Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 06.03.2000, Az.: 9 L 3275/99
Abschiebung; Abschiebungshindernis; Asyl; Asylantragsteller; Asylbewerber; Blutrache; Hindernis; Irak; Nordirak; politische Verfolgung; Verfolgung
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 06.03.2000
- Aktenzeichen
- 9 L 3275/99
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2000, 42008
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 08.06.1999 - AZ: 6 A 679/98
Rechtsgrundlagen
- § 53 Abs 6 S 1 AuslG
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Blutrache ist im Nord-Irak ein mehr oder weniger praktizierter Bestandteil der insbesondere ländlichen "Rechtskultur".
Gründe
Der in der Nähe von Zakho im Nord-Irak geborene Kläger ist irakischer Staatsangehöriger, kurdischer Volks- und moslemischer Glaubenszugehörigkeit.
Sein Asylantrag blieb erfolglos. Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen.
Die vom Senat zugelassene Berufung hat teilweise Erfolg. Wegen der dem Kläger drohenden Blutrache liegen die Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG vor.
1. Dem Kläger steht kein Anspruch auf die Feststellung zu, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats übt der irakische Zentralstaat in den drei autonomen Kurdenprovinzen Sulaimaniya, Dohuk und Arbil keine effektive Gebietsgewalt aus, so dass schon wegen dieser Voraussetzung die Annahme bzw. Möglichkeit einer "politischen" Verfolgung scheitert. Für den aus Zakho stammenden Kläger würde sich der Nord-Irak grundsätzlich auch als eine inländische Fluchtalternative darstellen (vgl. dazu im Einzelnen u.a. die Grundsatzentscheidung des Senats vom 8. September 1998 (9 L 2142/98); ferner das einschlägige Urteil des BVerwG zum (Nord-)Irak vom 8. Dezember 1998 (9 C 17.98 -- DVBl. 1999, 551 = InfAuslR 1999, 280 = NVwZ 1999,544 = BVerwGE 108, 84). Diese Feststellungen bedürfen aus Anlass dieses Verfahrens auch keiner weiteren Vertiefung, da sie zum einen vom Kläger nicht in Frage gestellt werden und zum anderen sich sein Anliegen auf die rechtlichen Folgerungen aus der ihm drohenden Blutrache beschränken.
2. Diesem Anliegen kann nur im Rahmen des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG Rechnung getragen werden. Dem Kläger steht im Rahmen dieser Vorschrift wegen der ihm drohenden Blutrache im Nord-Irak ein Abschiebungshindernis zur Seite. Bei § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG kommt es im Gegensatz zu den Regelungen des § 51 Abs. 1 AuslG und des § 53 Abs. 1 bis 4 AuslG nicht darauf an, von wem die Gefahr ausgeht oder wodurch sie hervorgerufen wird. Die Regelung stellt vielmehr lediglich auf das Bestehen einer konkreten Gefahr ab, ohne Rücksicht darauf, ob sie vom Staat ausgeht oder ihm zumindest zurechenbar ist (BVerwG, Urt. v. 17.10.1995 -- 9 C 9.95 -- BVerwGE 99, 324). Die theoretische Möglichkeit, Opfer von Eingriffen in die geschützten Rechtsgüter zu werden, reicht dabei nicht aus, um eine Gefahr in diesem Sinne zu begründen. Vielmehr ist erforderlich, dass eine einzelfallbezogene, individuell bestimmte und erhebliche Gefährdungssituation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit landesweit besteht (BVerwG, Urt. v. 17.10.1995, aaO; BVerwG, Urt. v. 15.4.1997 -- 9 C 38.96 -- BVerwGE 104, 265). Vom Letzteren ist nach den dem Senat vorliegenden Erkenntnisquellen auszugehen.
Das Deutsche Orient-Institut hat sich in zwei Stellungnahmen zu dem Phänomen der Blutrache im Irak geäußert. In seiner -- zeitlich ersten -- Stellungnahme vom 31. März 1998 an das VG Augsburg wird mehr oder weniger lapidar die Blutrache, gerade in ländlichen Gebieten, als eine "konkrete und ernstlich" bestehende Bedrohung bewertet. Insbesondere die "Blutbilanz" müsse stimmen. Wenn ein Familienmitglied zwei Menschen getötet habe und die Familie des Getöteten "nur" einen Mann, sei diese nicht ausgeglichen. Es müsse dann noch ein Mann getötet werden, es sei denn, die Familien säßen in einer umständlichen und von langer Hand vorzubereitenden Zeremonie zusammen und kämen überein, Blutgeld zu akzeptieren. Aber selbst diese Möglichkeit sei normalerweise erst bei ausgeglichener Blutbilanz möglich, und wenn das nicht gewollt werde, könne man dagegen nichts machen. In seiner zweiten -- zeitlich folgenden -- Stellungnahme vom 31. August 1999 an das OVG Rheinland-Pfalz hat sich das Deutsche Orient-Institut zur Frage der Blutrache vertieft und wie folgt geäußert:
"Die Blutrache ist im Nordirak, besonders in den ländlichen Gebieten, noch sehr verbreitet. Bei dieser handelt es sich um einen uralten Bestandteil ländlicher "Rechtskultur", die, mit gewissen Einschränkungen durch den Propheten, in das Islamische Gesetz inkorporiert wurde, und daher im Verlaufe der Geschichte zusätzlich eine religiöse Legitimation und Überhöhung bekommen hat. Man muß dazu wissen, daß die Blutrache in der vorislamischen Zeit nicht an die Person des Täters gebunden war, sondern daß der gesamte Clan des Täters von dieser Blutrache betroffen war, so daß es vollkommen "richtig" war, irgendwen aus der Sippe des Täters zu töten. Sodann war in vorislamischer Zeit die Blutrache nicht auf die "Herstellung eines Blutgleichgewichtes" gerichtet, vielmehr war die Sippe des Opfers bestrebt, möglichst viele, möglichst gute Leute aus dem Stamm des Täters zu töten. Schließlich gab es keinen Unterschied zwischen vorsätzlicher und fahrlässiger Tötung und es gab bestimmte heidnische Beweisrituale, die aber hier nicht erörtert werden müssen. Die Wiedervergeltung als solche -- die, nebenbei, im Islamischen Recht auch im Vergeltungsrecht für Körperverletzungen eine große Rolle spielt -- ist vom Propheten als durchaus rechtmäßig bezeichnet und in seine Offenbarungen aufgenommen worden. Das geschah freilich nur in ganz allgemeiner Form, indem der vorislamische Grundsatz "Leben gegen Leben" in den Koran übernommen wurde, doch hat die nachfolgende, jahrhundertelange Ausprägung der Islamischen Rechtslehre diesen Grundsatz klar zu einer unumstößlichen Säule des Islamischen Strafrechts konkretisiert.
Nach diesen Maßgaben ist im Fall der Tötung eines Familienmitglieds durch einen zurechnungsfähigen und erwachsenen Täter, die Tötung eines anderen, "gleichwertigen" Familienmitgliedes verwirkt. Damit ist aber die Blutrache nicht abgeschlossen, obwohl die Blutbilanz dann ausgeglichen ist, vielmehr geht diese Fehde dann immer weiter, bis sie entweder im Sande verläuft, was relativ selten ist, oder durch ein Abkommen zwischen den Sippen, bei dem dann auch Geld fließt, beendet wird.
Die Folgerungen, die sich für die betroffenen Familien daraus üblicherweise ergeben (können) sind sehr mannigfaltig, und ihr kennzeichnendes Merkmal ist ihre Unberechenbarkeit. Prinzipiell gilt, daß jedes Familienmitglied, aber nur jedes gleichwertige Familienmitglied, also im vorliegenden Fall jeder erwachsene Mann der Opfer-Sippe, damit rechnen muß, das Opfer einer Vergeltungstat zu werden.
Opfer und Täter werden dabei meistens vorher ausgesucht, so daß sich in den Familien im allgemeinen herumzusprechen pflegt, wer "dran ist", und wer "es tun muß". Es ist nämlich so, daß in diesen Dingen gerne Leute vorgeschickt werden, so daß nicht unbedingt derjenige, der die Waffe dann zum tödlichen Streich geführt hat, bestraft wird, sondern der, von dem man annimmt, daß er die Tat in Auftrag gegeben hat. Individuelle Merkmale spielen demgegenüber bei der Opfersuche eigentlich keine Rolle, da die diesem Blutbrauch zugrunde liegende Denkweise gerade nicht personifiziert, sondern eben eine Sippenhaftung darstellt, bei der gleichsam nur objektiv in Menschenleben gerechnet wird, ohne daß von Bedeutung ist, wer daran glauben muß. Nur muß eben das Opfer gleichwertig sein, d.h. es kann nicht etwa eine Frau für einen Mann geopfert werden, oder ein Kind für einen Mann oder ein Dienstbote für einen Grundbesitzer. Hier wird also auf eine Gleichrangigkeit von Täter und Opfer geachtet, da nur bei der Tötung eines Gleichwertigen die Vergeltung nach dortiger Vorstellung auch eintritt.
...
Die Blutrache ist kein örtliches Phänomen, sondern eher ein ländliches Phänomen. In den städtischen Sippen und Familien kommt dergleichen nach unseren Kenntnissen praktisch nicht mehr vor, doch heißt das nicht, daß sich ein Mitglied einer ländlichen Sippe durch Flucht in eine Stadt der Blutrache dauerhaft entziehen kann. Das gilt jedenfalls für die dortigen Verhältnisse, es ist dann eine Frage der konkreten Situation, ob man auf ein bestimmtes Opfer gleichsam verzichtet, weil an dieses aufgrund der persönlichen Verhältnisse zu schwer heranzukommen ist, oder ob man das nicht tut. Berechenbar ist das nicht. So z.B. würde sich selbst in Deutschland die Möglichkeit ergeben, einen solchen Blutrachemord, etwa durch gedungene Auftragsmörder, auch das gibt es, zu verwirklichen. Freilich, hier muß dann sehr viel Geld bezahlt werden, und es kann also durchaus sein, daß der Beigeladene einfach weil es zu schwierig ist, seiner hier habhaft zu werden, in Ruhe gelassen wird.
Wie genau der Verlauf der wechselseitigen Ermordung ist, kann sehr unterschiedlich sein, es gibt den hier vorgetragenen Fall, daß nach der Initialtötung erst einmal ein Jahr gar nichts passiert, und es gibt natürlich auch den Fall, daß sofort zurückgeschlagen wird, ersterer Fall spricht dafür, daß die Familie des Angegriffenen vergleichsweise wenig bedeutsam ist, denn die Blutrache nicht sofort oder in kurzer Zeit zu vollziehen, wird dort als Zeichen der Schwäche aufgefaßt, letzterer Fall, würde dann der eher normale Fall sein, daß zwei gleichstarke Familien sich gegenüberstehen. Möglich ist auch, daß erst ein paar Leute wechselseitig umgebracht werden, die Sache dann zum Ruhen kommt, und nach einigen Jahren wieder auflebt.
Ein anderer Fall ist der, daß Vermittler eingeschaltet werden, um zwischen den verfeindeten Sippen zu vermitteln mit dem Ziel, ein Ende der Blutfehde zu erreichen. Hier werden dann Sühnezahlungen in beträchtlicher Höhe vereinbar.
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Der uns mitgeteilte Vortrag des Klägers ist unserer Einschätzung nach plausibel. Solche Geschichten gibt es durchaus in der kurdischen Gesellschaft, gerade in der des Nordiraks, wo infolge des Zerbrechens jeglicher staatlicher Strukturen, viele alte, auch sehr blutige Traditionen in verstärktem Maße wieder zu Tage treten."
Aus diesen Erkenntnisquellen ist zu entnehmen, dass das Phänomen der Blutrache im Nord-Irak ein mehr oder weniger praktizierter Bestandteil der insbesondere ländlichen "Rechtskultur" ist. Sie ist nicht nur eine entfernt und abstrakt vorstellbare Möglichkeit, sondern eine real vorhandene und jederzeit aktualisierbare tödliche Bedrohung durch die betroffene Familie. Der Senat hat auch keine durchgreifenden Anhaltspunkte dafür, dass dem Kläger die Blutrache wegen des tödlichen Ausgangs des Autounfalls nicht konkret und individuell zurechenbar drohen würde. Zwar beziehen sich die beiden zitierten Erkenntnisquellen des Deutschen Orient-Instituts jeweils auf Fälle von Tötungen in Landstreitigkeiten, um die es sich hier nicht handelt. Die Exekution der Blutrache beschränkt sich aber keineswegs auf derartige Streitigkeiten; Auslöser ist regelmäßig allein die Tatsache der Tötung eines Familienmitgliedes. Der Annahme einer konkreten Gefährdung des Klägers steht auch nicht der Umstand entgegen, dass andere Angehörige der Familie des Klägers bislang nicht getötet worden sind. Zum einen gibt es insoweit keine zeitlichen Gesetzmäßigkeiten. Das Deutsche Orient-Institut führt insoweit an, dass "durchaus erst einmal ein paar Jahre gar nichts passieren kann". Zum anderen ist es typisch, dass die Blutrache zunächst an dem für den Todesfall Verantwortlichen zu ahnden versucht wird, bevor dann andere Familienangehörige ins Blickfeld geraten können.