Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 30.05.2023, Az.: 1 LA 80/22

Einfügen; Hinterlandbebauung; unbeplanter Innenbereich; Rahmenüberschreitung; Rückwärtige Bebauung; Vorbildwirkung; Erstmalige Hinterlandbebauung im unbeplanten Innenbereich

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
30.05.2023
Aktenzeichen
1 LA 80/22
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2023, 21278
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2023:0530.1LA80.22.00

Verfahrensgang

vorgehend
VG Osnabrück - 17.06.2022 - AZ: 2 A 76/21

Fundstellen

  • BauR 2023, 1484-1486
  • DÖV 2023, 730
  • NordÖR 2023, 444

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Ein Vorhaben im unbeplanten Innenbereich, das in der näheren Umgebung kein Vorbild hat, löst bereits für sich genommen seine Zulässigkeit ausschließende bodenrechtliche Spannungen aus, wenn es für seine Nachbargrundstücke Nachteile mit sich bringt, die, würde seine Zulässigkeit im Wege der Bauleitplanung begründet, die Schwelle der Abwägungsrelevanz überschritten.

  2. 2.

    Bodenrechtliche Spannungen infolge einer Vorbildwirkung bewirkt ein Vorhaben dann, wenn es vergleichbare Bauwünsche auf weiteren in der näheren Umgebung gelegenen Grundstücken zu fördern geeignet ist und die Auswirkungen dieser Vorhaben in ihrer Gesamtheit die Schwelle zur Planungsrelevanz überschreiten würden. Daran fehlt es (nur) dann, wenn sich die Rahmenüberschreitung durch eine Besonderheit rechtfertigen lässt, durch die sich das Baugrundstück von seinen Nachbargrundstücken unterscheidet.

Tenor:

Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Osnabrück - 2. Kammer (Einzelrichter) - vom 17. Juni 2022 wird abgelehnt.

Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.

Der Wert des Streitgegenstandes für das Zulassungsverfahren wird auf 25.000 EUR festgesetzt.

Gründe

I.

Die Klägerin begehrt einen bauplanungsrechtlichen Vorbescheid für eine Blockinnenbebauung; die Beteiligten streiten, ob sich diese in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt.

Die Klägerin ist Eigentümerin eines etwa 25 x 25 m großen, bislang unbebauten Grundstücks, das etwa in der Mitte eines von Einfamilienhäusern gesäumten, ca. 100 x 150 m großen Straßengevierts liegt. Die vorhandenen Hauptgebäude weisen dort entlang der Nord-, West- und Südseite Bautiefen bis ca. 25 m, zwei Gebäude an der Ostseite des Gevierts (C-Straße ... und ...) Bautiefen von etwa 35 m auf. Hinter dieser Bebauung liegt ein ca. 50 x 50 m großer durch Gartennutzungen geprägter Bereich, der im Wesentlichen aus dem Vorhabengrundstück, dem rückwärtigen Garten des nördlich von diesem gelegenen Hausgrundstücks D-Straße und den rückwärtigen Gartenteilen der Grundstücke C-Straße .... und .... besteht. Die Grundstücke im Osten des Karrees liegen im Geltungsbereich eines Bebauungsplans, das Vorhabengrundstück sowie seine nördlichen, südlichen und westlichen Nachbargrundstücke sind unbeplant.

Unter dem 14. April 2020 beantragte die Klägerin die Erteilung eines bauplanungsrechtlichen Bauvorbescheids zur Errichtung eines eingeschossigen, sattelgedeckten Einfamilienhauses mit seitlich angeordnetem Carport. Diesen Bauantrag lehnte der Beklagte ab.

Die nach erfolglosem Widerspruchsverfahren erhobene Verpflichtungsklage mit dem Hauptantrag, den Bauvorbescheid wie ursprünglich beantragt, und dem Hilfsantrag, ihn mit Ausnahme des Stellplatzes zu erteilen, hat das Verwaltungsgericht abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, das Vorhaben sei planungsrechtlich unzulässig. Das Baugrundstück liege im unbeplanten Innenbereich. Das Vorhaben füge sich hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksfläche nicht in die Eigenart der - auf das obengenannte Straßengeviert beschränkten - näheren Umgebung ein. Es überschreite hinsichtlich der Bautiefe den durch die rückwärtigen Gebäudekanten der vorhandenen Hauptgebäude definierten und damit auf ca. 35 m Tiefe begrenzten Umgebungsrahmen. Eine Hinterlandbebauung ohne Vorbild könne sich zwar gleichwohl einfügen, wenn sie keine bodenrechtlichen Spannungen begründe oder erhöhe. Solche Spannungen würden hier aber begründet. Das Vorhaben führe zu einer nicht unerheblichen Verringerung der Freiflächen im Zentrum des Ruhebereichs, in dem es sich nahezu zentral positioniere. Die Grundstücke seien nicht derart geschnitten, dass für die Nachbarschaft keine oder nur unerhebliche Beeinträchtigungen einträten. Dies gelte schon bei Errichtung nur des Wohnhauses, erst recht bei Hinzutreten des Carports. Hinzu komme, dass das Vorhaben geeignet sei, vergleichbare Bauwünsche zu wecken. Dies gelte zwar nicht für die Grundstücke C-Straße ... und ..., da dort die überbaubare Fläche durch einen Bebauungsplan bestimmt werde. Denkbar sei aber eine Bebauung auf dem hinteren Teil des Grundstücks D-Straße. Dies hätte eine noch stärkere Verdichtung des Blockinnenbereichs zur Folge.

II.

Der dagegen gerichtete, auf den Zulassungsgrund ernstlicher Zweifel (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) gestützte Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.

Ernstliche Zweifel sind dann dargelegt, wenn es dem Rechtsmittelführer gelingt, wenigstens einen tragenden Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit plausiblen Gegenargumenten derart in Frage zu stellen, dass sich dadurch etwas am Entscheidungsergebnis ändern könnte. Überwiegende Erfolgsaussichten sind nicht erforderlich; es genügt, wenn sich diese als offen erweisen. Ist das Urteil selbständig tragend auf mehrere Erwägungen gestützt, so muss jede von diesen mit durchgreifenden Zulassungsgründen angegriffen werden. Das ist der Klägerin nicht gelungen.

1.

Ohne Erfolg macht die Klägerin geltend, eine faktische Baugrenze gebe es im in Rede stehenden Straßengeviert nicht, vielmehr lägen die Wohnhäuser relativ frei im Grundstück. Das Verwaltungsgericht hat ausdrücklich eingeräumt, dass die vorhandene Bebauung ein klares System ihrer Aufstellung nicht erkennen lasse. Eine einheitliche Flucht der rückwärtigen Gebäudekanten ist indes keine Voraussetzung für das Bestehen einer rückwärtigen Baugrenze. Fehlt sie, so markiert, wie das Verwaltungsgericht richtig erkannt hat, das Gebäude mit der größten Bautiefe den Umgebungsrahmen (vgl. zuletzt Senatsurt. v. 1.9.2022 - 1 LB 4/21 -, NVwZ-RR 2023, 174 = juris Rn. 21).

2.

Ernstliche Zweifel bestehen auch nicht an der Annahme des Verwaltungsgerichts, ein Fall, in dem sich das Vorhaben trotz Rahmenüberschreitung in die Eigenart der näheren Umgebung einfügen könne, weil es in dieser keine bodenrechtlichen Spannungen auslöse, liege nicht vor. Dem Verwaltungsgericht ist vielmehr darin zuzustimmen, dass das Vorhaben solche Spannungen sowohl für sich genommen als auch mit Blick auf eine mögliche Vorbildwirkung bewirkt.

a)

Für sich genommen löst ein Vorhaben bodenrechtliche Spannungen aus, wenn es für seine Nachbargrundstücke Nachteile mit sich bringt, die, würde seine Zulässigkeit im Wege der Bauleitplanung begründet, die Schwelle der Abwägungsrelevanz überschritten (vgl. BVerwG, Beschl. v. 25.3.1999 - 4 B 15.99 -, BRS 62, Nr. 101 = juris Rn. 5: "bauplanungsrechtliche Relevanzschwelle"). Diese Schwelle ist niedrig. Soweit die Klägerin mit ihrem Einwand, die Anforderungen an die bodenrechtlich beachtlichen und erst noch ausgleichsbedürftigen Spannungen dürften nicht überzogen werden, höhere Anforderungen - etwa einer Unzumutbarkeit der für die Nachbarn eintretenden Nachteile - aufstellen sollte, wäre ihr nicht zu folgen. Das Bundesverwaltungsgericht hat mehrfach betont, dass im Falle einer Rahmenüberschreitung die Unzulässigkeit des Vorhabens die Regel, die Zulässigkeit die Ausnahme ist (BVerwG, Urt. v. 15.12.1994 - 4 C 13.93 -, DVBl. 1995, 515 = juris Rn. 21; v. 4.7.1980 - BVerwG 4 C 99.77 -, juris Rn. 21 f.). Dass diese Relevanzschwelle hier überschritten würde, durfte das Verwaltungsgericht auch ohne die von der Klägerin für erforderlich gehaltene Ortsbesichtigung annehmen. Gerade der Umstand, dass auch andere Nachbarn des Vorhabengrundstücks durch Freihaltung relativ großer Flächen im Blockinnenbereich von Bebauung - kleine Gartenhäuser ausgenommen - und durch dessen gärtnerische Nutzung zur Schaffung eines weitläufigen, der Erholung vorbehaltenen und nach der Verkehrsauffassung den Wohnwert der umliegenden Häuser steigernden Grünbereichs beitragen (im Falle der im Plangebiet gelegenen Grundstücke evtl.: beitragen müssen), macht ihr Interesse an dessen Erhalt in ungeschmälerter Größe schutzwürdig. Die Grundstücke, auch das Vorhabengrundstück, mögen groß sein; so weitläufig, dass das Vorhaben mit 8,20 m Firsthöhe bei Grenzabständen von ca. 7 m nach Norden und Osten sich darauf gleichsam verlöre und nicht als Unterbrechung der Grünzone wahrgenommen würde, sind sie indessen nicht. Daran ändern auch evtl. vorhandene "grüne Abschirmungen" in Gestalt von Hecken nichts, sofern sie nicht - was nicht dargelegt ist und wofür hier nach den bei google maps verfügbaren Luftbildern nichts spricht - beträchtliche Höhen und Dichten erreichen. Das Interesse der Nachbarn an der Freihaltung des Blockinnenbereichs mag im Rahmen einer hypothetischen Bauleitplanung relativ leicht zu überwinden sein - einen Anspruch auf den "Blick ins Grüne" gibt es insbesondere in der Ortslage nicht. Mit einer Irrelevanz der Beeinträchtigung ist das indes nicht gleichzusetzen.

b)

Dieser Befund wird - wie das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt hat - noch verstärkt durch die von dem Vorhaben ausgehende Vorbildwirkung. Bodenrechtliche Spannungen infolge einer Vorbildwirkung bewirkt ein Vorhaben dann, wenn es vergleichbare Bauwünsche auf weiteren in der näheren Umgebung gelegenen Grundstücken zu fördern geeignet ist und die Auswirkungen dieser Vorhaben in ihrer Gesamtheit die Schwelle zur Planungsrelevanz überschreiten würden. Zutreffend ist, dass dies dann nicht der Fall ist, wenn sich die Rahmenüberschreitung durch irgendeine Besonderheit rechtfertigen ließe, durch die sich das Baugrundstück von den Nachbargrundstücken unterscheidet (vgl. BVerwG, Beschl. v. 25.3.1999 - 4 B 15.99 -, BRS 62, Nr. 101 = juris Rn. 6 m.w.N.). Eine solche Besonderheit hat die Klägerin gegenüber dem vom Verwaltungsgericht als möglichen Standort für ein Nachahmervorhaben benannten Gartenbereich des Grundstücks D-Straße nicht konkret benannt. Sie ist auch nicht erkennbar. Die Größe dieser Freifläche von etwa 20 x 25 m würde auch unter Berücksichtigung der zu Nachbargrundstücken und zum vorhandenen Wohnhaus auf dem Grundstück selbst einzuhaltenden Grenzabstände die Errichtung eines weiteren kleinen Einfamilienhauses erlauben. Das Zulassungsvorbringen, das Grundstück der Klägerin sei das einzige im Blockinnenbereich, das für eine Hinterlandbebauung zur Verfügung stehe, ist damit aus sich heraus nicht nachvollziehbar. Mit einer Bebauung des Gartenbereichs des Grundstücks D-Straße ginge der offene, weitläufige Charakter des Blockinnenbereichs, der freilich bereits durch das Vorhaben an sich in einer die Relevanzschwelle überschreitenden Weise beeinträchtigt würde, im nicht überplanten westlichen Bereich des Straßengevierts endgültig verloren.

Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nrn. 1 a), 3 a) der auf der Internetseite des Gerichts abrufbaren Streitwertannahmen der Bau- und Immissionsschutzsenate für ab dem 1. Juni 2021 eingegangene Verfahren. Anlass, die abweichende Streitwertfestsetzung des Verwaltungsgerichts zu ändern bestand nicht, da die Klage in erster Instanz vor dem genannten Datum eingegangen war.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).