlinge (in der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 12. März 2015 an das Verwaltungsgericht Freiburg wird von 1.900 Plätzen in offenen Aufnahmeeinrichtungen und 400 Plätzen in Asylhaft-Einrichtungen gesprochen) ist eine menschenwürdige Unterbringung der Flüchtlinge, die sich noch in Ungarn befinden und der Personen, die in andere europäische Staaten weitergereist sind, die aber nach der Dublin-Verordnung von Ungarn wiederaufzunehmen sind, nicht möglich. Dabei sind allein die fehlenden Unterbringungsmöglichkeiten noch keine systemischen Schwachstellen, zumal wenn diese nur vorübergehend sind und nach Alternativlösungen gesucht wird. Entscheidend für die Systemhaftigkeit der Schwachstellen ist, dass der ungarische Staat nicht nur nicht in der Lage, sondern vor allem nicht willens ist, die Unterbringung und Versorgung der Asylbewerber zu gewährleisten. Dies zeigt zum einen der Ende Mai 2015 erklärte Aufnahmestopp von Asylbewerbern im Rahmen des Dublintransfers wegen ausgeschöpfter Aufnahmekapazitäten bis zum 5. August 2015. Hierzu hat das Verwaltungsgericht Oldenburg im Urteil vom 2. Juli 2015 - 13 A 384/15 - ausgeführt:
„Seit Wochen und auch derzeit fehlt es an einer wirklichen Übernahmebereitschaft Ungarns...Unter Berücksichtigung der vorgenannten Auskünfte steht fest, dass bis Mitte August 2015 eine Abschiebung des Klägers definitiv nicht erfolgen wird. Ob und in welchem Umfang der ungarische Staat anschließend wieder Asylsuchende im Rahmen des Überstellungsverfahrens aufnehmen wird, muss als offen angesehen werden. Bereits die Zahlen, die das Bundesamt zu den im 1. Quartal 2015 aus Deutschland durchgeführten Überstellungen vorgelegt hat, weckten Bedenken daran, dass zwischen dem ungarischen Staat und der Bundesrepublik Deutschland ein funktionierendes, routiniertes und eingespieltes Übernahmeverfahren besteht. Zwar hatte Ungarn in 2300 Fällen den Übernahmeersuchen der Bundesrepublik Deutschland formal entsprochen, tatsächliche Überstellungen erfolgten jedoch nur in einem Umfang von ca. 1,4 %. Die derzeit aktuelle öffentliche Diskussion um die Rückübernahme von Asylsuchenden durch Ungarn bestätigen diese Bedenken. Hinzu kommt im vorliegenden Fall, dass der Kläger sich vor der Einreise nach Ungarn in Griechenland aufgehalten hat. Dies belegt die EURODAC-Treffer Nummer GR2MYT2014052616176. Für diese Personengruppe sieht der ungarische Staat derzeit wohl nicht mehr seine, sondern eine Zuständigkeit Griechenlands für die Durchführung des Asylverfahrens als gegeben an (bordermonitoring eu. Bericht vom 25. Juni 2015, ungarn.bordermontoring.eu/2015/06/25/ungarn-das neue-griechenland; Süddeutsche Zeitung, Bericht vom 24. Juni 2015, Ungarn rudert bei Aufnahmestopp für Asylsuchende zurück, http://www.sueddeutsche.de/politik/nach-kritik-aus-bruessel-ungarn-rudert-bei-aufnahmestopp-fuer-asylsuchende-zurueck-1.2536039; Die Welt, Bericht vom 25. Juni 2015, Ungarns Zick-Zack-Kurs, http://www.welt.de/print/welt_kompakt/print_politik/article143027960/Ungarns-Zick-Zack-Kurs-mit-Migranten.html).
Die offensichtlichen Probleme beim Vollzug der in der Dublin III-VO normierten Regelungen zur Aufnahme/ Wiederaufnahme von Asylsuchenden im Allgemeinen und der Überstellung des Klägers im Besonderen stellen nach Auffassung des Gerichts auch keine bloße zeitliche Verzögerung in Folge administrativer Vorkehrungen für eine an sich bereits ins Auge gefasste Abschiebung des Klägers dar.
Im Rahmen einer solchen Sachverhaltskonstellation besteht eine Verpflichtung der Beklagten zum Selbsteintritt nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO und der Asylantrag des Klägers darf nicht als unzulässig gemäß § 27 a AsylVfG behandelt werden. Denn nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hat der Mitgliedsstaat, in dem sich ein Asylbewerber befindet, darauf zu achten, dass eine Situation, in der dessen Grundrechte verletzt werden, nicht durch ein unangemessen langes Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaates verschlimmert wird. Erforderlichenfalls muss er den betreffenden Asylantrag nach den Modalitäten des Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO selbst prüfen (vgl. EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 C- 411/10 - und C-493/10 - juris). Dieser Rechtsauffassung und dem dem Dublin-System immanenten Beschleunigungsgebot (s. Erwägungsgrund 5 Dublin III-VO) widerspräche es, wenn sich die Beklagte den Selbsteintritt bis zum Ablauf der Überstellungsfrist offenhielte, obwohl derzeit schon absehbar ist, dass es bis dahin und sogar weit darüber hinaus aufgrund von Vollzugs- bzw. Abschiebungshindernissen zu einer Überstellung des Asylsuchenden nicht kommen wird (so auch VG München, Urteil vom 28. November 2014 - M 16 K 14.50032 - juris).“
Dem schließt sich das Gericht an. Die Abschottungspolitik der ungarischen Regierung, dass man eine nennenswerte Zuwanderung sog. Wirtschaftsflüchtlinge nicht wünsche und Ungarn keine multikulturelle Gesellschaft werden wolle (vgl. Hungarian Helsinki Committee (HHC), Bericht vom 4. März 2015, a. a. O., Die Welt vom 24. Juni 2015 „Flüchtlingskrise: Warum Ungarn Angst vor zu vielen Asylbewerbern hat“, SZ vom 24. Juni 2015 „Die ungarische Regierung will Flüchtlinge ab sofort aussperren“) wird weiterhin fortgesetzt. Ungarn weigert sich, Flüchtlinge aufzunehmen, die andere EU-Staaten nach Auffassung Ungarns irrtümlich nach Ungarn abschieben wolle. Es gehe um Personen, die bei ihrer Flucht als erstes Land Griechenland betreten hätten und deswegen nur dort einen Asylantrag stellen dürften (vgl. SZ vom 24. Juni 2015 „Ungarn rudert bei Aufnahmestopp für Asylsuchende zurück“, TAZ vom 2. Juli 2015 „Flüchtlinge abwehren um jeden Preis“, n-tv vom 29. August 2015 „Stacheldraht gegen Flüchtlinge - Ungarn stellt erste Grenz-Sperranlage fertig“, FAZ vom 1. September 2015 „ Ungarn schottet sich mit Stacheldraht ab“). Das am 6. Juli 2015 vom ungarischen Parlament verabschiedete neue Gesetz ermöglicht nicht nur die Errichtung eines Grenzzauns, es erlaubt zudem, Asylanträge von Flüchtlingen abzulehnen, die über andere sichere Länder nach Ungarn eingereist sind. Vorgesehen ist außerdem, dass Asylbewerber zukünftig selbst für Kost und Unterbringung während der Antragsbearbeitung zahlen sollen (Spiegel online vom 6. Juli 2015 „Überlastetes Asylsystem: Ungarn verschärft Gesetz zur Aufnahme von Flüchtlingen“; Die Welt vom 6. Juli 2015 „Ungarn zieht Grenzzaun gegen Flüchtlinge hoch“; FAZ vom 7. Juli 2015 „Ungarn will Grenzzaun bauen“). Der neuen Flüchtlingswelle begegnet Ungarn mit der Zulassung der unkontrollierten Weiterreise der Flüchtlinge ohne Registrierung (vgl. Spiegel online vom 1. September 2015 „Ungarn sperrt seinen wichtigsten Bahnhof für Flüchtlinge“, FAZ vom 1. September 2015 „Großes Polizeiaufgebot am Budapester Bahnhof“, n-tv vom 27. August 2015 „Flüchtlingssituation eskaliert - Bahnhof in Budapest wird zur Notunterkunft“, FR vom 23. September 2015 „Die Verachtung ist in die Politik eingedrungen“).
Ungarn gewährleistet hiernach eine den Anforderungen des EU-Rechts bzw. der EMRK genügende (Mindest-) Versorgung der Asyl- bzw. Flüchtlingsschutzsuchenden, insbesondere hinsichtlich der vom EGMR unter Bezugnahme auf die Aufnahmerichtlinie im Lichte von Art. 3 EMRK eingeforderte Befriedigung der elementaren Grundbedürfnisse (wie z. B. Unterkunft, Nahrungsaufnahme und Hygienebedürfnisse), nicht (so auch VG Frankfurt a.M., Beschluss vom 08. Oktober 2015 - 7 L 4560/15 F.A. -, BeckRS 2015, 53161; VG Münster, Beschluss vom 7. Juli 2015 - 2 L 858/15.A -, juris; VG München, Beschluss vom 17. Juli 2015 - M 24 S 15.50508 -; VG Kassel, Beschluss vom 24. Juli 2015, - 6 L 1147/15.KS.A sowie vom 7. August 2015 - 3 L 1303/15.KS.A -, juris; VG Köln, Urteil vom 30. Juli 2015 - 3 K 2005/15.A -, BeckRS 2015, 49393; a.A. VG Potsdam, Beschluss vom 20. Juli 2015 - VG 6 L 356/15.A -; VG Düsseldorf, Beschluss vom 7. August 2015 - 22 L 616/15.A -, juris).
Systemische Mängel im ungarischen Asylsystem ergeben sich auch daraus, dass mit der am 1. August 2015 in Kraft getretenen Änderung des Asylrechts beschlossen ist, dass die ungarischen Behörden Asylsuchende in als „sichere Drittstaaten“ eingestufte Länder abschieben können, ohne dass geprüft wird, ob in diesen sogenannten Drittstaaten eine Abschiebung in weitere dort als „sichere Drittstaaten“ angesehene Staaten erfolgt - wie zur Zeit etwa Griechenland - oder gar eine Abschiebung in den Verfolgerstaat durchgeführt wird. (vgl. VG Frankfurt, Beschluss vom 8. Oktober 2015, aaO). In diesem Beschluss ist ausgeführt, dass der UNHCR im Jahre 2012 empfohlen hatte, keine Rückführungen nach Ungarn unter der damaligen Dublin-II-Verordnung durchzuführen, in denen Asylsuchende vor ihrer Einreise nach Ungarn in Serbien waren oder gewesen sein könnten. An dieser Praxis hatte Ungarn zwischenzeitlich nicht festgehalten. Mit der Neuregelung des Asylgesetzes kann nunmehr eine Rückführung nach Serbien erfolgen. Serbien führt ohne eine den europäischen Mindestanforderungen genügende Prüfung der Schutzbedürftigkeit Flüchtlinge wieder nach Griechenland zurück, wenn sie über dieses Land nach Serbien gekommen sind. Dieses Risiko einer Kettenabschiebung bedeutet eine Verletzung des Non-Refoulement-Gebots der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention (so auch ai vom 30. Juli 2015, abrufbar unter https://www.amnesty.de/2015/7/30/fluechtlinge-ungarn-verschaerft-asylrecht).
Dem steht auch nicht entgegen, dass der EGMR mit Urteil vom 03. Juli 2014 (-71932/12-, juris) entschieden hat, dass zum maßgeblichen Zeitpunkt seiner Entscheidung ein Asylsuchender nicht mehr einer tatsächlichen und persönlichen Gefahr unterliege, bei einer Überstellung nach Ungarn im Rahmen der Dublin-Verordnung einer Behandlung ausgesetzt zu sein, die Art. 3 EMRK verletzen würde. Denn dieses Urteil berücksichtigt nicht die aktuellen Entwicklungen, wie sie sich insbesondere in den erheblichen Kapazitätsproblemen und der Verschärfung des Asylrechts zum 1. August 2015 zeigen. Der EGMR hat in seinem Urteil vom 3. Juli 2014 (a.a.O.) im Hinblick auf die Frage einer Rückführung nach Serbien und dem dadurch unter Art. 3 EMRK zu beachtenden Gebots des Non-Refoulements darauf hingewiesen, dass der UNHCR und das Hungarian Helsinki Committee (zum damaligen Zeitpunkt) bestätigt hätten, dass Ungarn nicht länger an seinem „Sichere-Drittstaaten-Konzept“ festhalte und insbesondere die Asylanträge von Dublin-Rückkehrern hinsichtlich ihrer Begründetheit untersuchen würde, wenn der jeweilige Fall noch nicht entschieden worden sei (EGMR, Urteil vom 03. Juli 2014, a.a.O., Rdnr. 73). Diese Grundlage, aufgrund derer der EGMR hinsichtlich der Frage einer Verletzung von Art. 3 EMRK im Hinblick auf ein Refoulement nach Serbien zu keiner Verletzung kam, ist so nach den gegenwärtigen Erkenntnissen des Gerichts hinsichtlich des neuen, zum 1. August 2015 in Kraft getretenen Asylgesetzes nicht mehr gegeben. Die Erwartung des EGMR, auf der seine Entscheidung beruht, nämlich dass die zum damaligen Zeitpunkt in Kraft getretenen Gesetzesänderungen in Ungarn zu einer positiven Entwicklung des ungarischen Asylsystems führen würden, haben sich danach nicht bewahrheitet (vgl. auch VG Köln, a. a. O.).
Systemische Mängel ergeben sich schließlich aus der ungarischen Inhaftierungspraxis der Dublin-Rückkehrer. Diese werden flächendeckend bzw. regelmäßig (vgl. Auskunft des UNHCR an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 30. September 2014; Auskunft von Pro Asyl an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 31. Oktober 2014) inhaftiert.
Haft fällt zwar an sich nicht in den Anwendungsbereich des Art. 3 EMRK (vgl. EGMR, Urteil vom 26. Oktober 2000 – 30210/96 –, (Kudta), NJW 2001, 2694 =juris). In dieser Entscheidung hat das Gericht für einen Untersuchungsgefangenen festgestellt, dass Art 3 EMRK nicht so ausgelegt werden könne, dass sich aus ihm eine allgemeine Verpflichtung zur Entlassung eines Untersuchungsgefangenen aus Gesundheitsgründen oder zu seiner Verlegung in ein ziviles Krankenhaus ergebe. Staatliche Behörden müssten sich aber vergewissern, dass ein Gefangener unter Bedingungen festgehalten werde, die mit seiner Menschenwürde vereinbar seien. Eine Verletzung des Art. 3 EMRK liegt demnach dann vor, wenn die Bedingungen einer Haft mit der Achtung der Menschenwürde unvereinbar sind oder die Art und Methode des Vollzugs der Maßnahme den Gefangenen Leid und Härten unterwirft, die das mit einer Haft unvermeidbar verbundene Maß an Leiden übersteigen (EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011, a.a.O.) oder wenn der Häftling über einen längeren Zeitraum über seine Zukunft, vor allem über die Dauer seiner Inhaftierung im Ungewissen gelassen wird oder ihm jede Aussicht auf Entlassung genommen wird (EGMR, Urteil vom 13. Januar 2011 - 6587/04 – (Haidn v Germany), NJW 2011, 3423).
Bedenklich ist deshalb bereits, dass nach der Dublin III-VO rücküberstellte Asylsuchende, d. h. Personen, für die bereits ein - noch nicht abgeschlossenes oder mit negativem Ausgang beendetes - Asylverfahren in Ungarn durchgeführt worden war, mit Ausnahme von Familien oder besonders vulnerablen Personen bei Rückkehr nach Ungarn stets in Haft genommen werden. Betroffen sind damit Personen, die als Flüchtlinge überwiegend bereits traumatisierende Erfahrungen gemacht haben, so dass sie eine Inhaftierung mit besonderer Härte trifft (vgl. UNHCR, Auskunft vom 30.9.2014 an das VG Bremen). Die genannten Anforderungen an eine Inhaftierung werden jedenfalls dann nicht erfüllt, wenn das ungarische Asylgesetz eine Inhaftierung von Asylbewerbern bis zu sechs Monaten ermöglicht, die Gründe für eine Asylhaft sehr weit und teilweise vage formuliert sind und die Anordnung der Haft durch die Verwaltungsbehörde nicht mit Gründen versehen wird. Dies führt zu der Haftpraxis, dass bei Dublin-Rückkehrern generell eine Fluchtgefahr und damit der Haftgrund angenommen wird (vgl. UNHCR vom 9. Mai 2014 an das VG Düsseldorf).
Ein solches Vorgehen, dass die Inhaftierung regelmäßig letztlich an die Asylantragsstellung anknüpft, wird den europarechtlichen Vorgaben nicht gerecht. Zwar sieht die Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (Aufnahmerichtlinie) in Art. 8 Abs. 2 und 3 die Möglichkeit der Inhaftierung von Asylbewerbern unter anderem bei Fluchtgefahr vor. Knüpft die Inhaftierung aber allein ohne Einzelfallprüfung an einen Pauschalverdacht an, liegt ein Verstoß gegen § 8 Abs. 1 und 2 der Aufnahmerichtlinie vor. Die hiernach erforderliche Einzelfallprüfung unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes wird in Ungarn systematisch missachtet. Damit liegt nicht nur ein Verstoß gegen das Verbot der unrechtmäßigen Inhaftierung des Art. 5 EMRK vor. Die lange Dauer der Inhaftierung und die Umstände in der Haft sind als Verstoß gegen das Verbot der unmenschlichen und entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK in Verbindung mit Art. 4 GR-Charta zu werten. Der inhaftierte Flüchtling wird weitgehend rechtsschutzlos gestellt und zu einem reinen Objekt des Verfahrens der Haftanordnung sowie deren Überprüfung und Verlängerung herabgewürdigt (vgl. VG Köln, Urteil vom 08. September 2015 – 18 K 4368/15.A –, juris). Das VG Köln führt in der Entscheidung aus:
„Denn es gibt gegen die Verhängung von Asylhaft keinen effektiven Rechtsschutz des Betroffenen. Alternativen zur Haft, wie etwa das Hinterlegen einer Kaution, werden kaum in Erwägung gezogen. In der Praxis führt dies dazu, dass die Gründe für eine Inhaftierung mangels individualisierter Begründung häufig nicht nachvollziehbar sind und willkürlich erscheinen.
UNHCR vom 9.5.2014 an das VG Düsseldorf; Report des Kommissars für Menschenrechte des Europäischen Rates, Nils Muiznieks, vom 16.12.2014 über einen Besuch Ungarn im Juli 2014 (Muiznieks-Report), Rdnr. 155 f.
Darüber hinaus ist die gerichtliche Überprüfung und Kontrolle von Haftgründen und Haftverlängerungen nach den vorliegenden Erkenntnissen völlig unzureichend. So verlängern die ungarischen Gerichte die Haftanordnungen aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung meist um die maximal mögliche Spanne von 60 Tagen. Dabei werden die Häftlinge dem Gericht in Gruppen vorgeführt, so dass für die Bearbeitung eines Einzelfalls meist weniger als drei Minuten zur Verfügung stehen.
UNHCR vom 9.5.2014 an das VG Düsseldorf.
Dass bei dieser Verfahrensweise eine individuelle Prüfung von Haftgründen nicht möglich (und nach der herrschenden ungarischen Rechtsauffassung wohl auch gar nicht erforderlich) ist, liegt auf der Hand. Folge dieser Verfahrensweise ist es, dass die maximale Haftdauer in vielen Fällen voll ausgeschöpft wird.
So PRO ASYL vom 31.10.2014 an das VG Düsseldorf.
Hinzu kommt, dass Asylsuchende nach den gesetzlichen Bestimmungen in Ungarn zwar Anspruch auf eine kostenlose Rechtsberatung haben, in der Praxis jedoch eine qualifizierte Beratung durch das staatliche Rechtshilfesystem aber nicht zur Verfügung steht. So ist in den Haftanstalten der Zugang zu einer Rechtsberatung praktisch nur über Vertragsanwälte des Hungarian Helsinki Committee (HHC) möglich, die die Einrichtungen einmal pro Woche besuchen, was zur Folge hat, dass nur eine Minderheit der inhaftierten Asylsuchenden Rechtsberatung erhält oder anwaltlich vertreten wird.
UNHCR vom 30.9.2014 und PRO ASYL vom 31.10.2014, beide an das VG Düsseldorf.“
Das Gericht schließt sich dieser Wertung der Inhaftierungspraxis an.
Da auf diese praktische Handhabung der Inhaftierungen abzustellen ist, kommt es auf eine hiervon möglicherweise abweichende gesetzliche Regelung der Haftgründe im ungarischen Asylgesetz nicht an, mögen auch die „gesetzlichen Regelungen Ungarns zur Inhaftierung von Asylbewerbern ...den vorstehend genannten Vorgaben (§ 8 Aufnahmerichtline) im Wesentlichen gerecht werden“ (so VG Düsseldorf, Beschluss vom 30. Juli 2015 - 13 L 1802/15.A -, BeckRS 2015, 49378). Das VG Düsseldorf verweist in der genannten Entscheidung selbst darauf, dass die Haftanordnung regelmäßig schematisch erfolgt und eine auf den konkreten Einzelfall bezogene Argumentation unter Abwägung der Rechts- bzw. Verhältnismäßigkeit in der Regel nicht stattfindet. Dann ist aber die Inhaftierung aller Dublin-Rückkehrer unter dem Gesichtspunkt der pauschal angenommenen Fluchtgefahr willkürlich. Auch die Haftbedingungen entsprechen nicht den Mindeststandards an eine menschenwürdige Unterbringung und Behandlung (vgl. UNHCR vom 9. Mai 2014 an das VG Düsseldorf und vom 30. September 2014 an das VG Bremen; PRO ASYL vom 31.10.2014 an das VG Düsseldorf). Die systematische unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zeigt in besonderer Weise die systematisch angewendete Praxis, Asylhäftlinge angeleint und in Handschellen bei auswärtigen Terminen (etwa bei Behörden- oder Arztbesuchen) vorzuführen (vgl. UNHCR, Auskünfte vom 9. Mai und 30. September 2014 an das VG Düsseldorf). Eine derartige Behandlung verstößt auch bei Straftätern, selbst wenn sie in Ungarn allgemein üblich sein sollte, gegen die Menschenwürde. Flüchtlinge und Asylsuchende sind zudem keine Straftäter, so dass diese Praxis sie besonders trifft. Sie werden so zu einem reinen Objekt des Verfahrens der Haftanordnung herabgewürdigt.
Dem Kläger droht somit unter Berücksichtigung der neueren Entwicklung in Ungarn mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S. des Art. 4 GR-Charta.
Rechtsgrundlage für die die Anordnung, den Kläger nach Ungarn abzuschieben, ist § 34 a Abs. 1 AsylVfG - nunmehr § 34 a Abs. 1 AsylG -. Danach ordnet das Bundesamt dann, wenn der Ausländer u.a. in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27 a AsylVfG - nunmehr § 27 a AsylG -) abgeschoben werden soll, die Abschiebung in diesen Staat an, wenn feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Da Ungarn nach den obigen Ausführungen nicht für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist, ist auch die Abschiebungsanordnung bezüglich Ungarns rechtswidrig. Im Übrigen ist die Rücküberführung nach Ungarn derzeit faktisch nicht möglich ist, so dass die Anordnung, den Kläger nach Ungarn abzuschieben, auch aus diesem Grund rechtswidrig ist (vgl. VG Oldenburg, Beschluss vom 23. September 2015 - 12 B 3437/15 -).