Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 27.04.2005, Az.: 1 A 386/03

Abschiebestopp; Abschiebung; Abschiebungshindernis; Abschiebungsschutz; Afghanistan; Asyl; beachtliche Wahrscheinlichkeit; Ehrenmord; Flüchtling; Heiratsverweigerung

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
27.04.2005
Aktenzeichen
1 A 386/03
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2005, 50886
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Auch § 60 Abs. 1 AufenthG erfordert eine Bedrohung durch "politische" Verfolgung, so dass die von verfeindeten Verwandten eingeforderte Zwangsehe mit Drohung der Tötung der Familienangehörigen im Falle der Weigerung (sog. Ehrenmorde) keine unter § 60 Abs. 1 AufenthG fallende Verfolgungshandlung aus "politischen" Gründen i. S. d. § 60 Abs. 1 AufenthG ist.

2. Wegen der fortbestehenden Gefährdungslage für alle Kläger in Form von drohenden Ehrenmorden durch verfeindete Familienangehörige ist bei fehlender Schutzbereitschaft und Schutzfähigkeit des afghanischen Staates Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren - trotz eines bestehenden Abschiebestopps in Form eines Erlasses.

Tatbestand:

1

Die Kläger begehren (nunmehr nur noch) die Gewährung von Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG (bisher § 51 Abs. 1 AuslG) und § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG (bisher § 53 AuslG). Zuvor haben sie auch ihre Anerkennung als Asylberechtigte gemäß Art. 16 a Abs. 1 GG beansprucht.

2

Der am ... in Kabul geborene Kläger zu 1. sowie seine Ehefrau, die am ... in Kabul geborene Klägerin zu 2., und ihre drei Töchter (geboren 1991, 1999 sowie 1994 ebenfalls in Kabul) sind afghanische Staatsangehörige tadschikischer Volkszugehörigkeit moslemischen Glaubens. Nach den Angaben des Klägers zu 1. und der Klägerin zu 2. reisten sie am 10. März 2002 auf dem Landweg über unbekannte Drittländer nach Deutschland ein und stellten am 29. April 2002 Asylanträge.

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Der Kläger zu 1. erklärte in seiner Anhörung vor dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge am 6. Mai 2002 sowie zuvor in zwei Anhörungen durch die Ausländerbehörde im Hamburg am 19. März und 23. April 2002 im Wesentlichen Folgendes: Er sei in Afghanistan Arzt gewesen und dort als solcher auch bis zur Machtergreifung durch die Taliban tätig gewesen. Er habe für die kommunistische Regierung gearbeitet. In Kabul seien der jetzige Verteidigungsminister General Fahim sowie der jetzige Innenminister Junus Kanoni seine Nachbarn gewesen. Zudem sei einer seiner Cousins namens a. B. der Stellvertreter von General Fahim. Mit allen drei habe er Probleme gehabt. Weil diese Personen ihn als Kommunisten kennen würden, würden sie ihn umbringen und seine Kinder mitnehmen. General Fahim habe noch vor der Machtergreifung durch die Taliban ungefähr vor sechs Jahren sein Haus haben wollen. Bei dem Haus habe es sich um ein großes Haus in einer guten Gegend gehandelt. General Fahim habe seine Kommandanten dort unterbringen wollen. Er, der Kläger zu 1., habe ihm sein Haus aber nicht verkaufen wollen. Daraufhin habe ihm General Fahim mit Schwierigkeiten gedroht. Viele seiner Nachbarn seien Hindus gewesen, die ebenfalls gezwungen worden seien, ihre Häuser zur Verfügung zu stellen. Er habe sein Haus schließlich zwangsweise verkauft. Aufgrund seiner Weigerung seien er und seine Frau arbeitslos geworden. Er habe im Anschluss daran zwischenzeitlich Medikamente verkauft und gelegentlich arme Patienten oft kostenlos behandelt. Seine Cousins, die mit Fahim und Kanoni in Nordafghanistan gearbeitet hätten, hätten den Ehemann seiner Schwester umgebracht und seine Schwester genommen. Später hätten sie gesagt, das mit seiner Schwester sei vorbei, und einer dieser Cousins, der Stellvertreter von General Fahim, hätte seine älteste Tochter zwangsweise zur Frau haben wollen. Dieser sei ein Mörder und habe schon viele Menschen umgebracht. Sie hätten ihm gedroht, seine Tochter zwangsweise zu entführen. Er sei von seinen Cousins auch zusammengeschlagen worden. Deshalb sei er mit seiner Familie, seinem Vater sowie seiner verwitweten Schwester nach Pakistan gegangen. Er, seine Ehefrau sowie seine drei Töchter seien im Anschluss hieran mit Hilfe eines Schleusers nach Deutschland gekommen. Viele seiner Verwandten lebten inzwischen in Deutschland, zwei seiner Schwestern seien mittlerweile deutsche Staatsangehörige.

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Die Klägerin zu 2. erklärte in ihrer Anhörung vor dem Bundesamt am 6. Mai 2002, dass sie von Beruf Kindergartenlehrerin sei, seit sechs Jahren aber in Afghanistan nicht mehr habe arbeiten dürfen. Sie habe sehr große Angst vor einer Rückkehr nach Afghanistan, vor allem für sich als Frau und wegen ihrer ältesten Tochter.

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Mit Bescheid vom 8. Oktober 2003 - zugestellt am 13. Oktober 2003 - lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge die Asylanträge der Kläger ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG und dass Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht gegeben sind. Zugleich forderte es sie zur Ausreise auf und drohte ihnen die Abschiebung nach Afghanistan an.

6

Daraufhin haben die Kläger am 26. Oktober 2003 Klage erhoben mit dem Ziel ihrer Anerkennung als Asylberechtigte und der Gewährung von Abschiebungsschutz gemäß § 51 Abs. 1 AuslG und § 53 AuslG - jetzt § 60 Abs. 1 bis 7 AufenthG. In der mündlichen Verhandlung am 27. April 2005 haben die Kläger hinsichtlich der Anerkennung als Asylberechtigte ihre Klage zurückgenommen. Zur Begründung ihrer im Übrigen aufrechterhaltenen Klage vertiefen und ergänzen sie ihren bisherigen Vortrag. Sie hätten einen Anspruch auf die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 oder jedenfalls § 60 Abs. 7 AufenthG. Der in Niedersachsen zurzeit bestehende Abschiebestopp aufgrund der Erlasslage stehe dem nicht entgegen. Nach den Erkenntnismitteln würden Auslandsafghanen und Rückkehrer typischerweise Opfer von Menschenrechtsverletzungen, Willkür, Plünderung und Gelderpressung, ohne dass hiergegen wirksam staatlicher oder sonstiger Schutz in Anspruch genommen werden könne. Dieser Personenkreis stelle keine Bevölkerungsgruppe i. S. d. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG dar. Sie hätten in Afghanistan keine Verwandte, Freunde oder Bekannte mehr, die sie unterstützen könnten, und sie besäßen dort auch keine Wohnung oder sonstigen Vermögensgegenstände. In Afghanistan lebten nur noch die Cousins des Klägers zu 1., mit denen sie verfeindet seien und die über erheblichen Einfluss verfügten. Sein Cousin A. B. sei zurzeit General in der afghanischen Armee und persönlicher Sekretär von General Fahim, des vormaligen Verteidigungsministers. Diese würden sie auch massiv daran hindern, ihr von bewaffneten Angehörigen der jetzigen Regierung besetztes Haus in Kabul wieder in Besitz nehmen zu können. Sie müssten im Fall der Rückkehr nach Afghanistan auch damit rechnen, umgebracht zu werden, um ihre Restitutionsansprüche nicht durchsetzen zu können. Die Klägerin zu 3. müsse zudem in konkreter und unmittelbarer Weise mit Entführung und Zwangsverheiratung rechnen. Die Klägerin zu 2. sei im siebten Monat schwanger.

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Die Kläger beantragen,

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die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG und dass Abschiebungshindernisse gemäß § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen, und den Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 8. Oktober 2003 insoweit aufzuheben, als er diesem Begehren entgegensteht.

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Die Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen,

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und verweist zur Begründung auf den angefochtenen Bescheid.

12

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Das Verfahren ist nach § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO nach der hinsichtlich der Anerkennung als Asylberechtigte erklärten Klagerücknahme einzustellen.

14

Im Übrigen hat die Klage aus dem im Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.

15

Die Kläger haben keinen Anspruch auf die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG (dazu 1.). Auch Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2 bis 5 AufenthG liegen nicht vor (dazu 2.). Es besteht aber ein Abschiebungshindernis gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (dazu 3.). Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge ist daher nur hinsichtlich seiner Regelung zu Ziffer 3. teilweise und hinsichtlich seiner Regelung zu Ziffer 4. ebenfalls teilweise rechtswidrig und verletzt die Kläger nur insoweit in ihren Rechten, so dass er nur insoweit aufzuheben ist (§ 113 Abs. 5 Satz 1 i. V. m. Abs. 1 Satz 1 VwGO).

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1. Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG sind nicht gegeben.

17

Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf ein Ausländer in Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge - Genfer Flüchtlingskonvention - nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Das Abschiebungsverbot nach dieser Vorschrift deckt sich in seinen Voraussetzungen im Prinzip mit denen der politischen Verfolgung i. S. d. Art. 16 a Abs. 1 GG; die Vorschrift hat ihre besondere Bedeutung in den Fällen, in denen ein politisch verfolgter Asylsuchender z. B. - wie hier - wegen seiner Einreise aus einem sicheren Drittstaat nicht als Asylberechtigter anerkannt werden kann oder wenn subjektive Nachfluchtgründe vorliegen, die im Rahmen des Art. 16 a Abs. 1 GG unbeachtlich sind. Seit dem Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes zum 1. Januar 2005 kommt hinzu, dass nach § 60 Abs. 1 Satz 3 die geschlechtsspezifische und gemäß § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG nunmehr auch - im Gegensatz zum bisherigen Recht (vgl. hierzu etwa BVerwG, Urt. v. 20.2.2001 - 9 C 20.00 -, NVwZ 2001, 815 m. w. N.) - die nichtstaatliche Verfolgung als flüchtlingsrechtlich relevante Fluchtgründe anerkannt sind.

18

Ein Anspruch auf Gewährung von Asyl nach Art. 16 a Abs. 1 GG und auf Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG besteht, wenn der betroffene Ausländer selbst in eigener Person politische Verfolgung erlitten hat, weil ihm in Anknüpfung an asyl- und abschiebungsschutzerhebliche Merkmale in seinem Heimatstaat gezielt intensive und ihn aus der übergreifenden Friedensordnung des Staates ausgrenzende Rechtsverletzungen zugefügt worden sind, oder ihm solche Rechtsverletzungen unmittelbar gedroht haben. Die Verfolgung ist dann eine politische, wenn sie an die politische Überzeugung, die religiöse Grundentscheidung, die Volkszugehörigkeit oder andere unverfügbare Merkmale des Verfolgten, die sein Anderssein prägen, anknüpft.

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Anspruch auf Gewährung politischen Asyls und auf Abschiebungsschutz besteht ferner nur dann, wenn der Asylsuchende zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung bei einer Rückkehr in sein Heimatland politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten hat (sog. gegenwärtige Verfolgungsbetroffenheit). Dies ist dann der Fall, wenn dem Asylsuchenden aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen eine Rückkehr in sein Heimatland nach Abwägung aller bekannten Umstände nicht zuzumuten ist. Hierfür hat das Gericht eine Prognose über einen in die Zukunft gerichteten absehbaren Zeitraum anzustellen. Einem Asylbewerber, der bereits in seinem Heimatland verfolgt wurde (sog. Vorverfolgung), kann dagegen die Rückkehr in seine Heimat nur dann zugemutet werden, wenn die Gefahr, erneut mit Verfolgungsmaßnahmen überzogen zu werden, mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist. Ihm ist bereits dann politisches Asyl zu gewähren, wenn an seiner Sicherheit vor abermals einsetzender Verfolgung bei Rückkehr in den Heimatstaat ernsthafte Zweifel bestehen. Bei der Prognose über eine drohende Verfolgung im Fall der Rückkehr bereits vorverfolgt ausgereister Asylbewerber ist daher ein herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab anzuwenden.

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Kein Anspruch auf Gewährung politischen Asyls und auf Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG besteht des Weiteren dann, wenn die Verfolgung eines Asylbewerbers in seinem Heimatland nur regional begrenzt stattfindet und es ihm zuzumuten ist, in anderen Teilen Zuflucht zu suchen (sog. inländische Fluchtalternative). Das Vorliegen einer solchen Fluchtalternative kann jedoch nur dann bejaht werden, wenn der Asylsuchende in den in Betracht kommenden Gebieten seines Heimatlandes vor politischer Verfolgung hinreichend sicher ist und ihm auch keine anderen Nachteile oder Gefahren drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen.

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Verfolgungsmaßnahmen, die nicht unmittelbar vom Staat selbst ausgehen, konnten nach der bisherigen Rechtslage als politische Verfolgung angesehen werden, wenn sie dem Staat zuzurechnen waren. Verfolgungshandlungen Dritter waren dem Heimatstaat des Asylsuchenden dann als mittelbare Verfolgung zuzurechnen, wenn er Einzelne oder Gruppen zu Verfolgungsmaßnahmen anregt oder derartige Handlungen unterstützt oder tatenlos hinnimmt und damit den Betroffenen den erforderlichen Schutz versagt. In Erweiterung dieser Grundsätze bestimmt § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c) AufenthG nunmehr, dass eine Verfolgung i. S. d. § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG - neben dem Staat (Buchst. a) sowie Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschen (Buchst. b) - auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen kann, sofern die unter den Buchstaben a) und b) genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn es besteht eine inländische Fluchtalternative.

22

Nach diesen Grundsätzen haben die Kläger nach dem gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung keinen Anspruch auf die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG. Konkrete Anhaltspunkte für eine gegenwärtige abschiebungsschutzrelevante Gefährdungslage wegen einer nach § 60 Abs. 1 AufenthG maßgeblichen abschiebungsschutzrelevanten Verfolgung der Kläger durch afghanische Staatsorgane (§ 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. a) AufenthG, Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschen (§ 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. b) AufenthG) oder gegenwärtige nichtstaatliche Akteure i. S. d. § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c) AufenthG bestehen nicht. Die Feindschaft der Kläger zu den Cousins des Klägers zu 1. rührt nicht aus in § 60 Abs. 1 Satz 1 und Satz 3 AufenthG genannten Gründen her, sondern besteht allein aus Gründen, die in der persönlichen Sphäre des Familienclans und der persönlichen Feindschaft begründet sind. § 60 Abs. 1 AufenthG fordert aber - wie auch bereits zuvor § 51 Abs. 1 AuslG - eine politische Verfolgung. Die Flüchtlingsbegriffe der Genfer Flüchtlingskonvention und des Grundgesetzes sowie früher des § 51 Abs. 1 AuslG waren deckungsgleich, soweit es die Verfolgungshandlung, die geschützten Rechtsgüter und den politischen Charakter der Verfolgung betraf. Die Flüchtlingsbegriffe stimmten auch darin überein, dass insoweit nur politische Verfolgung relevant war (vgl. hierzu GK-AuslG, Kommentar, § 51 Rdnr. 19 m. w. N. und § 53 Rdnr. 233). Die Verfolgungsgründe des § 51 Abs. 1 AuslG und der Art. 1 A Nr. 2, 33 Abs. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention waren identisch (Kanein/Renner, AuslR, Kommentar, 7. Aufl. 1999, § 51 AuslG Rdnr. 4). Auch gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG bedarf es einer - näher definierten - (gerade) politischen Verfolgung. Erweitert hat sich in § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. b und c lediglich der Kreis der relevanten Verfolgergruppen.

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2. Für das Vorliegen von Abschiebungshindernissen gemäß § 60 Abs. 2 bis 5 AufenthG fehlen ebenfalls konkrete Anhaltspunkte.

24

3. Im Fall der Kläger besteht aber in Bezug auf Afghanistan ein individuelles Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.

25

Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Gefahren in diesem Staat, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, werden bei Entscheidungen der obersten Landesbehörde nach § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG berücksichtigt. Hinsichtlich Afghanistan besteht in Niedersachsen zwar ein auf dieser Grundlage ergangener Abschiebestopp (vgl. Runderlass des Nds. Ministeriums für Inneres und Sport v. 27. Dezember 2004). Dieser Abschiebestopperlass steht im Fall des Klägers der Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht entgegen. Denn der Fall der Kläger gehört nicht zum Regelungs- und Anwendungsbereich dieses Erlasses. Hierdurch werden nur allgemeine Gefahren i. S. d. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG erfasst. Um derartige allgemeine Gefahren geht es im Fall der Kläger jedoch nicht. Der Einzelrichter ist aufgrund des Eindruckes, den die Kläger in der mündlichen Verhandlung hinterlassen haben, davon überzeugt, dass ihr Vortrag glaubhaft ist und daher zutrifft. Hiernach trachten die Cousins des Klägers zu 1. den Klägern nach dem Leben, weil diese sich weigern, die inzwischen 14-jährige Klägerin zu 3. mit einem ihrer Cousins zwangsweise zu verheiraten. Dieser Cousin ist General in der afghanischen Armee und überdies persönlicher Sekretär von Fahim. Auch wenn dieser inzwischen nicht mehr afghanischer Verteidigungsminister ist und zurzeit wohl auch nicht die Position eines obersten Befehlshabers der Sicherheitskräfte in Afghanistan innehat, sondern lediglich den Ehrentitel des „höchsten militärischen Würdenträgers des Landes“ ohne Aufgabenbereich (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 2.1.2005) trägt, verfügen er und damit auch die Cousins des Klägers zu 1. zweifellos noch über erheblichen Einfluss. Daher besteht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die erhebliche und konkrete Gefahr, dass die Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan abschiebungsschutzrelevante Verfolgungshandlungen zu gegenwärtigen haben werden. Im Gegensatz zu § 60 Abs. 1 AufenthG muss es sich im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG auch nicht um eine politische Verfolgung handeln. Ausreichend sind auch rein kriminelle Verfolgungshandlungen Dritter oder - wie hier - die erhebliche konkrete Gefahr der Ermordung durch Familienangehörige wegen Heiratsverweigerung - sog. Ehrenmorde (Nds. OVG, Beschl. v. 4.2.2005 - 11 LA 17/05 -). Nach der Erkenntnislage und dem auch insoweit glaubhaften Vortrag der Kläger sind die afghanischen Sicherheitsbehörden aufgrund des derzeit noch im Aufbau befindlichen desolaten Polizei- und Justizwesens aber weder willens noch in der Lage, ihnen einen ausreichenden Schutz gegen diese Gefährdungslage zu gewähren. Angesichts der in Afghanistan herrschenden Sippenhaft unterliegen alle Kläger der dargelegten Gefährdungslage. Überdies besteht mit zunehmendem Alter die Gefahr der zwangsweise durchgesetzten Eheschließung und Entführung auch für die Klägerinnen zu 4. und 5.

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Die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung sind dem Grunde nach rechtmäßig, sie finden ihre Rechtsgrundlage in §§ 34, 38 Abs. 1 AsylVfG, 59 AufenthG (bisher § 50 AuslG). Das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistan steht nach § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG der Abschiebungsandrohung nicht entgegen. Nach § 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG ist die Androhung lediglich dahin zu korrigieren, dass eine Abschiebung nach Afghanistan nicht zulässig ist. Die Rechtmäßigkeit der Androhung im Übrigen bleibt unberührt (§ 59 Abs. 3 Satz 3 AufenthG).

27

Die Kostenentscheidung beruht hinsichtlich der teilweisen Klagerücknahme auf § 155 Abs. 2 VwGO und im Übrigen auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 83 b Abs. 1

28

AsylVfG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 ZPO.