Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 24.03.2000, Az.: 10 M 986/00
aufschiebende Wirkung; Bürgerbegehren; Bürgerentscheid; einstweilige Anordnung; Hauptsache; Kostendeckungsvorschlag; Kostenschätzung; vorläufiger Rechtsschutz; Vorwegnahme; Vorwegnahme der Hauptsache; Zulassung
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 24.03.2000
- Aktenzeichen
- 10 M 986/00
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2000, 41940
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- Art 19 Abs 4 GG
- § 22b Abs 4 GemO ND
- § 22b Abs 9 S 2 GemO ND
- § 123 VwGO
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Im Interesse der Gewährung effektiven Rechtsschutzes kann es geboten sein, eine kommunale Gebietskörperschaft im Wege einer einstweiligen Anordnung zur Zulassung eines Bürgerbegehrens zu verpflichten.
2. Zu den an einen Kostendeckungsvorschlag zu stellenden Anforderungen.
Gründe
Die Beschwerde ist gemäß §§ 146 Abs. 4, 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen, da ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung bestehen. Dies ergibt sich aus den nachstehenden Ausführungen.
Die Beschwerde der Antragstellerinnen hat in dem sich aus der Beschlussformel ergebenden Umfang Erfolg. Insoweit hätte das Verwaltungsgericht die beantragte einstweilige Anordnung erlassen müssen. Ohne Erfolg bleibt die Beschwerde lediglich, soweit die Antragstellerinnen die Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Durchführung des Bürgerbescheides begehren.
Die Antragstellerinnen haben als Vertreterinnen der Unterzeichnenden sowohl den erforderlichen Anordnungsgrund als auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO). Die von der Antragsgegnerin aufgeworfenen Zweifel, ob die Antragstellerinnen als Vertreterinnen des Bürgerbegehrens oder als Unterzeichnerinnen des Bürgerbegehrens um einstweiligen Rechtsschutz nachsuchen, ist durch ihren Schriftsatz vom 22. März 2000 in dem zuerst genannten Sinne geklärt. Als Vertreterinnen des Bürgerbegehrens sind sie befugt, die Unterzeichnenden auch gerichtlich zu vertreten (vgl. Wefelmeier in KVR-NGO § 22 b RdNr. 39; Fischer, DÖV 1996, 181, 185).
Der Anordnungsgrund liegt in der Gefahr der Vereitelung des Rechts auf Zulassung des Bürgerbegehrens; denn im Falle der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes würde das Bürgerbegehren durch Zeitablauf unzulässig. Soweit das von einem Bürgerbegehren angestrebte Ziel rechtlich oder tatsächlich nicht mehr erreicht werden kann, ist das Bürgerbegehren unzulässig, weil es auf ein unmögliches Ziel gerichtet ist und es für die Verursachung der mit der Durchführung verbundenen Kosten keine Rechtfertigung gibt (Senatsbeschl. v. 22.10.1999, Nds. VBl. 2000, 31; vgl. Wefelmeier, a.a.O., RdNr. 66; Kurbjuhn, Nds. VBl. 1998, 230 ff).
Dem Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung steht nicht entgegen, dass hiermit die Hauptsache vorweggenommen würde. Die Vorwegnahme ist im vorliegenden Fall ausnahmsweise statthaft, weil den Antragstellerinnen ansonsten ein nicht mehr wiedergutzumachender und unzumutbarer Nachteil entstehen würde (BVerfG, Beschl. v. 25.10.1998 - BVerfGE 79, 69, 74 [BVerfG 25.10.1988 - 2 BvR 745/88]). Ein solcher Nachteil liegt hier entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts vor.
Bürgerbegehren betreffen regelmäßig aktuelle kommunalpolitische Themen. Da § 22 b Abs. 9 Satz 2 NGO der Gemeinde den Vollzug der den Gegenstand des Bürgerbegehrens betreffenden Entscheidungen ausdrücklich gestattet, besteht die Gefahr, dass die Vorschriften über Bürgerbegehren und Bürgerentscheid weitgehend leer laufen, wenn die Anfechtung einer rechtswidrig oder gar willkürlich versagten Zulassung eines Bürgerbegehrens durch den damit verbundenen Zeitablauf regelmäßig zu der Erledigung des Bürgerbegehrens führt. Gerade weil der Gesetzgeber in Niedersachsen ausdrücklich auf die aufschiebende Wirkung des Bürgerbegehrens verzichtet hat (Nds. LT, Drucks. 13/2400 S. 10), bedarf es zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG einer Ausnahme vom Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache. Die gegenteilige Auffassung des Verwaltungsgerichts übersieht das rechtlich geschützte Interesse der Unterzeichner eines Bürgerbegehrens an dessen Zulassung und verkennt die faktische Wirkung einer (einstweiligen) gerichtlichen Entscheidung. Da der Vollzug von Entscheidungen, die Gegenstand eines Bürgerbegehrens sind, jedenfalls vom Rat der Gemeinde politisch vor den Wählern zu verantworten ist, wird dieser bei seiner Entscheidung über den Vollzug des Ratsbeschlusses erwägen, ob dieser durch übergeordnete öffentliche oder private Belange geboten ist oder ob der sich manifestierende Wille der Bürger berücksichtigt werden soll (vgl. Fischer, a.a.O., S. 186 f.; Hager, Rechtspraktische und rechtspolitische Notizen zu Bürgerbegehren und Bürgerentscheid, VerwArch Band 84, S. 97, 116 f.).
Die Antragstellerinnen haben einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht, da das Bürgerbegehren voraussichtlich zulässig ist. Versagungsgründe liegen nicht vor.
Das Bürgerbegehren erfüllt die Voraussetzungen des § 22 b Abs. 4 NGO. Die gewünschte Sachentscheidung ist so genau bezeichnet, dass über sie im Bürgerentscheid mit "Ja" oder "Nein" abgestimmt werden kann. Das Bürgerbegehren ist schriftlich eingereicht worden und enthält eine Begründung sowie einen Kostendeckungsvorschlag. Zu letzterem gehören sowohl die Herstellungs- oder Erwerbs- wie auch die Folgekosten, z. B. Unterhalts- oder Betriebskosten (VGH Mannheim, Urt. v. 6.7.1982, ESVGH 42, 44; VGH Kassel, Beschl. v. 23.11.1995, NVwZ-RR 1996, 409, 410 [VerfGH Bayern 05.12.1995 - Vf. 12-VII-94]). Die Anforderungen an den Kostendeckungsvorschlag dürfen allerdings nicht zu hoch angesetzt werden, Kostenschätzungen sind zulässig. Eines Deckungsvorschlages bedarf es nicht, wenn die beantragte Maßnahme keine Kosten verursacht oder offensichtlich die günstigere zu einem von der Gemeinde beschlossenen Vorhaben darstellt (Wefelmeier, a.a.O., RdNrn. 32 f.). Der in dem Bürgerbegehren genannte Deckungsvorschlag genügt diesen Anforderungen. Dabei geht der Senat von der Vollständigkeit des Deckungsvorschlages aus. Anhaltspunkte für die Annahme der Antragsgegnerin, bei der von den Antragstellerinnen favorisierten Erweiterung der Fürstenwallschule handele es sich nur um eine Zwischenlösung, so dass Kosten für den Abbau und die Weiterverwendung der rückbaubaren Fertigbau-Klassenräume anzugeben seien, sind der Begründung des Bürgerbegehrens, auf die hier abzustellen ist, nicht zu entnehmen. Zudem geht selbst die Antragsgegnerin davon aus, dass für die weitere Schulbauplanung greifbare Anhaltspunkte nicht vorliegen. Ob der Vorschlag des Bürgerbegehrens in Leserbriefen in der örtlichen Presse als Zwischenlösung verstanden wird, ist für dieses Verfahren ohne Bedeutung. Im Übrigen spricht die Formulierung "Mit der beschlossenen Anbauplanung werden zukünftig bedarfsorientierte Planungen blockiert ....." vielmehr dafür, dass aus der Sicht der Initiatoren des Bürgerbegehrens der Raumbedarf für die Schüler der Fürstenwallschule gegenwärtig nicht abzuschätzen ist. Da der mit dem Bürgerbegehren vorgeschlagene Erweiterungsbau mithin nicht, wie von der Antragsgegnerin angenommen, zusätzliche und vermeidbare Kosten in Höhe von ca. 500.000,00 DM verursachen würde, sondern sich im Vergleich zu den mit 1,9 Mio. DM veranschlagten Kosten für einen massiven Erweiterungsbau als die kostengünstigere Alternative darstellt, genügt der Kostendeckungsvorschlag den Anforderungen des § 22 b Abs. 4 NGO. Soweit die Antragstellerinnen darauf hinweisen, dass ihnen für den vom Rat beschlossenen massiven Erweiterungsbau der Fürstenwallschule Fördermittel in Höhe von 608.000,00 DM zur Verfügung gestellt worden seien, die für Fertigbau-Klassenräume nicht bewilligt würden, gilt nichts anderes, da die im Bürgerbegehren vorgesehene Lösung sich auch im Vergleich zu dem von der Antragsgegnerin aufzubringenden Betrag von ca. 1,3 Mio. DM immer noch als die weitaus günstigere Variante darstellt.
Die Angabe von Namen und Anschriften der Antragstellerinnen auf dem unteren Rand der Unterschriftslisten sowie in dem an die Antragsgegnerin gerichteten Schreiben vom 7. Juli 1999, mit dem das Bürgerbegehren angezeigt wird, genügt den Anforderungen des § 22 b Abs. 4 Satz 3 NGO. Zwar fehlt der Hinweis, dass die drei benannten Personen berechtigt sind, die Unterzeichnenden zu vertreten; ein anderes Verständnis ihrer Funktion erscheint indes angesichts der Anordnung der Namen auf den Unterschriftslisten kaum denkbar. Dass auch die Antragsgegnerin die Funktion der Antragstellerinnen in diesem Sinne verstanden hat, belegt die Tatsache, dass sie ihren Bescheid vom 11. November 1999, mit dem sie das Bürgerbegehren für unzulässig erklärt, den Antragstellerinnen zugestellt hat. Da es sich bei der Vertretung jedenfalls in Niedersachsen nicht um eine rechtsgeschäftliche, sondern um eine gesetzliche Vertretung handelt und da die Unterzeichner auf die Vertreterbestellung keinen unmittelbaren Einfluss ausüben können, stehen diesem Verständnis der Unterschriftslisten auch Interessen der Unterzeichnenden nicht entgegen.
Da das Bürgerbegehren auch mit den zu seiner Unterstützung erforderlichen Unterschriften innerhalb der Frist von drei Monaten nach dem Tag der Bekanntmachung (§ 22 b Abs. 5 NGO) eingereicht worden ist, erweist es sich als zulässig. Dem Hilfsantrag war daher stattzugeben.
Für die mit dem Hauptantrag begehrte Verpflichtung der Antragsgegnerin zur vorläufigen Durchführung des begehrten Bürgerentscheides fehlt es indes am Rechtsschutzbedürfnis. Ist das Bürgerbegehren zulässig, so bestimmt sich das weitere Verfahren über die Herbeiführung des Bürgerentscheides nach § 22 b Abs. 7 bis 10 NGO. Da weder vorgetragen noch ersichtlich ist, dass die Antragsgegnerin eine ordnungsgemäße Durchführung des Bürgerentscheides nicht gewährleisten wird, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung insoweit nicht geboten.