Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 28.02.2005, Az.: 11 LB 121/04

Abschiebungsschutz; Behandlungsmöglichkeit; Bevölkerungsgruppe; erhebliche Gefahr; Krankheit; Posttraumatische Belastungsstörung; psychische Erkrankung; PTBS; schwerwiegende Retraumatisierung; Trauma; Türkei; Verschlimmerung

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
28.02.2005
Aktenzeichen
11 LB 121/04
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2005, 50614
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 25.11.2003 - AZ: 5 A 368/02

Gründe

1

I. Die Klägerin begehrt die Gewährung von Abschiebungsschutz nach (§ 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG a.F. nunmehr) § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.

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Die Klägerin wurde am 3. März 1973 in Pazarcik/Türkei geboren. Sie ist türkische Staatsangehörige kurdischer Volks- und alevitischer Religionszugehörigkeit.

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Sie reiste mit ihrem Ehemann am 13. Dezember 2001 in das Bundesgebiet ein. Beide meldeten sich am 14. Dezember 2001 als Asylbewerber. In der Anhörung vor dem Bundesamt berichtete der Ehemann über die ihm (angeblich) widerfahrene politische Verfolgung in der Türkei. Darüber hinaus trug er vor, sie hätten am 17. April 2001 in Pazarcik geheiratet. Zwei Tage später seien sie zur Wache mitgenommen worden unter dem Vorwurf, bei der Hochzeitsfeier staatsfeindliche Propaganda betrieben und kurdische Lieder gesungen zu haben. Sie seien für die Dauer von fünf oder sechs Stunden festgehalten worden. Die Klägerin gab bei ihrer Befragung an, sie hätten sich bis zum 24. Oktober 2001 in Narli/Maras aufgehalten. Danach seien sie nach Adana zu einer Tante gereist. Am 12. Dezember 2001 seien sie nach Istanbul gefahren und hätten am nächsten Tag die Türkei verlassen. Sie sei nur wegen ihres Ehemannes in das Bundesgebiet gekommen, da ihr Ehemann in der Türkei gesucht worden sei. Weswegen er gesucht werde, wisse sie nicht. Sie habe bereits seit geraumer Zeit psychische Probleme, deswegen sage ihr Ehemann ihr nichts über seine Probleme. 1999/2000 habe sie Guerillakämpfer in ihrem Heimatort mit Essen unterstützt. Im Jahr 2000 hätten dann Gendarme das Haus überfallen und alles durcheinander gebracht. Sie sei mit einem Gewehrkolben auf ihr Nasenbein geschlagen worden. Das Nasenbein sei gebrochen. Die Gendarme hätten sie so zurückgelassen. Nach dem Überfall im Jahre 2000 habe es keine weiteren Probleme mit den Sicherheitskräften gegeben, sie habe aber seit diesem Zeitpunkt psychische Probleme. Zwei Tage nach der Hochzeit sei sie mit ihrem Ehemann zur Wache gebracht worden, weil sie denunziert worden seien. Man habe behauptet, während ihrer Hochzeitsfeier seien Protestparolen gerufen und kurdische Lieder gesungen worden. Für die Dauer von fünf bis sechs Stunden seien sie auf der Wache festgehalten worden. Ihr seien die Augen verbunden worden. Sie habe sich dann entkleiden müssen. Sie wisse nicht, wie viele Personen in dem Raum gewesen seien, sie sei aber von ihnen belästigt worden. Sie sei an mehreren Körperstellen berührt worden. Aufgrund dieses Vorfalls habe sie noch mehr psychische Probleme bekommen.

4

Mit Bescheid vom 21. Januar 2002 lehnte das Bundesamt die Asylbegehren der Klägerin und ihres Ehemannes als offensichtlich unbegründet ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG offensichtlich nicht vorlägen und Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht bestünden.

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Zur Begründung führte das Bundesamt aus: Das Vorbringen des Ehemannes der Klägerin sei derart allgemein, dass nicht von einer erlebten politischen Verfolgung auszugehen sei. Die Festnahme nach ihrer Hochzeitsfeier für mehrere Stunden auf einer Wache läge zudem unterhalb der für die Zuerkennung von Asyl erheblichen Schwelle. Der Überfall auf die Klägerin im Jahre 2000 anlässlich einer Hausdurchsuchung durch Sicherheitskräfte führe ebenfalls nicht zur Gewährung von Abschiebungsschutz. Auch dieser Vortrag sei zum einen zu allgemein gehalten, zum anderen fehle auch ihm die asylerhebliche Intensität. Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG seien nicht geltend bzw. nicht glaubhaft gemacht.

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Daraufhin haben die Klägerin und ihr Ehemann einen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutz gestellt sowie Klage erhoben.

7

Mit Beschluss vom 1. Februar 2002 (5 B 370/02) hat das Verwaltungsgericht den Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes abgelehnt.

8

Ende März 2002 brachte die Klägerin Zwillinge zur Welt.

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Im Rahmen des Klageverfahrens machte die Klägerin unter anderem geltend, sie sei in der Türkei einer schweren frauenspezifischen Verfolgung ausgesetzt gewesen. Sie habe sich schon in der Türkei deswegen in ärztliche Behandlung begeben. Beim Bundesamt habe sie über die erlittenen Misshandlungen nicht reden können. Sie überreichte ein Attest des türkischen Arztes Dr. B. vom 10. Juni 2002. Darin heißt es u.a.:

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„Nach ihrer Anamnese waren nach einem seelischen Trauma die folgenden Erscheinungen im Vordergrund vorhanden: Weinen, Unbehagen, Schlaflosigkeit, Geschlagenheit, Müdigkeit und vor allem Suizidgefahr. ... „

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Darüber hinaus reichte die Klägerin ärztliche Atteste der sie behandelnden Ärzte Dres. med. C. und D. E., F., vom 13. August, 19. November und 17. Dezember 2002 sowie 6. Januar und 16. September 2003 ein. Vom 16. bis zum 26. September 2002 sowie vom 11. bis zum 31. Juli 2003 befand sich die Klägerin im Niedersächsischen Landeskrankenhaus G.. Auf die dort über die Klägerin erstellten ärztlichen Berichte vom 7. Oktober 2002 und 25. August 2003 wird Bezug genommen.

12

Die Klägerin und ihre Familie werden durch Mitarbeiter der Flüchtlingsberatungsstelle des Deutschen Roten Kreuzes H. betreut. Nachdem die Klägerin zur mündlichen Verhandlung am 21. August 2003 geladen worden war, haben Mitarbeiter der Flüchtlingsberatungsstelle sowie des Amtes für Gesundheitswesen der Stadt H. am 13. August 2003 bei der Klägerin einen Hausbesuch vorgenommen. Darüber ist unter dem 14. August 2003 unter anderem festgehalten worden:

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„Die dort vorgefundene Situation legt die extrem schlechte Verfassung der Frau A. offen: Frau A. blieb während des Gesprächs auf Abstand, setzte sich nicht auf ein Sofa, sondern kauerte zusammengekrümmt auf dem Boden, mit dem Rücken zur Schrankwand. Nach einiger Zeit begann sie, stockend, schwer atmend, zitternd und immer wieder weinend, die vom Dolmetscher übersetzten Fragen zu beantworten. Frau A. wurde zugesichert, dass Herr ... sie zu dem Gerichtstermin am 21. August 2003 begleiten wird. Unserer Einschätzung nach ist jedoch zu erwarten, dass Frau A. bis dahin gänzlich „zusammenbricht“.“

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Mit Schriftsatz vom 19. August 2003 nahm der Prozessbevollmächtigte der Klägerin die Klage des Ehemannes zurück und beschränkte den Klagantrag der Klägerin darauf,

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die Beklagte unter Aufhebung der Ziffern 3 und 4 des Bescheides des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 21. Januar 2002 zu verpflichten festzustellen, dass in der Person der Klägerin zu 2) Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG gegeben sind.

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Die Beklagte hat beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Auf mündliche Verhandlung wurde verzichtet.

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Mit Urteil vom 25. November 2003 wies das Verwaltungsgericht die Klage ab. Wegen der Einzelheiten wird auf das angefochtene Urteil verwiesen.

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Dagegen richtet sich die vom Senat mit Beschluss vom 30. April 2004 zugelassene Berufung.

21

Im Berufungsverfahren weist die Klägerin erneut darauf hin, dass sie aufgrund der in der Türkei erlebten Misshandlungen an einer posttraumatischen Belastungsstörung leide.

22

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

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unter Änderung des erstinstanzlichen Urteils nach dem Klagantrag in der 1. Instanz zu entscheiden.

24

Die Beklagte beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

26

Gemäß Beweisbeschluss vom 18. Mai 2004 hat der Senat zu dem Gesundheitszustand der Klägerin und die Folgen für sie bei einer Rückkehr in die Türkei Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens der I. GmbH in J.. Auf das daraufhin erstellte Gutachten vom 19. Juli 2004 (Beiakte D) wird verwiesen.

27

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

28

II. Der Senat entscheidet über die Berufung durch Beschluss gemäß § 130 a VwGO, weil er sie einstimmig für begründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Nach Auswertung der Akten, der darin enthaltenen ärztlichen Stellungnahmen und des eingeholten Gutachtens der I. vom 19. Juli 2004 liegen bei der Klägerin die Voraussetzungen für die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG (nunmehr § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG) vor.

29

Nach § 53 Abs. 6 AuslG (§ 60 Abs. 7 AufenthG) kann/soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Gefahren in diesem Staat, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, werden bei Entscheidungen nach § 54 AuslG (§ 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG) berücksichtigt. Die oberste Landesbehörde kann nach dieser Bestimmung aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland anordnen, dass die Abschiebung von Ausländern aus bestimmten Staaten oder von sonstigen Ausländergruppen allgemein oder in einzelne Zielländer für längstens 6 Monate ausgesetzt wird. Für längere Aussetzungen bedarf es des Einvernehmens mit dem Bundesministerium des Innern (§ 54 Satz 2 AuslG, § 23 Abs. 1 AufenthG).

30

Nach der zu § 53 Abs. 6 AuslG ergangenen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, die entsprechend für die Regelung in § 60 Abs. 7 AufenthG gilt, genügt für die Annahme einer „konkreten Gefahr“ im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG ebenso wenig wie im Asylrecht die bloße theoretische Möglichkeit, Opfer von Eingriffen in Leben, Leib oder Freiheit zu werden. Vielmehr ist der Begriff der „Gefahr“ im Sinne dieser Vorschrift im Ansatz kein anderer als der im asylrechtlichen Prognosemaßstab der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ angelegte, wobei allerdings das Element der „Konkretheit“ der Gefahr für diesen Ausländer das zusätzliche Erfordernis einer einzelfallbezogenen, individuell bestimmten und erheblichen Gefährdungssituation statuiert (BVerwG, Urt. v. 17.10.1995 - 9 C 9.95 - InfAuslR 1996, 149; Beschl. v. 28.3.2001 - 1 B 83.01 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 44 mit dem Zusatz, dass es unerheblich ist, ob eine festgestellte erhebliche konkrete Gefahr im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG nur vorübergehend oder voraussichtlich dauerhaft ist; Beschl. v. 18. 7. 2001 - 1 B 71.01 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 46). Ebenso wie im Asylrecht ist erforderlich, dass die geltend gemachte Gefahr landesweit droht. Eine Aussetzung der Abschiebung nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG kommt mithin dann nicht in Betracht, wenn die geltend gemachte Gefahr nicht landesweit droht und der Ausländer sich ihr durch Ausweichen in sichere Gebiete seines Herkunftslandes entziehen kann (BVerwG, Urt. v. 17.10.1995 a.a.O.; Beschl. v. 10.10.2002 - 1 B 339.02 - = Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 65). Die mögliche Unterstützung durch Angehörige im In- oder Ausland ist in die gerichtliche Prognose, ob bei Rückkehr eine Gefahr im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG besteht, mit einzubeziehen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 1.10.2001 - 1 B 185.01 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 51). Zudem können an Qualität und Dichte der Gesundheitsversorgung im Abschiebungszielland einschließlich Kostenbeteiligung des Betroffenen keine der hiesigen Gesundheitsversorgung entsprechenden Anforderungen gestellt werden (ebenso OVG Nordrh.-W., Beschl. v. 06.09.2004 - 18 B 2661/03 - AuAS 2005, 31).

31

Beruft sich der einzelne Ausländer auf allgemeine Gefahren im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG (§ 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG), kann er Abschiebungsschutz regelmäßig nur im Rahmen eines generellen Abschiebestopps nach § 54 AuslG erhalten. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts dürfen das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge und die Verwaltungsgerichte im Einzelfall Ausländern, die zwar einer gefährdeten Gruppe im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG angehören, für welche aber ein Abschiebestopp nach § 54 AuslG nicht besteht, ausnahmsweise Schutz nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG vor der Durchführung der Abschiebung in verfassungskonformer Handhabung des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG zusprechen, wenn die Abschiebung wegen einer extremen Gefahrenlage im Zielstaat Verfassungsrecht verletzen dürfe. Das ist dann der Fall, wenn der Ausländer gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde (BVerwG, Urt. v. 17.10.1995, a.a. O.; v. 8.12.1998 - 9 C 4.98 -, InfAuslR 1999, 266). Nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 GG, als Ausdruck eines menschenrechtlichen Mindeststandards dem betroffenen Ausländer trotz Fehlens einer Ermessensentscheidung nach § 53 Abs. 6 Satz 2, § 54 AuslG Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG zu gewähren (BVerwG, Urt. v. 12.7.2001 - 1 C 2.01 - InfAuslR 2002, 48). Die Überwindung der Sperrwirkung des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG ist nur dann als geboten und zulässig anzusehen, wenn nicht bereits zielstaatsbezogener Abschiebungsschutz nach anderen Bestimmungen oder nach § 54 AuslG gewährt wird. Dies ergibt sich aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 3 GG) und der daraus folgenden Pflicht zur möglichst weitgehenden Beachtung des gesetzlichen Regelungskonzepts. Nur um verfassungswidrige Schutzlücken zu vermeiden, sind das Bundesamt und die Gerichte befugt, auch bei allgemeinen Gefahren im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG im Einzelfall von sich aus Schutz vor der Durchführung der Abschiebung zu gewähren. Unabhängig davon bleiben die Innenminister des Bundes und der Länder nach objektivem Verfassungsrecht verpflichtet, durch humanitäre Abschiebestopp-Erlasse nach § 54 AuslG oder durch andere Maßnahmen auch solche Ausländer wirksam zu schützen, denen bei einer Abschiebung extreme Allgemeingefahren im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG drohen. Derartige Regelungen hat der Bundesgesetzgeber nach dem Schutzkonzept des Ausländergesetzes auch zur Sicherung einer bundeseinheitlichen Praxis bewusst den ausländerpolitischen Grundsatzentscheidungen der obersten Landesbehörden und des Bundesministeriums des Innern vorbehalten, den unteren Ausländerbehörden, dem Bundesamt und den Verwaltungsgerichten dagegen insoweit keine Entscheidungszuständigkeiten eingeräumt. Wie das Bundesverwaltungsgericht mehrfach betont hat, haben die Verwaltungsgerichte diese Aufgaben- und Verantwortungszuweisung durch den parlamentarischen Gesetzgeber bis zur Grenze des Eintritts verfassungswidriger Verhältnisse - insbesondere durch Unterlassen an sich gebotener Abschiebestopp-Erlasse nach § 54 AuslG bei extremen Gefahrenlagen in einzelnen Abschiebezielstaaten - zu respektieren (BVerwG, Urt. v. 12.7.2001 a.a.O.). Ob sich eine allgemeine Gefahr für einzelne Betroffene zu einer extremen Gefahr verdichtet, ist allgemein nur dann feststellbar, wenn eine wertende Gesamtschau unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls ergibt, dass der einzelne Ausländer im Abschiebezielstaat entweder einer extremen Gefahrenlage für die gesamte Gruppe, der er zugehört, oder einer für ihn aufgrund besonderer Umstände individuell zugespitzten extremen Gefahr an Leib und Leben ausgesetzt wäre (BVerwG, Beschl. v. 8.4.2002 - 1 B 71.02 - Buchholz 402.240 § 53 Nr. 59).

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Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG kann sich auch aus der Krankheit eines Ausländers ergeben. Eine erhebliche Gefahr im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG ist dann gegeben, wenn sich die Krankheit im Heimatstaat verschlimmert, (BVerwG, Urt. v. 29.10.2002 - 1 C 1.02 -, AuAS 2003, 106 = DVBl. 2003, 463). Von einer Verschlimmerung wiederum ist auszugehen, wenn eine wesentliche oder gar lebensbedrohliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes droht (Wolff, Krankheit als zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis, Asylmagazin 2004, S. 16; BVerwG, Urt. v. 25.11.1997 - 9 C 58.96 - InfAuslR 1998, 189 [OVG Nordrhein-Westfalen 16.09.1997 - 25 A 1816/96]). Konkret ist diese Gefahr, wenn sie alsbald nach der Rückkehr in den Heimatstaat drohen würde (BVerwG, Urt. v. 25.11.1997, a.a.O.). Eine von § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG erfasste Gefahrensituation kann sich bei Krankheiten in der Regel daraus ergeben, dass die Behandlungsmöglichkeiten dort unzureichend sind. Dieses ist einmal dann der Fall, wenn eine notwendige ärztliche Behandlung oder Medikation für die betreffende Krankheit in dem Herkunftsstaat wegen des geringeren Versorgungsstandards generell nicht verfügbar ist. Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis kann sich darüber hinaus trotz an sich verfügbarer medikamentöser und ärztlicher Behandlung aber auch aus sonstigen Umständen im Zielstaat ergeben, die dazu führen, dass der betroffene Ausländer diese medizinische Versorgung tatsächlich nicht erlangen kann. Denn eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist (BVerwG, Urt. v. 29.10.2002 - 1 C 1.02 -, a.a.O.). Auch wenn Krankheiten als Abschiebungshindernis geltend gemacht werden, ist zudem zu prüfen, ob es sich um eine allgemeine Gefahr im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG handelt (vgl. z.B. zu der Erkrankung an Aids als einer allgemeinen Gefahr in Togo, VG Karlsruhe, Urt. v. 18.06.2003 - 9 K 10232/03 -; in Ghana, OVG Lüneburg, Beschl. v. 20.03.2003 - 10 LA 30/03 - AuAS 2003, 126; dazu dass ein aus finanziellen Gründen eingeschränkter Zugang zu einer Heilbehandlung eine allgemeine Gefahr darstellen kann BVerwG, Beschl. v. 29.04.2002 - 1 B 59/02 , 1 PKH 10/02 -, Buchholz 402, 240, § 53 AuslG Nr. 60; VGH München, Beschl. v. 10.10.2000 - 25 B 99.32077 - juris; OVG Koblenz, Urt. v. 15.07.2003 - 10 A 10168/03 - NVwZ - Beil. I 2/2004, S. 11).

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Nach diesen Kriterien ist der Klägerin Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG (nunmehr § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG) zu gewähren.

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Nach den Darlegungen im eingeholten Gutachten der I. GmbH vom 19. Juli 2004 steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die Klägerin kurze Zeit nach ihrer Hochzeit von türkischen Sicherheitsbeamten in gravierender Weise sexuell misshandelt worden ist und aufgrund dieser erlittenen Übergriffe an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet.

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Bei der sogenannten posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) handelt es sich um ein komplexes psychisches Krankheitsbild. Gemäß der Festlegung im Standard ICD - 10 F 43.1 (International Classification of Deseases , 10. Fassung 1993) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) entsteht die posttraumatische Belastungsstörung als eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmaßes, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde und mit starker Furcht und Hilflosigkeit einhergeht. Nach fachärztlichen Erfahrungen tritt eine PTBS regelmäßig innerhalb von sechs Monaten nach dem traumatischen Ereignis ein. Typische Kernsymptome einer PTBS sind das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen, sogenannte „Intrusionen“, die so weit gehen können, dass der Körper das schlimme Ereignis noch einmal mit allen Körperreaktionen wie in der Ursprungssituation (Schreien, Körperhaltung) nacherlebt (flashbacks). Aber auch die Vermeidung traumaassoziierter Aktivitäten oder von Situationen, die Erinnerungen an das schreckliche Erleben wachrufen können, zählen ebenso dazu wie ein andauerndes Gefühl des Betäubtseins bzw. emotionaler Stumpfheit oder vegetative Übererregungssymptome, zu denen beispielsweise Schlafstörungen, Angst, erhöhte Reizbarkeit, Schreckhaftigkeit zählen. Die PTBS kann zu einer Beeinträchtigung des Erinnerungs- und Wiedergabevermögens führen, zu Schweigsamkeit aus Scham, Angst vor Erinnerung oder aus anderen Gründen, Apathie und anderes mehr. Je nach individueller Disposition kann die Erkrankung gut behandelbar sein. Aber auch ohne ärztliche Behandlung kann eine Selbstheilung durch Außeneinflüsse wie beispielsweise die Familie einsetzen. Bei wenigen Betroffenen kann die Störung über viele Jahre einen chronischen Verlauf nehmen und je nach Ausmaß der Funktionsstörungen zu einer andauernden Persönlichkeitsveränderung führen (vgl. zum Vorstehenden Middeke, Posttraumatisierte Flüchtlinge im Asyl- und Abschiebungsprozess, DVBl. 2004, 150; Marx, Humanitäres Bleiberecht für posttraumatisierte Bürgerkriegsflüchtlinge aus Bosnien und Herzegowina, InfAuslR 2000, 357 f.).

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Die posttraumatische Belastungsstörung als solche führt für sich genommen noch nicht zur Gewährung von Abschiebungsschutz. Erforderlich ist vielmehr, dass sich die Erkrankung bei Rückkehr ins Heimatland verschlimmert.

37

In der Rechtsprechung wird diskutiert, ob je nach Herkunft der Migranten Traumatisierte einer Bevölkerungsgruppe im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG (§ 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG) angehören können. Dies wird teilweise bei einer bürgerkriegsbedingten Traumatisierung, die eine Vielzahl von Personen betrifft, bejaht (vgl. hierzu OVG Schl.-H., Beschl. v. 06.12.1999 - 9 Q 299/98 -; in diesem Sinne auch OVG Hamburg, Beschl. v. 02.04.2003 - 3 BS 439/02 -, Asylmagazin 2003, S. 33; a.A. OVG Münster, Beschl. v. 19.11.1999 - 19 B 1599/98 -; OVG Saarland, Beschl. v. 20.09.1999 - 9 Q 286/98 -, OVG Rheinld.-Pf., Urt. v. 23.09.2003 - 7 A 10186/03 - Asylmagazin 2004, 33, wonach derjenige, der infolge individueller Kriegserlebnisse traumatisiert ist, nicht Teil einer Bevölkerungsgruppe sein kann). Dieser Frage ist im vorliegenden Verfahren jedoch nicht nachzugehen; denn zureichende Anhaltspunkte, dass in der Türkei eine ganze Bevölkerungsgruppe infolge von Übergriffen staatlicher Sicherheitsbehörden traumatisiert ist, liegen nicht vor.

38

Nach dem Gutachten vom 19. Juli 2004 ist bei Rückführung der Klägerin in die Türkei mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit mit einer schwerwiegenden Retraumatisierung, und daraus folgend mit einer erheblichen Verschlimmerung der posttraumatischen Symptome und der depressiven Symptomatik und daraus folgend mit einer vollständigen Dekompensation der Persönlichkeit der Klägerin zu rechnen.

39

Der Senat hält diese Schlussfolgerung des Gutachtens - trotz der dagegen vom Beklagten vorgebrachten Kritik - für plausibel.

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Dabei verkennt der Senat nicht, dass es durchaus in der Türkei Behandlungsmöglichkeiten für psychisch Erkrankte, auch für an einer posttraumatischen Belastungsstörung Leidende, gibt. So werden für die Behandlung der PTBS in der Türkei die international anerkannten Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-IV angewandt. Zu Behandlungskonzepten zählen - wie auch in West-Europa üblich - unter anderem Psychotherapie ... , Atemtraining, Förderung des positiven Denkens und Selbstgespräche, kognitive Therapie, ... sowie Medikationen wie Antidepressiva und Benzodiazepine. Die Versorgung psychisch kranker Menschen ist im Privatsektor vergleichsweise günstig. So wurden in Istanbul in den letzten Jahren mehrere moderne psychiatrische Krankenhäuser mit einem differenzierten Behandlungsangebot und ambulanter Betreuungsmöglichkeit eingerichtet. Grundsätzlich ist die Situation psychisch Kranker in der Türkei allerdings gekennzeichnet durch eine Dominanz krankenhausorientierter Betreuung bei gleichzeitigem Fehlen differenzierter ambulanter Versorgungsangebote (Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei v. 01.06.2004, Anlage „Medizinische Versorgung psychisch kranker Menschen in der Türkei“).

41

Trotz der grundsätzlich gegebenen Behandlungsmöglichkeiten für psychische Erkrankungen würde die Rückkehr der Klägerin in die Türkei aufgrund der Besonderheit des Falles jedoch für sie eine erhebliche Gefahr darstellen.

42

Die Klägerin ist in einem außergewöhnlich starkem Maße psychisch erkrankt. Schon den im erstinstanzlichen Verfahren vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen und der Stellungnahme des Deutschen Roten Kreuzes ist zu entnehmen, dass die Klägerin an einer ganz gravierenden psychischen Erkrankung leidet. Dies wird nicht nur daran deutlich, dass sie deswegen bereits in der Türkei behandelt worden ist, sondern wird insbesondere deutlich an dem im Tatbestand wiedergegebenen Bericht des Deutschen Roten Kreuzes über einen Hausbesuch unmittelbar im Vorfeld der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht. Die dort geschilderte Verhaltensweise (... kauerte zusammengekrümmt auf dem Boden ...), an deren Wahrheit zu zweifeln der Senat keinen Anlass sieht, macht deutlich, dass die Klägerin trotz ihres zum damaligen Zeitpunkt ca. 1 ½-jährigen Aufenthalts im Bundesgebiet und der hier bereits erfahrenen ärztlichen Hilfestellungen in einem Maße psychisch erkrankt ist, das weit über die dem Senat aus anderen Verfahren - in denen ebenfalls eine psychische Erkrankung geltend gemacht worden ist - bekannten Schilderungen hinausgeht. Die I. kommt in dem eingeholten Gutachten zu dem Ergebnis, dass bei der Klägerin aktuell alle Kriterien für das Vollbild einer PTBS aufgrund der von ihr erlebten körperlichen und sexualisierten Gewalt durch türkische Sicherheitskräfte erfüllt seien. Die Schwere der psychischen Erkrankung der Klägerin wird unter anderem daran deutlich, dass sie weder in der Lage ist, den Haushalt zu führen, noch sich überhaupt angemessen um die von ihr Ende März 2002 geborenen Zwillinge zu kümmern. Diese Pflichten übernimmt - unterstützt durch das örtliche Deutsche Rote Kreuz - ihr Ehemann.

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Zum Grad der psychischen Erkrankung hält das vom Senat eingeholte Gutachten unter anderem fest:

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„Die akustischen pseudohalluzinatorischen intrusiven Erinnerungen, die Frau A. und ihr Mann als Zustand einer Depression bezeichnen, gehen bei der Begutachteten über in eine dissoziative Flashback-Episode, bei der die Begutachtete im Sinne des Drehbühnenmodells (Fischer & Riedesser, 1998) in den Trauma-State eintritt, ihr aufgrund dessen keine Verzeitlichung zur Gegenwart mehr möglich ist. Die Begutachtete durchlebt während der nahezu tagtäglich mehrmals auftretenden Flashback-Episoden die belastende Erinnerung, die in der Vergangenheit stattgefunden hat, so als würde sie in jenem Moment wirklich ablaufen.

45

Während eines solchen Flashbacks verliert die Begutachtete jegliche Kontrolle über sich, ist angespannt, unruhig, zerrt und reißt sich an den Haaren (so wie die Soldaten es bei ihr im Jahre 2001 gemacht haben) und versucht sich gegen die Wand zu werfen, wobei ihr Mann dies zu verhindern versucht.

46

Die dissoziativen Flashback-Episoden treten bei der Begutachteten lediglich im Zusammenhang bzw. in einem Vorausgehen von akustischen Intrusionen auf.

47

Bei der Begutachteten ist weiterhin eine Amnesie für die Wieder-Erinnerung an das belastende Ereignis festzustellen. Für den Zeitraum der dissoziativen Flash-Back-Episode ist die Begutachtete amnestisch. Sie kann lediglich angeben, wie eine solche beginnt, dass sie die Stimmen der Soldaten hört und daraufhin sehr angespannt ist, was daraufhin passiert, entzieht sich der Wahrnehmung der Begutachteten. Die Begutachtete kann lediglich angeben, dass sie nach Beendigung einer solchen dissoziativen Flash-Back-Episode verkrampft ist, einen Büschel Haare in den Händen hält, die sie sich ausgerissen hat, sowie starke Schmerzen an der Kopfhaut hat.

48

Durch die aktuell massiv ausgeprägt auftretenden dissoziativen Erlebnisweisen in Form von dissoziativen Flashbacks, die sich der Kontrolle und insbesondere des Wissens (Amnesie für den Zeitraum einer solchen Episode) von Frau A. entziehen, wird die Ohnmacht und Erstarrung (Frozen-State; „Ich bin angespannt. Ich kann mich nicht bewegen. Ich trete dann völlig weg.“) der traumatischen Situation tagtäglich aufs Neue durchlebt, was ihr eine Distanzierung zum durchlebten Geschehenen unmöglich macht. Des Weiteren führt der unmögliche innere Kampf der Begutachteten gegen diese Zustände zu ausgeprägten Erschöpfungszuständen.

...

49

Des Weiteren zeigen sich bei ihr starke Erschöpfungszustände, Kraftlosigkeit und Müdigkeit, was mitunter auch in den unkontrollierbar hereinbrechenden dissoziativen Flashback-Episoden und der mangelnden Kontrollierbarkeit der Begutachteten darüber, zugrunde liegt.

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Die Kraftlosigkeit und Erschöpfung der Begutachteten haben mitunter im Weiteren Verlauf zu Interesselosigkeit, Antriebslosigkeit, einer starken Hoffnungslosigkeit, Resignation und einem ausgeprägt geschwächten Lebenswillen geführt.

51

Es zeigt sich eine erhebliche Einschränkung in sämtlichen Funktionsbereichen bei der Begutachteten. Die Begutachtete ist teilweise nicht mehr in der Lage ihre eigenen Grundbedürfnisse zu versorgen.“ (Gutachten S. 37, 41).

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Die Einschätzung der I.: „Bei einer Rückkehr in die Türkei (sei) aufgrund der Nähe zum „Ort des Geschehens“ und der damit verbundenen großen Anzahl traumaspezifischer Trigger mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit mit einer schwerwiegenden Retraumatisierung zu rechnen“, ist nachvollziehbar. Die Befragung der Klägerin durch den beauftragten Gutachter hat deutlich gemacht, dass die Klägerin ihren Tag damit verbringt, vor dem Fernseher zu sitzen. Kontakte habe sie keine. Ihr Mann sei den ganzen Tag bei ihr und kümmere sich um sie und die Kinder. Tagsüber schlafe sie viel. Wenn schönes Wetter sei, gehe sie mal nach draußen, sie habe jedoch draußen immer Angst, dass sie Polizisten begegne und schaue sich permanent in alle Richtungen um. Ihr Mann versuche sie zu beruhigen. Im Vergleich zur Türkei habe sie auch etwas weniger Angst, hier habe sie längere Phasen, in denen es etwas besser gehe und sie ruhiger sei; sie habe immer wieder diese Stimmen im Ohr. Tagsüber drifte sie manchmal weg, sie höre Stimmen in ihrem Kopf, die sie nicht abstellen könne, sie habe die ganze Zeit die Stimmen der Soldaten, die ihr das angetan hätten, im Kopf, sie könne die Stimmen einfach nicht auslöschen. Der im Rahmen der Begutachtung ebenfalls angehörte Ehemann der Klägerin hat bestätigt, dass seine Frau immer angespannt und nervös sei, wenn sie zusammen nach draußen gingen. Alleine gehe sie nie. Sie schaue sich dauernd um. Er beruhige sie dann und sage ihr, dass niemand ihr etwas antun könne. Die Kinder würden kaum Nähe von der Mutter bekommen. Dies sei schon seit der Geburt so.

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Wenn sich die Klägerin aber schon in Deutschland von den Stimmen der sie misshandelnden türkischen Sicherheitskräften nicht lösen kann und schon bei uniformierten Personen in Deutschland in Panik gerät und bei diesen Anlässen die traumatischen Erlebnisse sie immer wieder neu überrollen, ist diese Gefahr aufgrund der aus dem Gutachten ersichtlichen besonderen psychischen Situation der Klägerin um ein Vielfaches stärker vorhanden, wenn sie zurück in die Türkei gehen müsste, und zwar unabhängig davon, ob sie sich unmittelbar am eigentlichen „Ort des Geschehens“ aufhalten oder sich in anderen Gebieten der Türkei, beispielsweise im Westen niederlassen würde. Allein das Bewusstsein, wieder in dem Land zu sein, in dem die Übergriffe gegen sie stattgefunden haben, würde die Klägerin extrem belasten. Dass allein der Begriff „Türkei“ bei der Klägerin die ohnehin vorhandenen Ängste erheblich verstärkt, wird schon daran deutlich, dass sie „kein türkisches Fernsehen sehen (will)“, „das macht mir Angst“ (Gutachten S. 49). Auch die Gefahr, uniformierte Personen zu sehen ist in der (gesamten) Türkei höher zu veranschlagen als im Bundesgebiet. Der Senat teilt daher die Einschätzung im Gutachten, dass es bei Rückkehr in die Türkei eine große Anzahl traumaspezifischer Trigger (= Auslöser für Flashbacks, also das Wiederdurchleben der Situation, das sich fühlen, als ob man noch einmal in der Situation wäre - vgl. Gutachten S. 57) geben würde. Dass sich diese Trigger bei Rückkehr in die Türkei - egal an welchen Ort - aufgrund der Schwere der Erkrankung der Klägerin gegenüber ihrem Vorhandensein im Bundesgebiet noch steigern würden, liegt auf der Hand. Daraus leitet sich aber wiederum die hohe Gefahr einer schwerwiegenden Retraumatisierung mit einer erheblichen Verschlimmerung der posttraumatischen Symptome gegenüber dem jetzigen ohnehin schon sehr angegriffenen Gesundheitszustand der Klägerin ab. Wenn überhaupt besteht nach Einschätzung des Senats in diesem besonderen Einzelfall lediglich außerhalb der Türkei für die Klägerin die Möglichkeit, nach langjähriger Behandlung eventuell ihren psychischen Zustand zu stabilisieren. Zureichende Anhaltspunkte, dass die Klägerin zu einer derartigen Behandlung nicht bereit ist, liegen nicht vor.

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Die im Gutachten für den Fall der Rückkehr befürchtete vollständige Dekompensation der Persönlichkeit der Klägerin ist zudem nicht nur vor dem Hintergrund der bei Rückkehr in die Türkei verstärkt auftretenden Trigger nachvollziehbar. Für eine solche Dekompensation spricht auch ganz wesentlich, dass sich die Klägerin - wie sich ebenfalls aus den vom Senat eingeholten Gutachten ergibt - aufgrund der ihr widerfahrenen Übergriffe insgesamt vor der türkischen Gesellschaft schämt (Gutachten S. 27, 49: „Ich möchte nicht zurück in die Türkei.“ ... „Das, was ich erlebt habe, ist nicht gut, ich schäme mich vor anderen. Ich schäme mich vor der Gesellschaft.“ ...). Diese kulturell bedingte Scham hat dazu geführt, dass die Klägerin - obgleich sie mittlerweile schon länger im Bundesgebiet lebt - über das ihr widerfahrene Schicksal bislang weder offen mit ihrem Ehemann noch mit anderen Familienmitgliedern sprechen konnte, weil sie aufgrund der türkischen Kulturvorstellungen einen Verlust der Ehre ihres Ehemannes sowie ein Ausgestoßenwerden aus dem Familienkreis befürchtet. Diese schon im Bundesgebiet gegenüber ihren türkischen Familienmitgliedern gehegte Furcht wird sich aber in erheblichem Maße verstärken, wenn die Klägerin in die Türkei zurück müsste, da sie dort - und dieses gilt auch für eine eventuelle Therapie in der Türkei - im Wesentlichen von Personen ihres Kulturkreises umgeben wäre. Die Klägerin, die bereits im Bundesgebiet kaum aus dem Haus geht, weil sie befürchtet, andere würden ihr ansehen, was ihr passiert sei (Gutachten S. 49), würde nach Einschätzung des Senats bei einer Rückkehr in die Türkei völlig vereinsamen. Zwar geht der Senat davon aus, dass weitere Familienmitglieder in der Türkei leben, diese könnten ihr jedoch aufgrund des dortigen Verständnisses und der dortigen Einstufung der von der Klägerin erlittenen Übergriffe keine adäquate Hilfe leisten. Im Bundesgebiet stehen die Klägerin und ihr Ehemann - wenn sie auch keinen Kontakt zu Nachbarn haben - so doch im Gespräch mit dem örtlichen Flüchtlingswerk des Deutschen Roten Kreuzes. Zudem ist davon auszugehen, dass die Klägerin sich gegenüber deutschen Beratungsstellen eher öffnen wird, wie auch das vorliegende Gutachten zeigt. Schließlich ist den Akten und dem Gutachten nachvollziehbar zu entnehmen, dass die Erlebnisse der Klägerin, die schon im Bundesgebiet immer wieder auftretenden Erinnerungen daran und das damit verbundene ständige erneute Durchleben der Übergriffe bei ihr zu einer Kraftlosigkeit und Erschöpfung in sämtlichen Funktionen geführt haben, so dass sie teilweise nicht mehr in der Lage ist, ihre eigenen Grundbedürfnis zu versorgen und sich auch nicht um ihre mittlerweile ca. drei Jahre alten Zwillinge (geb. März 2002) kümmern kann. Ihr türkischer Ehemann übernahm und übernimmt die gesamte Versorgung des Haushalts einschließlich der der Zwillinge. Auch insoweit wird die Familie durch das örtliche Flüchtlingswerk unterstützt. Auch dieses Rollenverständnis würde bei einer Rückkehr in die Türkei aufgrund der dort herrschenden Anschauungen jedoch nicht in gleichem Maße aufrecht zu erhalten sein, so dass sich auch insoweit die Situation der Klägerin in erheblichem Maße verschlechtern würde.

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Bei zusammenfassender Auswertung der in den Akten befindlichen Unterlagen und des vom Senat eingeholten Gutachtens hält es der Senat für nahezu sicher, dass die Klägerin sich bei Rückkehr in die Türkei in kurzer Zeit völlig aufgeben würde. Damit liegt aber eine konkrete erhebliche, letztlich sogar eine extreme Gefahrenlage vor.

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Die vom Beklagten zitierte Entscheidung des OVG Münster vom 24. November 2003 - 15 A 4374/95 - juris) führt zu keinem anderen Ergebnis. Dieses hat darin ausgeführt, die mit einer posttraumatischen Belastungsstörung verbundenen psychischen Folgen, z.B. Traurigkeit, Pessimismus, Interesse-, Lust- und Freudlosigkeit sowie Antriebsarmut, stellten noch keine den Leib oder das Leben konkret bedrohende Gefahren dar. Erforderlich sei vielmehr die Feststellung weiterer gefahrbegründender Umstände. Derartige weitere Umstände liegen jedoch - wie dargelegt - im vorliegenden Fall vor. Die psychische Erkrankung der Klägerin geht weit über die vom OVG Münster aufgezählten Symptome hinaus. Die Klägerin ist nicht nur antriebsarm oder traurig und pessimistisch; sondern sie befindet sich in einem Zustand, dass sie das von ihr in der Türkei Erlebte dauernd wieder erlebt, ohne sich dagegen wehren oder abgrenzen zu können. Ihr innerer Kampf gegen das Wiedererleben der traumatischen Situation hat bei ihr zu einem Erschöpfungszustand im höchsten Grade geführt, der sich nahezu in einer absoluten Teilnahmslosigkeit gegenüber Haushalt und den Bedürfnissen ihrer Zwillinge äußert. Die im Gutachten nach Auffassung des Senats zu Recht befürchtete Dekompensation der Klägerin bei Rückkehr in die Türkei geht mithin deutlich über die im o.a. Beschluss des OVG Münster genannten typischen Erscheinungsformen einer PTBS hinaus.

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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

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Die Entscheidung über die Gerichtskostenfreiheit beruht auf § 83 b AsylVfG.

59

Die Revision war nicht zuzulassen, weil keiner der Gründe des § 132 Abs. 2 VwGO gegeben ist.