Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 07.03.2000, Az.: 4 L 2968/99
Ausländer; Duldung; gewöhnlicher Aufenthalt; Kindergartenbeiträge; Übernahme
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 07.03.2000
- Aktenzeichen
- 4 L 2968/99
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2000, 41838
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - AZ: 6 A 97/97
Rechtsgrundlagen
- § 55 AuslG
- § 30 Abs 3 S 2 SGB I
- § 6 Abs 2 SGB VIII
- § 90 Abs 3 SGB VIII
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Ein Kind, das eine ausländerrechtliche Duldung erhalten hat, kann auch dann einen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland und damit Anspruch gegen den Träger der öffentlichen Jugendhilfe auf Übernahme von Kindergartenbeiträgen haben, wenn es zwar nicht abgeschoben werden kann, aber freiwillig ausreisen könnte.
Tatbestand:
Die Klägerin, die 1993 in Begleitung ihrer zwei minderjährigen Kinder als Bürgerkriegsflüchtling aus Bosnien nach Deutschland eingereist ist, begehrt die Übernahme von Kindergartenbeiträgen für ihre Tochter. Wegen der Einzelheiten nimmt der Senat gemäß § 130 b Satz 1 VwGO auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils des Verwaltungsgerichts Osnabrück vom 21. Oktober 1998 Bezug.
Durch dieses Urteil hat das Verwaltungsgericht die Beklagte antragsgemäß verpflichtet und zur Begründung ausgeführt: Unstrittig sei, dass der Klägerin die Belastung durch den Kindergartenbeitrag gem. § 90 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII nicht zuzumuten sei. Die Übernahme der Kindergartenbeiträge für ihre Tochter gemäß § 90 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 3 SGB VIII könne sie daher gemäß § 6 Abs. 2 SGB VIII beanspruchen, weil sie seinerzeit als Ausländerin mit ihren Kindern in Deutschland ausländerrechtlich geduldet gewesen sei. Sie habe nämlich in der hier maßgebenden Zeit des Jugendhilfebedarfs für ihre Tochter ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des § 6 Abs. 2 SGB VIII im Inland gehabt, obwohl sie nur geduldet gewesen sei und deshalb ein zeitlich begrenztes Bleiberecht habt habe. Das gelte auch unter Berücksichtigung der Bestimmung des § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I, nach der ein gewöhnlicher Aufenthalt nur anzunehmen sei, wenn jemand an einem Ort nicht nur vorübergehend verweile. Denn diese allgemeine Regelung sei unter Berücksichtigung von § 37 SGB I für die hier interessierende Regelung in § 6 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII (modifizierend) zu interpretieren: Weil nach § 6 Abs. 2 SGB VIII auch ausländerrechtlich nur geduldete, also nur zeitlich begrenzt bleibeberechtigte Ausländer Jugendhilfe beanspruchen könnten, sei für sie ein gewöhnlicher Aufenthalt schon dann zu bejahen, wenn für sie bei vorausschauender Betrachtung aller Umstände der Wegfall der bestehenden Abschiebungshindernisse nicht absehbar sei. Das sei im vorliegenden Fall für die Zeit des jugendhilferechtlichen Bedarfs der Tochter der Klägerin im Herbst 1996 anzunehmen. Denn nach dem Rückübernahmeabkommen zwischen der Bundesregierung und der Regierung von Bosnien und Herzegowina vom 20. November 1996 und dem dazu ergangenen Erlass des Nds. Innenministeriums sei aus der damaligen Perspektive eine Beendigung des Aufenthaltes der Klägerin in Deutschland frühestens nach weiteren neun Monaten in Betracht gekommen. Eine weitere Verzögerung sei wegen der Behandlungsbedürftigkeit des Sohnes der Klägerin, der nach den Kriegserlebnissen traumatisiert und ebenfalls auf Jugendhilfe und außerdem infolge eines Anfallsleidens auf bestimmte Medikamente angewiesen gewesen sei, zu erwarten gewesen.
Dagegen führt der Beklagte Berufung, die der erkennende Senat wegen tatsächlicher und rechtlicher Schwierigkeiten zugelassen hat. Zur Begründung der Berufung weist der Beklagte auf die finanzielle Bedeutung der Entscheidung der streitigen Rechtsfrage in vielen vergleichbaren Fällen hin und betont, dass zur Zeit der angefochtenen Entscheidung ein längeres Verbleiben der Klägerin im Bundesgebiet nicht zu erwarten gewesen sei.
Der Beklagte beantragt,
unter Änderung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die vom Senat zugelassene Berufung ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat den Beklagten zu Recht antragsgemäß verpflichtet; die Klägerin hat Anspruch auf Übernahme der Beiträge für den Kindergartenbesuch ihrer Tochter M. Die Berufung ist deshalb gemäß § 130 b Satz 2 VwGO aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurückzuweisen.
Die allein streitige Frage, ob die Klägerin zu der maßgeblichen Zeit des Jugendhilfebedarfs, also seit ihre Tochter Melina ab dem 1. September 1996 in den Kindergarten ging, ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des § 6 Abs. 2 SGB VIII im Inland hatte, ist auch nach Einschätzung des Senats zu bejahen. Das ergibt sich schon bei der Auslegung der Regelung in § 6 Abs. 2 SGB VIII nach deren Wortlaut. Denn § 6 Abs. 2 SGB VIII sieht einen Anspruch auf Leistungen auf Jugendhilfe gerade auch für solche Ausländer vor, die (wie hier die Klägerin) sich - nur - aufgrund einer ausländerrechtlichen Duldung im Inland aufhalten, wenn sie "ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben." Nach der für alle Sozialleistungsbereiche des Sozialgesetzbuches geltenden Vorschrift des § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I hat den gewöhnlichen Aufenthalt jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Zur Bestimmung der Dauer des für die Annahme eines gewöhnlichen Aufenthalts zu fordernden Verweilens ist gemäß § 37 Satz 1 SGB I auch der Zweck des Gesetzes zu berücksichtigen, in welchem der Begriff gebraucht wird (BSG, Urt. v. 1. Sept. 1999 - B 9 SB 1/99 R - br 2000, 27). Deshalb steht es bei Anwendung des § 6 Abs. 2 SGB VIII der Begründung eines gewöhnlichen Aufenthaltes im Sinne dieser Vorschrift gerade nicht entgegen, dass der Ausländer keine Aufenthaltsgenehmigung gemäß §§ 5 ff. AuslG hat, sondern dass er nur gemäß § 55 AuslG geduldet ist. Im Hinblick hierauf spricht gegen einen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des § 6 Abs. 2 SGB VIII auch nicht, dass der Ausländer möglicherweise freiwillig ausreisen könnte; entscheidend ist vielmehr, ob ihm eine ausländerrechtliche Duldung erteilt worden ist. Auch den Bestimmungen des Haager Übereinkommens über die Zuständigkeit der Behörden und das anzuwendende Recht auf dem Gebiet des Schutzes von Minderjährigen (vom 5. Okt. 1961, BGBl. II S. 219; Zustimmungsgesetz v. 30. April 1971, BGBl. II S. 217) - MSA -, insbesondere der Regelung in Art. 1 MSA zum "gewöhnlichen Aufenthalt" eines Minderjährigen, ist Abweichendes nicht zu entnehmen. Ein gewöhnlicher Aufenthalt in diesem Sinne wird regelmäßig nach sechs Monaten begründet, der in dieser Vorschrift verwendete Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts ist aber von dem in § 6 Abs. 2 SGB VIII verwendeten Begriff verschieden zu verstehen (BVerwG, Urt. v. 24. Juni 1999 - 5 C 24.98 - BVerwGE 109, 155 = FEVS 51, 152 = NDV-RR 2000, 4 = ZfSH/SGB 2000, 110 = DÖV 2000, 204 = DVBl. 2000, 629).
Im vorliegenden Fall sprechen im übrigen insbesondere die folgenden, vom Verwaltungsgericht gewürdigten Besonderheiten der Situation, in der sich die Klägerin zur Zeit des Jugendhilfebedarfs (1996/1997) befand, auch nach Einschätzung des Senats für die Annahme, dass sie mit ihren Kindern nicht nur vorübergehend im Inland verweilte:
1. Zur maßgeblichen Zeit hatten sich die Klägerin und ihre Kinder schon drei Jahre lang im Inland aufgehalten.
2. Nach dem "Rückübernahmeabkommen" und den dazu erlassenen Anordnungen des Niedersächsischen Innenministeriums gehörte die Klägerin zu denjenigen Bürgerkriegsflüchtlingen, die erst in einer "zweiten Phase", also (erst) ab dem 1. Mai 1997 zurückgeführt werden sollten.
3. Die Klägerin, die aus einem serbisch beeinflussten Teil Bosniens stammt und mit einem Albaner verheiratet war, hatte bei Rückkehr mit ihren Kindern in ihren Heimatort besondere Gefahren und Schwierigkeiten zu befürchten.
4. Der (zur maßgeblichen Zeit etwa 10-jährige) Sohn der Klägerin ging damals in Deutschland zur Schule und erhielt hier wegen seiner "Traumatisierung" infolge des Krieges und der Flucht Jugendhilfe (Sozialpädagogische Betreuungshilfe/Erziehungsbeistandschaft gemäß § 30 SGB VIII) und war außerdem wegen eines Anfallsleidens auf Medikamente angewiesen. Es war also damit zu rechnen, dass er - zusammen mit seiner Mutter und seiner Schwester - längere Zeit in Deutschland bleiben würde.