Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 04.02.2005, Az.: 11 LA 17/05

Antrag auf Zulassung der Berufung; Erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit als asylrechtlicher Prognosemaßstab; Begriff der konkreten Gefahr; Problem der Ehrenmorde von jungen türkischen Frauen in der Türkei im Rahmen asylrechtlicher Erwägungen

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
04.02.2005
Aktenzeichen
11 LA 17/05
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2005, 28898
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2005:0204.11LA17.05.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Braunschweig - 06.12.2004 - AZ: 5 A 298/04

Fundstellen

  • AUAS 2005, 106-108
  • NVwZ-RR 2005, 508-509 (amtl. Leitsatz)

In der Verwaltungsrechtssache
hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht - 11. Senat -
am 4. Februar 2005
beschlossen:

Tenor:

Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Braunschweig - 5. Kammer - vom 6. Dezember 2004 wird abgelehnt.

Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungszulassungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

1

Der allein auf § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG gestützte Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das angefochtene Urteil bleibt erfolglos.

2

Die am 14. März 1982 geborene und im Juli 2004 nach Deutschland eingereiste Klägerin möchte grundsätzlich geklärt wissen,

"ob allein stehende junge kurdische Frauen aus dem Südosten im Westen der Türkei vor einem drohenden "Ehrenmord" durch Familienangehörige wegen einer verweigerten Zwangsheirat sicher wären."

3

Für die Beantwortung dieser Frage bedarf es jedoch nicht der Durchführung eines Berufungsverfahrens. Sie zielt darauf ab, ob zu Gunsten der Klägerin - was vom Verwaltungsgericht verneint worden ist - ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG (nunmehr § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG) vorliegt. Dies setzt voraus, dass für den Ausländer bei Rückkehr in seinen Heimatstaat eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Es muss sich um ein ernsthaftes Risiko handeln, das nach dem asylrechtlichen Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu beurteilen ist (vgl. etwa BVerwG, Urt. v. 17.10.1995, BVerwGE 99, 234 [BVerwG 25.09.1995 - 6 P 44/93]; Beschl. v. 27.04.2000, NVwZ-Beilage 2000, 98). Das Merkmal "konkrete Gefahr" besagt, dass es auf eine individuell bestimmte Gefährdungssituation ankommt, die außerdem landesweit gegeben sein muss. Dazu kann auch die Gefahr der Ermordung oder schwer wiegenden Misshandlung etwa durch Familienangehörige gehören (vgl. Hailbronner, AuslR, § 53 AuslG RdNr. 83; VG Münster, Beschl. v. 05.03.1999, InfAuslR 1999, 307 zum Fall einer Todesgefahr wegen Heiratsverweigerung in Syrien). Die Feststellung eines derartigen Abschiebungshindernisses bzw. Abschiebungsverbots hängt von einer Gesamtbeurteilung der allgemeinen Lage im jeweiligen Heimatstaat und der persönlichen Situation des einzelnen Ausländers ab (vgl. Hailbronner, a.a.O., § 53 AuslG RdNr. 83 a mit Nachweisen aus der Rechtsprechung).

4

In tatsächlicher Hinsicht ist - soweit das möglich ist - die von der Klägerin angesprochene Frage der sog. "Ehrenmorde" in der Türkei geklärt. Das Auswärtige Amt hat dazu in seinem letzten Lagebericht vom 19. Mai 2004 (S. 41) Folgendes ausgeführt:

"Hauptsächlich im Südosten - aber nicht nur dort - kommt es zu sog. "Ehrenmorden", d.h. der Ermordung von Frauen oder Mädchen, die "schamlosen Verhaltens" verdächtigt werden, was nach Berichten über solche Fälle u.a. auch gegenüber vergewaltigten Frauen geschieht. Oft sind die Täter minderjährige Angehörige der eigenen Familie, die mit beträchtlichen Strafmilderungen oder sogar Straflosigkeit bei Unterschreiten der Altersgrenze rechnen konnten und de lege lata noch können. Besonderes Aufsehen erregte der Fall eines Ende Februar 2004 in Istanbul verübten Ehrenmordes, als eine junge kurdischstämmige Frau (nach Entbindung ihres nicht ehelichen Kindes) von ihren minderjährigen Brüdern in einem Krankenhaus getötet wurde. Sie war nach einem ersten Mordversuch an ihr mit Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert worden, wo sie ihren minderjährigen Brüdern, die auf Anweisung des "Ältestenrats der Familie", der ein Todesurteil gegen die Frau zur "Wiederherstellung der befleckten Familienehre" aussprach, nicht entkommen konnte. Ministerpräsident Erdogan sprach von einer "Schande, die auf der Türkei lastet". Der Fall rückte den Fortbestand archaischer Praktiken im eigenen Land wieder deutlich ins Bewusstsein. Bisher ist es nicht gelungen, "Ehrenmorde" statistisch zuverlässig zu erfassen.

Mit dem Reformpaket vom 19.06.2003 wurde die allgemeine Strafminderungsmöglichkeit nach Art. 462 für Verbrechen, die zum Schutz der Familienehren begangen wurden, abgeschafft. Die auf "äußerste Provokation" als Strafminderungsmöglichkeit abzielende Vorschrift des Art. 51 tStGB hat noch Bestand, soll aber im Zuge einer umfassenden Strafrechtsreform noch in diesem Jahr abgeschafft werden. Der von der Regierung vorgelegte Reformentwurf soll noch überarbeitet werden, da einige Regelungen auf deutlichen Protest stießen: Entgegen des Gleichbehandlungsgrundsatzes sollen Verbrechen gegen Frauen nicht allein als Verbrechen, sondern auch unter dem Aspekt der Moral und Familienehre behandelt werden. So soll z.B. ein Vergewaltiger straffrei ausgehen, wenn er danach sein Opfer heiratet. Auch wird bei der Strafverfolgung und der Strafandrohung danach differenziert, ob das Opfer Jungfrau war oder nicht. Inzest, sexuelle Belästigung und Vergewaltigung in der Ehe finden bislang im Entwurf keine Berücksichtigung."

5

Weiter gehende oder andere Erkenntnisse enthalten auch nicht die von der Klägerin im Zulassungsverfahren zitierten Berichte in amnesty international-Journal vom Juni 2004 und "Rheinischer Merkur" vom 30.09.2004. Der Senat sieht deshalb grundsätzlichen Klärungsbedarf weder in tatsächlicher noch in rechtlicher Hinsicht.

6

Ob die Einschätzung des Verwaltungsgerichts, dass eine im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG erhebliche konkrete Gefahr, das Opfer einer Ehrentötung in der Westtürkei zu werden, nicht bestehe, weil davon auszugehen sei, dass die betreffenden Strafrechtsänderungen konsequent beachtet würden und eine entsprechende abschreckende Wirkung hätten, und dass es nicht beachtlich wahrscheinlich sei, dass die in Betracht kommenden Familienangehörigen der Klägerin in Erfahrung bringen könnten, wo sie sich in den großen Metropolen der Westtürkei aufhalte, zutreffend ist, was die Klägerin bestreitet, ist eine Frage des Einzelfalls und deshalb keiner grundsätzlichen Klärung zugänglich.

7

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2 VwGO, 83 b AsylVfG.

8

Dieser Beschluss ist unanfechtbar.

Dr. Heidelmann
Kurbjuhn
Vogel