Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 12.04.2000, Az.: 4 L 4035/99
Erstattung; gewöhnlicher Aufenthalt; Kosten; Kostenerstattung; Sozialhilfe; Sozialhilfeträger; Umzug
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 12.04.2000
- Aktenzeichen
- 4 L 4035/99
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2000, 42087
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 16.03.1999 - AZ: 3 A 1305/97
Rechtsgrundlagen
- § 107 BSHG
- § 30 Abs 3 S 2 SGB 1
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Ob ein Hilfesuchender, der den Ort seines bisherigen gewöhnlichen Aufenthalts verlassen hat, an einem anderen Ort (schon) einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt begründet hat, ist in erster Linie nach seinen objektiven Lebensumständen und einem zeitlichen Element ("nicht nur vorübergehend") zu bestimmen. Erst in zweiter Linie können auch subjektive Vorstellungen des Hilfesuchenden berücksichtigt werden.
Tatbestand:
Die Klägerin, Stadt O, verlangt von der Beklagten, Landeshauptstadt H, die Erstattung der Sozialhilfeaufwendungen, die sie der Hilfeempfängerin S. in der Zeit vom 4.1.1996 bis zum 31.12.1997 gewährt hat.
Frau S. war Anfang Dezember 1995 aus ihrem Haushalt in der Stadt B, der Beigeladenen, in dem sie bis dahin mit ihrem Ehemann und mehreren Kindern zusammen gelebt hatte, nach Auseinandersetzungen mit ihrem Ehemann zu Verwandten nach H "geflüchtet". In der Wohnung der Verwandten hatte sie zusammen mit diesen weniger als einen Monat lang gewohnt und gegen Ende des Jahres 1995 ihren Sohn P aus B zu sich geholt. In den letzten Tagen des Jahres 1995 war sie zusammen mit P in den Bereich der Klägerin weitergezogen, wo ebenfalls Verwandte von ihr lebten und wo sie wenig später eine eigene Wohnung zusammen mit P bezog.
Die Klägerin gewährte Frau S. und ihrem Sohn ab dem 4. Januar 1996 Hilfe zum Lebensunterhalt. Ihre Aufforderung zur Erstattung ihrer Sozialhilfeaufwendungen für Frau S. und ihren Sohn lehnte die Beklagte ab. Ihre am 4. März 1997 gegen die Beklagte erhobene Leistungsklage hat das Verwaltungsgericht Hannover durch Urteil vom 16. März 1999 abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Für einen auf die (allein) in Betracht kommende Anspruchsnorm (§ 107 Abs. 1 BSHG) gestützten Erstattungsanspruch fehle es an der Voraussetzung, dass die Hilfeempfängerin im Zuständigkeitsbereich der Beklagten ihren gewöhnlichen Aufenthalt gehabt habe. Bei der Anwendung der für den Rechtsbegriff "gewöhnlicher Aufenthalt" maßgeblichen Legaldefinition in § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I seien sowohl subjektive als auch objektive Elemente für die Annahme zu beachten, ob die Hilfeempfängerin mit dem Ort H ihre überwiegenden Lebensinteressen verbunden habe. Das sei nach dem Inhalt der Akten zu verneinen. Zwar sei erkennbar, dass sie die Wohnung ihrer Familie in B fluchtartig verlassen habe und dadurch ihr Wille zur Aufgabe des bisherigen gewöhnlichen Aufenthalts dort belegt. Doch sei ihr Plan, in H eine neue Wohnung anzumieten und dort ihren gewöhnlichen Aufenthalt (neu) zu begründen, ersichtlich nicht gelungen. Ihre Unterkunft bei Verwandten in H sei ersichtlich nur eine Notlösung gewesen, die sie schon etwa einen Monat später wieder habe aufgeben müssen, nachdem die Kinder der Verwandten erkrankt seien. Ihre Absicht, in H eine Wohnung zu mieten und dort Fuß zu fassen, sei eben nicht zu verwirklichen gewesen. Dafür spreche auch, dass sie ihren Sohn aus B nach H erst zu sich geholt habe, als schon klar gewesen sei, dass sie von H nach O weiterziehen würde.
Gegen dieses Urteil hat der Senat durch Beschluss vom 20. Oktober 1999 wegen tatsächlicher und rechtlicher Schwierigkeiten im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO die Berufung zugelassen. Mit ihrer am 11. November 1999 begründeten Berufung macht die Klägerin geltend: Nach Angaben der Hilfeempfängerin habe diese die Unterkunft bei Verwandten in H mit offenem zeitlichen Ende nutzen können und wollen, bis sie im Raum H eine eigene Wohnung gefunden haben würde. Wenn ihr auch klar gewesen sei, dass sie bei ihren Verwandten nicht unbegrenzt habe wohnen können, sei doch die weitere Entwicklung, dass sie (und ihr Sohn) infolge der Erkrankung der Kinder der Verwandten dort nicht weiter hätten bleiben können, eine unvorhersehbare Wendung gewesen. Dieser objektive Hinderungsgrund für ein längeres Verweilen stehe der Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts in H nicht entgegen; entscheidend sei nicht allein die tatsächliche Dauer des Aufenthalts, sondern die Absicht im Zeitpunkt der Aufenthaltsnahme.
Die Klägerin beantragt,
unter Änderung des angefochtenen Urteils nach dem beim Verwaltungsgericht gestellten Antrag zu erkennen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt das angefochtene Urteil.
Die Beigeladene unterstützt das Vorbringen der Klägerin, stellt aber keinen eigenen Antrag.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist zulässig, aber unbegründet. Zu Recht hat das Verwaltungsgericht die von der Klägerin gegen die Beklagte gerichtete Leistungsklage auf Kostenerstattung abgewiesen.
Zutreffend hat das Verwaltungsgericht als Grundlage für den von der Klägerin verfolgten Erstattungsanspruch § 107 Abs. 1 BSHG behandelt. § 107 BSHG trägt die Überschrift "Kostenerstattung bei Umzug", § 107 Abs. 1 BSHG lautet:
Verzieht eine Person vom Ort ihres bisherigen gewöhnlichen Aufenthalts, ist der Träger der Sozialhilfe des bisherigen Aufenthaltsortes verpflichtet, dem nunmehr zuständigen örtlichen Träger der Sozialhilfe die dort erforderlich werdende Hilfe ... zu erstatten, wenn die Person innerhalb eines Monats nach dem Aufenthaltswechsel der Hilfe bedarf.
Diese Bestimmung enthält die beiden unbestimmten Rechtsbegriffe "Umzug" bzw. "Verziehen" und "gewöhnlicher Aufenthalt". Zu dem erstgenannten Begriff (dazu: Schellhorn, BSHG, 15. Aufl. 1997, § 107 Rdnr. 6; Schoch, in: LPK-BSHG, 5. Aufl. 1998, § 107 Rdnr. 13; Beschl. d. Sen. v. 1.3.1999 -- 4 L 2545/97 --, NDV-RD 1999, 81 = NdsRpfl. 1999, 297 = FEVS 49, 541 = DÖV 2000, 84, Ls) bedarf es zur Entscheidung des vorliegenden Falles einer Begriffsbestimmung durch den Senat nicht. Denn jedenfalls setzt ein Anspruch auf Kostenerstattung nach § 107 Abs. 1 BSHG voraus, dass die hilfesuchende Person bis zu ihrem Aufenthaltswechsel ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bereich desjenigen Trägers der Sozialhilfe gehabt hat, von dem Kostenerstattung verlangt wird. Dies ergibt schon die wörtliche und nicht erst die systematische Auslegung der Anspruchsnorm.
Bei der Auslegung des Rechtsbegriffs "gewöhnlicher Aufenthalt" in § 107 BSHG ist die für alle Sozialleistungsbereiche geltende Vorschrift des § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I anzuwenden (BVerwG, Urt. v. 18.3.1999 -- 5 C 11.98 --, FEVS 49, 434; Urt. d. Sen. v. 7.3.2000 -- 4 L 2968/99 --; a. A.: Schellhorn. a. a. O., § 97 Rdnr. 33, § 107 Rdnr. 7). Nach § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I hat den gewöhnlichen Aufenthalt jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Danach kommt es -- in erster Linie -- auf die objektiven Lebensumstände sowie ein zeitliches Element ("nicht nur vorübergehend") an (Senatsbeschl. v. 1.3.1999, a. a. O.; so auch: Urt. d. BVerwG v. 18.3.1999, a. a. O.). Daneben kann -- in zweiter Linie -- auch die (subjektive) Absicht des Hilfesuchenden bei dem Umzug Berücksichtigung finden. In Fällen wie dem vorliegenden, in denen der Hilfesuchende seinen Aufenthaltsort nicht freiwillig wechselt (beispielsweise bei Zwangsräumung der Wohnung oder bei Flucht ins Frauenhaus), schließt allein dieser Umstand die Annahme eines nicht nur vorübergehenden Verweilens ebenso wenig aus wie die Besonderheit, dass der Aufenthalt an dem neuen Ort "zukunftsoffen" ist oder (nur) "bis auf Weiteres" dauern soll (wie etwa in Übergangswohnheimen für Asylbewerber oder Spätaussiedler; dazu: Urt. d. BVerwG v. 18.3.1999, a. a. O.).
Danach sind im vorliegenden Fall die folgenden objektiven Umstände aus dem Leben der Hilfeempfängerin S. zu berücksichtigen; sie sprechen -- insgesamt gesehen -- gegen die Annahme eines gewöhnlichen Aufenthalts in H:
1. Frau S. hielt sich in H vergleichsweise kurz auf, ehe sie zu anderen Verwandten nach O weiterzog.
2. Ihren Sohn P, mit dem sie weiter zusammenleben wollte, holte sie aus B erst ganz kurz vor ihrem Weiterzug nach O zu sich.
3. Die (objektiven) Umstände, unter denen Frau S. bei ihren Verwandten in H knapp einen Monat lang wohnte und unter denen am Ende dieser Zeit sie und ihr Sohn für wenige Tage dort gemeinsam lebten, waren von Anfang an beschränkt und ungesichert.
4. Dementsprechend wenig fest bestimmt waren ihre Absichten für ihren (kurzen) Aufenthalt in H.
Zwar hatte Frau S. anfangs, nach ihrer "Flucht" von B nach H wohl die Hoffnung und vielleicht auch die Zusage ihrer Verwandten, dort länger wohnen zu können; angeblich dachte sie anfangs an die Suche einer eigenen Wohnung und einer Arbeitsstelle dort. Doch waren die Lebenssituation der Klägerin und die Wohnverhältnisse bei den Verwandten für ein längeres Verweilen offenbar zu wenig gesichert: Schon die Erkrankung der Kinder der Verwandten und die deshalb zu engen Wohnverhältnisse dort veranlassten Frau S., unmittelbar nach Eintreffen ihres Sohnes in H zusammen mit ihm nach O weiterzuziehen. Danach ist es nicht mehr entscheidend, ob die Erkrankung der Kinder der Verwandten vorhersehbar war oder nicht. Schon der baldige Weiterzug von H nach O macht deutlich, dass die objektiven Verhältnisse in H ein längeres Verweilen für Frau S. -- zuletzt zusammen mit ihrem Sohn -- dort nicht ermöglichten. Erst in O gelang es ihr (noch im Monat ihres Umzugs dorthin), eine Wohnung für sich und ihren Sohn zu finden und in der Folge dort "Fuß zu fassen". Im Hinblick auf diese aus den Akten feststellbaren objektiven Umstände misst der Senat den uneinheitlichen, mündlichen und schriftlichen Erklärungen der Hilfesuchenden zu ihren angeblichen Absichten, die sich zum Teil widersprechen, geringeres Gewicht bei, zumal ein Teil dieser Erklärungen lange Zeit nach den vorstehend gewürdigten Ereignissen abgegeben wurden. Für die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits kommt es nicht darauf an, ob diese uneinheitlichen Erklärungen der Frau S. mit Erinnerungslücken infolge Zeitablaufs zu erklären sind oder ob sie nur den mehrfachen Wechsel der Hoffnungen und Absichten der Hilfesuchenden deutlich machen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2, 188 Satz 2 VwGO, diejenige über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
Gründe für die Zulassung der Revision (§ 132 Abs. 2 VwGO) sind nicht gegeben.