Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 09.12.2016, Az.: 8 ME 184/16

Erteilung einer Duldung zum Zwecke der Aufnahme einer qualifizierten Berufsausbildung; Aufnahme einer Ausbildung durch den Ausländer auf Grundlage des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG); Rechtmäßige Aufnahme der Ausbildung als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal nach Maßgabe der zu beachtenden aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen; Bevorstehen konkreter Maßnahmen der Aufenthaltsbeendigung

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
09.12.2016
Aktenzeichen
8 ME 184/16
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2016, 35887
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG Osnabrück - 23.11.2016

Fundstellen

  • AUAS 2017, 44-47
  • InfAuslR 2017, 116-118
  • ZAR 2017, 240

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Aufgenommen hat der Ausländer die Ausbildung im Sinne des § 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG, wenn er sich auf der Grundlage eines Ausbildungsvertrages am Ausbildungsplatz eingefunden und die Ausbildung tatsächlich bereits begonnen hat. Mit der hiervon abzugrenzenden Variante, dass der Ausländer eine Ausbildung aufnimmt, sind auch solche Fälle erfasst, in denen der Ausländer die Ausbildung zwar tatsächlich noch nicht aufgenommen hat, dies aufgrund eines bereits geschlossenen Ausbildungsvertrages aber demnächst zu erwarten ist.

  2. 2.

    Die Aufnahme der Ausbildung muss als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des § 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG auch nach Maßgabe der zu beachtenden aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen rechtmäßig erfolgen. Dies setzt insbesondere voraus, dass dem Ausländer eine nach §§ 4 Abs. 2 Satz 3, 42 Abs. 2 Nr. 5 AufenthG in Verbindung mit § 32 Abs. 1 und 2 Nr. 2 BeschV erforderliche Beschäftigungserlaubnis erteilt worden ist, für die es bei der Aufnahme einer Berufsausbildung in einem staatlich anerkannten oder vergleichbar geregelten Ausbildungsberuf lediglich der Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit nicht bedarf.

  3. 3.

    Konkrete Maßnahmen der Aufenthaltsbeendigung stehen bevor im Sinne des § 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG, wenn die Abschiebung durch die Ausländerbehörde oder eine andere für die Aufenthaltsbeendigung zuständige Behörde vorbereitet wird und für diese absehbar durchgeführt werden soll. Der Erteilung einer Duldung entgegenstehende Maßnahmen sind daher solche, die nach typisierender Betrachtung prognostisch bereits in einem engen sachlichen und vor allem zeitlichen Zusammenhang mit der Abschiebung selbst stehen.

  4. 4.

    Für das Bevorstehen konkreter Maßnahmen der Aufenthaltsbeendigung ist die Sachlage in dem Zeitpunkt maßgeblich, in dem der Ausländer bei der Ausländerbehörde die Erteilung der Duldung zum Zwecke der Aufnahme einer qualifizierten Berufsausbildung unter Berufung auf einen bestehenden Ausbildungsvertrag und eine darauf bezogene erforderliche Beschäftigungserlaubnis beantragt hat.

Tenor:

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Osnabrück - 5. Kammer - vom 23. November 2016 wird zurückgewiesen.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens und unter Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Osnabrück - 5. Kammer - vom 23. November 2016 der Streitwert des erstinstanzlichen Verfahrens vorläufigen Rechtsschutzes werden auf jeweils 2.500 EUR festgesetzt.

Gründe

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts bleibt ohne Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat es zu Recht abgelehnt, den Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung zur vorläufigen Aussetzung der Abschiebung zu verpflichten. Der Antragsteller hat einen (Anordnungs-)Anspruch auf Aussetzung der Abschiebung zum Zwecke der Aufnahme einer qualifizierten Berufsausbildung nach § 60a Abs. 2 Satz 3 ff. AufenthG nicht glaubhaft gemacht.

Nach § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG kann einem Ausländer eine Duldung erteilt werden, wenn dringende humanitäre oder persönliche Gründe oder erhebliche öffentliche Interessen seine vorübergehende weitere Anwesenheit im Bundesgebiet erfordern. Eine Duldung wegen solcher dringenden persönlichen Gründe ist dem Ausländer nach § 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG in der Fassung des Integrationsgesetzes vom 31. Juli 2016 (BGBl. I S. 1939) zu erteilen, wenn der Ausländer eine qualifizierte Berufsausbildung in einem staatlich anerkannten oder vergleichbar geregelten Ausbildungsberuf in Deutschland aufnimmt oder aufgenommen hat, wenn die Voraussetzungen nach § 60a Abs. 6 AufenthG nicht vorliegen und wenn konkrete Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung nicht bevorstehen (vgl. kritisch zur systematischen Verknüpfung dieses Aufenthaltszwecks mit einem bloßen Duldungsgrund: Bundesrat, Stellungnahme zum Entwurf eines Integrationsgesetzes, BR-Drs. 266/16 (B), S. 13)).

Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt. Der Antragsteller hat nicht glaubhaft gemacht, dass er eine qualifizierte Berufsausbildung in einem staatlich anerkannten oder vergleichbar geregelten Ausbildungsberuf aufnimmt oder aufgenommen hat (1.). Zudem stehen konkrete Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung bevor (2.).

1. Staatlich anerkannte oder vergleichbar geregelte Ausbildungsberufe sind alle anerkannten Ausbildungsberufe im Sinne des Berufsbildungsgesetzes und im Sinne der Handwerksordnung sowie vergleichbare bundes- oder landesrechtlich geregelte Ausbildungen (siehe das nach § 90 Abs. 3 Nr. 3 BBiG von dem Bundesinstitut für Berufsbildung geführte Verzeichnung der staatlich anerkannten Berufe: https://www.bibb.de/dokumente/pdf/Verzeichnis_anerk_AB_2015.pdf, Stand: Juni 2015). Eine qualifizierte Berufsausbildung liegt gemäß § 6 Abs. 1 Satz 2 BeschV vor, wenn die generelle Ausbildungsdauer mindestens zwei Jahre beträgt (vgl. Offer/Mävers, BeschV, § 6 Rn. 3).

Ist eine solche qualifizierte Berufsausbildung in einem staatlich anerkannten Ausbildungsberuf gegeben, wird dem Ausländer die Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG erteilt, wenn er die Ausbildung "aufnimmt oder aufgenommen hat". "Aufgenommen hat" der Ausländer die Ausbildung, wenn er sich auf der Grundlage eines Ausbildungsvertrages am Ausbildungsplatz eingefunden und die Ausbildung tatsächlich bereits begonnen hat. Mit der hiervon abzugrenzenden Variante, dass der Ausländer eine Ausbildung "aufnimmt", sind auch solche Fälle erfasst, in denen der Ausländer die Ausbildung zwar tatsächlich noch nicht "aufgenommen hat", dies aufgrund eines bereits geschlossenen Ausbildungsvertrages aber demnächst zu erwarten ist (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 13.10.2016 - 11 S 1991/16 -, Rn. 15). Ein restriktiveres Verständnis, welches als Voraussetzung für die Erteilung der Duldung stets eine tatsächliche Aufnahme der Ausbildung erforderte (vgl. dahingehend die Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD - Drucksache 18/8615 - Entwurf eines Integrationsgesetzes, BT-Drs. 18/9090, S. 26), ist mit Blick auf die vom Gesetzgeber vorgenommene sprachliche Differenzierung von zwei Varianten und auch auf den vom Gesetzgeber mit der Neuregelung verfolgten Zweck (vgl. hierzu Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, Entwurf eines Integrationsgesetzes, BT-Drs. 18/8615, S. 26) nicht geboten.

Allerdings genügt es nicht allein, dass der Ausländer die Ausbildung nach Maßgabe des Ausbildungsvertrages tatsächlich aufnimmt oder aufgenommen hat. Erforderlich ist vielmehr, dass die Aufnahme der Ausbildung auch nach Maßgabe der zu beachtenden aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen rechtmäßig erfolgt (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 13.10.2016, a.a.O., Rn. 14; VG Freiburg (Breisgau), Beschl. v. 11.10.2016 - 4 K 3553/16 -, Rn. 6). Dies setzt insbesondere voraus, dass dem Ausländer eine nach §§ 4 Abs. 2 Satz 3, 42 Abs. 2 Nr. 5 AufenthG in Verbindung mit § 32 Abs. 1 und 2 Nr. 2 BeschV erforderliche Beschäftigungserlaubnis erteilt worden ist, für die es bei der Aufnahme einer Berufsausbildung in einem staatlich anerkannten oder vergleichbar geregelten Ausbildungsberuf lediglich der Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit nicht bedarf (vgl. im Einzelnen: Breidenbach/Neundorf, Arbeitsmarkzugangsrechte von Drittstaatsangehörigen, in: ZAR 2014, 227, 231 f.; v. Harbou, Der Zugang Asylsuchender und Geduldeter zu Erwerbstätigkeit und Bildung, in: NVwZ 2016, 421, 423 f.; GK-AufenthG, § 60a Rn. 66 ff. (Stand: März 2016) mit weiteren Nachweisen). Für den Senat ist nicht ersichtlich, dass der Gesetzgeber mit der Neuregelung der Duldung zum Zwecke der Aufnahme einer qualifizierten Berufsausbildung durch das Integrationsgesetz auf das bestehende Erfordernis einer Beschäftigungserlaubnis verzichten und Ausländern ohne einen Aufenthaltstitel abweichend vom Grundsatz des § 4 Abs. 3 Satz 1 AufenthG den unreglementierten Zugang zu einer Ausbildung eröffnen wollte. Nach den Gesetzesmaterialien zielt die Neuregelung in § 60a Abs. 2 Satz 4 ff. AufenthG vielmehr nur darauf ab, für die Dauer einer - im Einklang mit den geltenden gesetzlichen Bestimmungen aufgenommenen - Berufsausbildung mehr Rechtssicherheit für Geduldete und Ausbildungsbetriebe zu schaffen (vgl. Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, Entwurf eines Integrationsgesetzes, BT-Drs. 18/8615, S. 26).

Die so beschriebenen Voraussetzungen des § 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG erfüllt der Antragsteller nicht. Er hat zwar mit dem D. unter dem 25. Oktober 2016 einen Berufsausbildungsvertrag geschlossen, wonach zum 1. November 2016 eine dreijährige und damit qualifizierte Berufsausbildung zum Bäcker, einem staatlichen anerkannten Ausbildungsberuf, aufgenommen werden soll. Der Antragsteller verfügt aber nicht über die für die Aufnahme dieser Berufsausbildung erforderliche Beschäftigungserlaubnis des Antragsgegners. Der Antragsgegner hat vielmehr den Antrag des Antragstellers vom 18. Oktober 2016, ihm eine Beschäftigungserlaubnis für die beabsichtigte Ausbildung zu erteilen, im Bescheid vom 23. November 2016 abgelehnt. Anhaltspunkte dafür, dass diese Ablehnung rechtswidrig ist, bestehen für den Senat nicht.

2. Die Erteilung einer Duldung zum Zwecke der Aufnahme einer qualifizierten Berufsausbildung ist hier zudem deshalb ausgeschlossen, weil konkrete Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung bevorstehen. Dies erfordert nicht, dass konkrete Maßnahmen bereits angeordnet oder ausgeführt worden sind. Es genügt vielmehr, dass die Abschiebung durch die Ausländerbehörde oder eine andere für die Aufenthaltsbeendigung zuständige Behörde vorbereitet wird und für diese absehbar durchgeführt werden soll (vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD - Drucksache 18/8615 - Entwurf eines Integrationsgesetzes, BT-Drs. 18/9090, S. 26). Der Erteilung einer Duldung entgegenstehende Maßnahmen sind daher solche, die nach typisierender Betrachtung prognostisch bereits in einem engen sachlichen und vor allem zeitlichen Zusammenhang mit der Abschiebung selbst stehen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 13.10.2016, a.a.O., Rn. 21). Dies können etwa die Kontaktaufnahme mit der deutschen Auslandsvertretung im Abschiebezielstaat zur Vorbereitung der Abschiebung, die Beantragung eines Pass(ersatz)papiers zum Zwecke der Abschiebung, die Erstellung eines Rückübernahmeersuchens, das Abschiebungsersuchen der Ausländerbehörde gegenüber der für die Durchführung der Abschiebung zuständigen Behörde, die Bestimmung eines Abschiebetermins, die Veranlassung einer erforderlichen ärztlichen Untersuchung zur Feststellung der Reisefähigkeit oder die Beantragung von Abschiebungshaft sein (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 13.10.2016, a.a.O., Rn. 20 f.; Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD - Drucksache 18/8615 - Entwurf eines Integrationsgesetzes, BT-Drs. 18/9090, S. 26). Maßgeblich ist insoweit die Sachlage in dem Zeitpunkt, in dem der Ausländer bei der Ausländerbehörde die Erteilung der Duldung zum Zwecke der Aufnahme einer qualifizierten Berufsausbildung unter Berufung auf einen bestehenden Ausbildungsvertrag und eine darauf bezogene Beschäftigungserlaubnis beantragt hat (vgl. mit eingehender Begründung: OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 22.11.2016 - OVG 12 S 61.16 -, Rn. 9 ff.; VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 13.10.2016, a.a.O., Rn. 19; VG Neustadt (Weinstraße), Beschl. v. 4.11.2016 - 2 L 867/16.NW -, Rn. 2; VG Freiburg (Breisgau), Beschl. v. 11.10.2016, a.a.O., Rn. 9).

Den Antrag auf Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG hat die Prozessbevollmächtigte des Antragstellers erst am 31. Oktober 2016 unter Bezugnahme auf den am 25. Oktober 2016 geschlossenen Ausbildungsvertrag gestellt. Zuvor hatte der Antragsteller unter dem 18. Oktober 2016 lediglich - und, wie dargestellt, notwendigerweise - die Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis beantragt. Ungeachtet dessen, dass am 31. Oktober 2016 die erforderliche Beschäftigungserlaubnis nicht vorlag, standen zu diesem Zeitpunkt bereits konkrete Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung bevor. Der Antragsgegner hatte bereits am 27. Oktober 2016 ein Abschiebungsersuchen an das Landeskriminalamt Niedersachsen gerichtet und zeitgleich dem Antragsteller bescheinigt, dass die Abschiebung eingeleitet ist. Bereits am 24. November 2016 ist hierauf auch ein erster Abschiebungsversuch unternommen worden. Die Abschiebung konnte nicht durchgeführt werden, weil sich der Antragsteller nicht in seiner Wohnung aufhielt.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Festsetzung des Streitwertes für das Beschwerdeverfahren beruht auf §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 1 GKG und Nrn. 8.3 und 1.5 Satz 2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (NordÖR 2014, 11). Die Änderung der Festsetzung des Streitwertes für das erstinstanzliche Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes erfolgt gemäß § 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).