Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 07.03.2000, Az.: 4 L 3272/99

Einstandsgemeinschaft; Hilfe zum Lebensunterhalt; Kindergeld; Kopfteilsprinzip; Sozialhilfe

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
07.03.2000
Aktenzeichen
4 L 3272/99
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2000, 42085
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

nachfolgend
BVerwG - 21.06.2001 - AZ: BVerwG 5 C 7/00

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Der Kindergeldberechtigte darf das Kindergeld allen hilfebedürftigen Mitgliedern der Gemeinschaft des § 11 Abs. 1 Satz 2 BSHG gleichmäßig zuwenden, und zwar auch dem Mitglied, das nach § 26 Abs. 1 Satz 1 BSHG Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt nicht hat, weil es eine im Rahmen des Bundesausbildungsförderungsgesetzes dem Grunde nach förderungsfähige Ausbildung betreibt.

Tatbestand:

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Der Beklagte gewährte den Klägern -- Mutter und zwei minderjährigen Kindern -- mit Bescheid vom 18. Februar 1997 laufende Hilfe zum Lebensunterhalt ab 1. November 1996. Er rechnete dabei das für die Kinder an die Mutter gezahlte Kindergeld von je 200,-- DM für die Zeit bis Dezember 1996 und von je 220,-- DM für die Zeit ab Januar 1997 auf den Bedarf an. Die Kläger legten dagegen durch ihren jetzigen Prozessbevollmächtigten Widerspruch ein und machten geltend: Mit ihnen in Haushaltsgemeinschaft lebe ihr, der Klägerin zu 1), Ehemann und ihr, der Kläger zu 2) und 3), Vater. Er studiere in Oldenburg und erhalte Ausbildungsförderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz nicht mehr. Er benötige zur Wahrung seines verfassungsrechtlich garantierten Existenzminimums einen Betrag in Höhe der Hälfte des insgesamt gezahlten Kindergeldes, also 200,-- DM bzw. 220,-- DM. Dieser Betrag stehe deshalb ihnen, den Klägern, nicht zur Deckung ihres Bedarfs zur Verfügung.

2

Nach erfolglos durchgeführtem Widerspruchsverfahren haben die Kläger Klage erhoben. Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 15. April 1999 abgewiesen. Der Senat hat die Berufung mit Beschluss vom 16. August 1999 (4 L 2312/99) zugelassen.

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Die Kläger beantragen sinngemäß,

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den angefochtenen Gerichtsbescheid zu ändern,

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den Beklagten zu verpflichten, ihnen weitere laufende Hilfe zum Lebensunterhalt für die Zeit vom 1. November 1996 bis zum 31. Dezember 1996 in Höhe von 200,-- DM monatlich und für die Zeit vom 1. Januar 1997 bis zum 27. Mai 1997 in Höhe von 220,-- DM monatlich zu gewähren,

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den Bescheid des Beklagten vom 18. Februar 1997 und seinen Widerspruchsbescheid vom 27. Mai 1997 aufzuheben, soweit sie dem entgegenstehen, und

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die Hinzuziehung des Prozessbevollmächtigten der Kläger für das Vorverfahren für notwendig zu erklären.

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Der Beklagte beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Berufung, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 VwGO), ist in Höhe der Hälfte des streitigen monatlichen Betrages begründet.

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Streitig ist, wie das von der Klägerin zu 1) für die Kläger zu 2) und 3) bezogene Kindergeld als Einkommen auf den Bedarf der hilfebedürftigen Mitglieder der Gemeinschaft des § 11 Abs. 1 Satz 2 BSHG aufzuteilen ist. Der Beklagte und ihm folgend das Verwaltungsgericht meinen, der Ehemann der Klägerin zu 1) und Vater der Kläger zu 2) und 3) müsse bei der Verteilung des Kindergeldes unberücksichtigt bleiben, da er -- unstreitig -- nach § 26 Abs. 1 Satz 1 BSHG wegen der von ihm betriebenen und im Rahmen des Bundesausbildungsförderungsgesetzes dem Grunde nach förderungsfähigen Ausbildung keinen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt habe. Dieser Auffassung folgt der Senat nicht. Er schließt sich vielmehr der Auffassung des OVG Berlin (Beschl. v. 27. Juli 1995 -- 6 S 120.95 --, FEVS 46, 245) an, das entschieden hat, das Kindergeld sei nur insoweit auf den Bedarf der Kinder anzurechnen, als es ihre Mutter, die Ausbildungsförderung in einer Höhe erhalte, die ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht voll decke, für den eigenen notwendigen Lebensunterhalt nicht brauche. Nichts anderes gilt aber dann, wenn nicht der Kindergeldberechtigte selbst, sondern ein anderes Mitglied der Gemeinschaft des § 11 Abs. 1 Satz 2 BSHG (das kann -- wie hier -- der Ehegatte des Kindergeldberechtigten, aber auch ein minderjähriges Kind selbst sein, das eine im Rahmen des SGB III dem Grunde nach förderungsfähige Ausbildung betreibt) nach § 26 Abs. 1 Satz 1 BSHG von Hilfe zum Lebensunterhalt ausgeschlossen ist. Die Berücksichtigung des Kindergeldes bei allen hilfebedürftigen Mitgliedern der Gemeinschaft des § 11 Abs. 1 Satz 2 BSHG widerspricht auch nicht dem Zweck dieser öffentlichen Leistung. Es dient allgemein der Minderung der Lasten der Familien mit Kindern und ist entgegen der Auffassung des Beklagten nicht etwa nur zur Deckung des Bedarfs der Kinder bestimmt (vgl. allgemein zur Zweckbestimmung des Kindergeldes auch nach dem Jahressteuergesetz 1996: Senat, Beschl. v. 2. März 1998 -- 4 M 4114/97 --, FEVS 48, 527; Urt. v. 29. April 1998 -- 4 L 1242/96 --, die dagegen eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde hat das BVerwG durch Beschl. v. 25. Nov. 1999 -- BVerwG 5 B 108.98 -- zurückgewiesen). Die Auffassung des Verwaltungsgerichts, der in der Entscheidung des OVG Berlin zum Ausdruck kommende Rechtsgedanke hätte auf diesen Fall nur dann übertragen werden können, wenn nicht die Klägerin zu 1), sondern ihr Ehemann das Kindergeld bezogen hätte, überzeugt den Senat nicht. Von der Zufälligkeit, wen die Eltern gegenüber der Kindergeldkasse als Berechtigten bestimmen, kann die richtige Aufteilung des Kindergeldes auf den Bedarf der Mitglieder der Gemeinschaft des § 11 Abs. 1 Satz 2 BSHG nicht abhängen.

13

Allerdings folgt der Senat der Auffassung der Kläger nicht, ihrem Ehemann bzw. Vater habe jeweils die Hälfte des Kindergeldes "zur Wahrung seines verfassungsrechtlich garantierten Existenzminimums" zugestanden. Ein solcher Betrag allein (200,-- DM bzw. 220,-- DM monatlich) kann das Existenzminimum ohnehin nicht decken. Der Ehemann bzw. Vater der Kläger muss also noch andere Einkünfte zur Deckung seines notwendigen Lebensunterhalts gehabt haben (vor dem Verwaltungsgericht haben die Kläger angegeben, er habe die Hälfte des Kindergeldes benötigt, um die Kosten für die wöchentlichen Fahrten zwischen Wohn- und Studienort zu bezahlen). Andererseits bestehen nicht hinreichende Anhaltspunkte dafür und wird vom Beklagten auch nicht behauptet, dass er so hohe Einkünfte gehabt habe, dass er nicht einmal den vom Senat für richtig gehaltenen Betrag von einem Viertel des Kindergeldes zur Deckung seines notwendigen Lebensunterhalts benötigt habe. Die Aufteilung des Kindergeldes nach "Kopfteilen" hält der Senat deshalb für richtig, weil das "Kopfteilprinzip" auch sonst das Sozialhilferecht als Strukturprinzip durchzieht (vgl. zur Aufteilung der Unterkunftskosten: BVerwG, Urt. v. 21. Jan. 1988 -- BVerwG 5 C 68.85 --, BVerwGE 79, 17; zur Aufteilung eines Einkommensüberhangs eines Mitglieds der Gemeinschaft: Schulte, ZfSH/SGB 1990, 471, und Lutter, ZfSH/SGB 1997, 387). Wendete man dieses Prinzip nicht an, könnte nicht verhindert werden, dass ein einkommens- und vermögensloses Mitglied der Gemeinschaft des § 11 Abs. 1 Satz 2 BSHG, das nach § 26 BSHG Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt nicht hat, nicht nur -- wie hier -- die Hälfte, sondern sogar das gesamte Kindergeld zur Deckung seines notwendigen Lebensunterhalts beansprucht. Eine solche einseitige Beanspruchung des Kindergeldes widerspräche aber seinem Zweck, die Lasten der gesamten Familie mit Kindern zu senken. Diesem Zweck entspricht deshalb allein die Aufteilung nach "Kopfteilen" (bis zur Deckung des jeweiligen sozialhilferechtlichen Bedarfs, d. h., soweit ein Familienmitglied seinen "Kopfteil" nicht voll benötigt, erhöhen sich insoweit die Anteile der anderen Mitglieder).

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Die Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 155 Abs. 1 Satz 1, 162 Abs. 2 Satz 2, 166, 188 Satz 2 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 10 ZPO.

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Die Revision ist nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen, da die Rechtsfrage, ob ein Teil des Kindergeldes auch dem hilfebedürftigen Mitglied der Gemeinschaft des § 11 Abs. 1 Satz 2 BSHG zugewendet werden darf, das nach § 26 Abs. 1 Satz 1 BSHG Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt nicht hat, grundsätzliche Bedeutung hat und -- soweit ersichtlich -- höchstrichterlich noch nicht geklärt ist.