Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 08.05.2023, Az.: 14 PA 40/23
Eingliederungshilfe; Web-Beschulung; Web-Individualschule; Eingliederungshilfe für den Besuch einer sog. Web-Individualschule (hier: Prozesskostenhilfe); Zum Regelungszeitraum eines ablehnenden Bescheides über die Kostenübernahme für eine sog. Web-Individualschule (im Anschluss an NdsOVG, Beschl. v. 26.11.2021 - 10 ME 168/21 -, juris)
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 08.05.2023
- Aktenzeichen
- 14 PA 40/23
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2023, 17417
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2023:0508.14PA40.23.00
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG Stade - 07.03.2023 - AZ: 4 A 975/21
Rechtsgrundlagen
- SGB VIII § 35 a
Tenor:
Die Beschwerde des Klägers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Stade - 4. Kammer - vom 7. März 2023 wird zurückgewiesen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet.
Gründe
Die zulässige Beschwerde des Klägers gegen den Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Klageverfahren versagenden Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 7. März 2023 ist unbegründet.
Nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist einer Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, Prozesskostenhilfe zu gewähren, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Dabei dürfen nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Anforderungen an das Vorliegen einer Erfolgsaussicht nicht überspannt werden, um den Zweck der Prozesskostenhilfe, dem Unbemittelten den weitgehend gleichen Zugang zum Gericht zu ermöglichen, nicht deutlich zu verfehlen (BVerfG, Beschl. v. 13.3.1990 - 2 BvR 94/88 -, juris Rn. 29 m.w.N.).
Da das erstinstanzliche Verfahren, für dessen Durchführung Prozesskostenhilfe begehrt wird, inzwischen durch rechtskräftiges Urteil vom 14. März 2023 abgeschlossen ist, kommt die Bewilligung von Prozesskostenhilfe grundsätzlich nicht mehr in Betracht (vgl. etwa OVG NRW, Beschl. v. 18.2.2003 - 16 E 89/03 -, juris Rn. 2 f.; BayVGH, Beschl. v. 24.1.2008 - 11 C 07.2133 -, juris Rn. 7 m.w.N.). Für eine rückwirkende Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist in einer solchen Konstellation nur Raum, wenn vor Ergehen der den Rechtszug abschließenden Entscheidung des Gerichts bereits alle Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe erfüllt waren und die rückwirkende Bewilligung der Billigkeit entspricht. Der jeweilige Antragsteller muss insbesondere einen ordnungsgemäßen und vollständigen Antrag gestellt haben, was die Vorlage einer vollständigen formularmäßigen Erklärung mit den entsprechenden Belegen nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 117 Abs. 2 Satz 1, Abs. 4 ZPO erfordert (vgl. OVG NRW, Beschl. v. 15.12.2022 - 12 E 698/22 -, juris Rn. 3 f. m.w.N.). Der Senat lässt hier offen, ob die eingereichte Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse, die allein von der Mutter des minderjährigen Klägers und nicht auch von seinem - nach Aktenlage ebenfalls - sorgeberechtigten Vater ausgefüllt und unterschrieben ist und über dessen persönliche und wirtschaftliche Verhältnisse keine belastbaren Angaben enthält, den gesetzlichen Anforderungen angesichts der vom minderjährigen Kläger erhobenen Klage genügen kann (vgl. NdsOVG, Beschl. v. 19.1.2021 - 8 PA 5/21 -, juris Rn. 3 f.; BSG, Beschl. v. 18.11.2021 - B 1 KR 69/21 B -, juris Rn. 3). Ebenfalls bedarf es keiner Entscheidung, ob hier aus Billigkeitsgründen eine rückwirkende Bewilligung von Prozesskostenhilfe überhaupt in Betracht zu ziehen gewesen wäre. Denn jedenfalls scheidet eine Bewilligung von Prozesskostenhilfe aus, weil das Verwaltungsgericht zutreffend davon ausgegangen ist, dass die Klage keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bot.
I. Hinreichende Erfolgsaussichten bestanden nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage zunächst nicht, soweit die Übernahme der Kosten für eine Web-Beschulung im Rahmen der Eingliederungshilfe für das Schuljahr 2021/2022 begehrt wurde.
Zu Recht hat das Verwaltungsgericht zur Begründung seines ablehnenden Beschlusses auf die Ausführungen des zum damaligen Zeitpunkt zuständigen 10. Senats des beschließenden Gerichts im Eilverfahren verwiesen, denen sich der Senat aus eigener Überzeugung anschließt: Die begehrte Eingliederungshilfe in der Form der Web-Beschulung wurde danach zwar dem Hilfebedarf in dem Teilbereich der Bildung gerecht, widersprach aber dem primären Ziel der Eingliederungshilfe der Förderung der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft. Sie stellte zudem im maßgeblichen Zeitpunkt nicht die einzig mögliche Form der Bedarfsdeckung dar (vgl. NdsOVG, Beschl. v. 26.11.2021 - 10 ME 168/21 -, juris Rn. 8).
Ebenfalls zu Recht hat das Verwaltungsgericht den erst nach der zuvor genannten Entscheidung des 10. Senats ergangenen Bescheid des Regionalen Landesamtes für Schule und Bildung vom 9. Dezember 2021 im Rahmen der Entscheidung über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe berücksichtigt, obgleich dieser erst mit anwaltlichem Schriftsatz vom 14. Dezember 2021 - und damit nach dem Zeitpunkt, in dem das Prozesskostenhilfegesuch entscheidungsreif war - vorgelegt worden ist (vgl. HambOVG, Beschl. v. 1.4.2020 - 6 So 168/19 -, BeckRS 2020, 10774 Rn. 3). Auch angesichts dieses Bescheides ist nicht zu beanstanden, dass das Verwaltungsgericht den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt hat. Das Beschwerdevorbringen des Klägers, aus diesem Bescheid ergebe sich, dass er im Regelschulsystem nicht beschulbar sei, und dass die Befreiungsentscheidung sowie ihre Begründung im Rahmen von anderen behördlichen Entscheidungen - wie der streitbefangenen - jedenfalls beachtet werden müssten, rechtfertigt kein anderes Ergebnis. Denn der Bescheid des Landesamtes enthält die vom Kläger bezeichneten Feststellungen bereits nicht. Zwar ist es zutreffend, dass der Kläger für den Zeitraum vom 9. Dezember 2021 bis zum 31. Juli 2022 von der Schulpflicht befreit worden und diese Befreiung zum Zwecke des Besuchs der Web-Individualschule erfolgt ist, um ihn langsam wieder an das Regelschulsystem heranzuführen. Allerdings folgt aus der Begründung des Bescheides vom 9. Dezember 2021, dass das Landesamt davon ausgeht, dass der Antrag "von allen involvierten Stellen unterstützt" werde. Dies ist bereits deshalb unzutreffend, weil die Beklagte den weiteren Besuch der Regelschule befürwortete. In dem Bescheid heißt es überdies, dass der Kläger dann, wenn der Besuch der Web-Individualschule vorzeitig ende, mit sofortiger Wirkung wieder der Schulpflicht unterliege. Vor diesem Hintergrund kann aus dem Bescheid gerade nicht geschlussfolgert werden, dass das Regionale Landesamt für Schule und Bildung den Kläger zum damaligen Zeitpunkt als im Regelschulsystem unbeschulbar erachtet hat. Es ist vielmehr so, dass eine Beschulung im Regelschulsystem als alternative Beschulung von der Behörde offenbar weiterhin für (ebenfalls) möglich erachtet worden ist. Die Argumente des Klägers, dass der Entscheidung des Regionalen Landesamtes für Schule und Bildung im Rahmen weiterer behördlicher Entscheidungen zumindest solange gefolgt werden müsse, wie nicht erhebliche Anhaltspunkte gegen die Richtigkeit dieser Entscheidung sprechen und dies die Einheit der Rechtsordnung gebiete, greifen vor diesem Hintergrund nicht durch.
II. Auch im Hinblick auf die Übernahme der Kosten für eine Web-Beschulung im Rahmen der Eingliederungshilfe für das Schuljahr 2022/2023 fehlt es an hinreichenden Erfolgsaussichten der Klage.
Der streitbefangene Bescheid des Beklagten trifft für das Schuljahr 2022/2023 bereits keine Regelung, so dass auch der von dem Kläger als Stütze für seine Argumentation herangezogene Bescheid des Regionalen Landesamtes für Schule und Bildung vom 25. August 2022, der sich allein auf das Schuljahr 2022/2023 bezieht, nicht erheblich für den Ausgang des Klageverfahrens sein kann. Die erhobene Verpflichtungsklage kann allein insoweit zulässig sein, als der Beklagte über den Antrag des Klägers entschieden hat; im Übrigen ist der Kläger auf das zunächst durchzuführende Verwaltungsverfahren zu verweisen.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, die sich der Senat zu eigen macht, kann ein Hilfeanspruch grundsätzlich nur in dem zeitlichen Umfang in zulässiger Weise zum Gegenstand der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle gemacht werden, in dem der Träger der Jugendhilfe den Hilfefall geregelt hat. Das ist regelmäßig der Zeitraum bis zur letzten Verwaltungsentscheidung. Eine Ausnahme von der Regel, dass Gegenstand der gerichtlichen Nachprüfung nur die Zeit bis zum Erlass des letzten Behördenbescheides ist, gilt aber dann, wenn die Behörde den Hilfefall statt für den dem Bescheid nächstliegenden Zahlungszeitraum für einen längeren Zeitraum geregelt hat. Während eine Dauerbewilligung nicht in Betracht kommt und demgemäß auch Leistungen der Jugendhilfe nicht für alle Zukunft zugesprochen werden können, ist eine Bewilligung für längere Zeitabschnitte nicht ausgeschlossen, sondern im Interesse der Effektivität der Hilfegewährung in besonders gelagerten Fällen unter Umständen sogar angezeigt. Auch der die Ablehnung betreffende Regelungszeitraum braucht nicht ausdrücklich benannt zu sein, sondern kann sich aus dem maßgeblichen Bescheid durch Auslegung ergeben (BVerwG, Beschl. v. 17.6.1996 - BVerwG 5 B 222/95 -, juris Rn. 5 m.w.N. sowie Urt. v. 30.4.1992 - BVerwG 5 C 1/88 -, juris Rn. 11 ff. m.w.N.; OVG LSA, Beschl. v. 17.2.2016 - 4 L 162/14 -, juris Rn. 37). Zwar hat der Beklagte hier eine Hilfegewährung schon dem Grunde nach und damit ohne Aussage zu einem Hilfezeitraum abgelehnt. Der Senat nimmt jedoch - wie das Verwaltungsgericht - an, dass vorliegend allein Leistungen der Eingliederungshilfe für das Schuljahr 2021/2022 abgelehnt worden sind (vgl. VG Stade, Urt. v. 14.3.2023 - -, V.n.b.; auch OVG NRW, Beschl. v. 22.10.2012 - 12 E 1003/12 -, juris Rn. 4; VG Köln, Urt. v. 23.9.2020 - 26 K 756/18 -, juris Rn. 38; VG Ansbach, Urt. v. 22.9.2021 - AN 6 K 18.01194 -, juris Rn. 35). Im konkreten Fall bezieht sich die Ablehnung - ohne dass dies einer ausdrücklichen Klarstellung in dem ablehnenden Bescheid bedurft hätte - auf den Rest des bereits begonnenen Schuljahres (vgl. OVG NRW, Beschl. v. 22.10.2012 - 12 E 1003/12 -, juris Rn. 4; VG Ansbach, Urt. v. 22.9.2021 - AN 6 K 18.01194 -, juris Rn. 35). Nichts Anderes folgt daraus, dass der Kläger in seinem Antrag vom 11. Juni 2021 eine Kostenübernahme für die neunte sowie die zehnte Klasse beantragt hat. Denn von einem zeitlich begrenzten Regelungszeitraum der ablehnenden Bescheide des Beklagten geht offenbar auch der Kläger selbst aus. Nur so ist es zu erklären, dass er, nachdem der Beklagte bereits mit bestandskräftigem Bescheid vom 6. Oktober 2020 seinen Antrag vom 1. Juli 2020 auf Übernahme der Kosten für eine Web-Beschulung im Rahmen der Eingliederungshilfe abgelehnt hatte, am 11. Juni 2021 einen weiteren Antrag auf Kostenübernahme gestellt hat. Dass ein solcher zeitlich begrenzter Regelungszeitraum darüber hinaus auch zweckmäßig ist, zeigt unter anderem der Fall des Klägers: Im Schuljahr 2022/2023 galt es offenbar - wie aus dem Bescheid des Regionalen Landesamtes für Schule und Bildung vom 25. August 2022 hervorgeht - aktuelle Stellungnahmen und Arztbriefe sowie den Psychiatrieaufenthalt des Klägers als neue Tatsache zu berücksichtigen. Dieses Verständnis des Bescheides ist nicht zuletzt auch im Sinne des Klägers, da es in dessen Interesse liegen dürfte, derartige Veränderungen im Rahmen eines neuen Antrags einbringen zu können.
Ohne dass es für den Ausgang dieses Verfahrens maßgeblich wäre, sieht sich der Senat angesichts der divergierenden Positionen des Beklagten und des Regionalen Landesamtes für Schule und Bildung sowie des erheblichen Zeitraums, in dem der Kläger offenbar nicht beschult worden ist, zu folgendem Hinweis veranlasst: Vor dem Hintergrund des Bescheides des Regionalen Landesamtes für Schule und Bildung vom 25. August 2022 und der dort in Bezug genommenen, dem Senat nicht vorliegenden Unterlagen hätte der Beklagte - nach Stellung eines entsprechenden Antrags und sofern die begehrte Hilfeleistung nicht aus sonstigen Gründen ausgeschlossen ist, was der Senat nicht einzuschätzen vermag - erneut zu prüfen, ob für den Kläger nunmehr überhaupt noch eine Möglichkeit besteht, seinen Hilfebedarf im Rahmen des öffentlichen Schulsystems zu decken. Zumindest bezogen auf das noch laufende Schuljahr liegt es nicht völlig fern, dass dem Kläger der Besuch einer öffentlichen Schule aus objektiven Gründen derzeit unmöglich ist und die begehrte Hilfe momentan die einzig mögliche Form der Bedarfsdeckung darstellt (vgl. zum Ganzen BVerwG, Beschl. v. 17.2.2015 - 5 B 61.14 -, juris Rn. 4; zum Verhältnis der Sozialhilfe- und Schulbehörde vgl. BVerwG, Urt. v. 28.4.2005 - 5 C 20/04 -, juris Rn. 11 sowie Urt. v. 16.1.1986 - 5 C 36/84 -, juris Rn. 16; OVG NRW, Beschl. v. 17.12.2021 - 12 A 3275/19 -, juris Rn. 20 ff.; SächsOVG, Urt. v. 23.9.2020 - 3 A 975/19 -, juris Rn. 34 f. sowie Beschl. v. 25.1.2019 - 3 B 208/18 -, juris Rn. 7 m.w.N.; VG Würzburg, Beschl. v. 16.8.2021 - W 3 E 21.985 -, juris Rn. 72 ff.; zum Verhältnis der Jugendhilfe und der Schulbehörde vgl. BVerwG, Urt. v. 18.10.2012 - 5 C 21/11 -, juris Rn. 39 m.w.N.; VG Trier, Urt. v. 24.5.2007 - 6 K 757/06 -, juris Rn. 23; NdsOVG, Beschl. v. 26.11.2021 - 10 ME 168/21 -, juris Rn. 8; vgl. ferner BayVGH, Beschl. v. 18.2.2013 - 12 CE 12.2104 -, juris Rn. 51). Denn aus dem Bescheid vom 25. August 2022 geht hervor, dass die Behörde die Befreiung von der Schulpflicht für das Schuljahr 2022/2023 als "alternativlos" erachtet. Es heißt dort gerade nicht mehr, dass der Kläger dann, wenn der Besuch der Web-Individualschule vorzeitig enden solle, mit sofortiger Wirkung wieder der Schulpflicht unterliege. Zur Begründung wird auf einen Arztbericht des E. vom 19. Mai 2022 bzw. eine ergänzende Stellungnahme der Eltern des Klägers vom 16. Juni 2022 - die dem Senat und offenbar auch dem Beklagten nicht vorliegen - sowie einen seit dem 8. August 2022 andauernden, aber mittlerweile wohl beendeten Psychiatrieaufenthalt des Klägers verwiesen. Ebenfalls dürfte bei der Entscheidung zu berücksichtigen sein, dass der Kläger unter dem 27. Februar 2023 mitteilen ließ, dass trotz alledem "zu Beginn des Schuljahres" ein weiterer erfolgloser Versuch gestartet worden sei, ihn in einer Produktionsschule zu beschulen.
Nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 127 Abs. 4 ZPO werden die Kosten des Beschwerdeverfahrens nicht erstattet.
Gerichtskosten werden gemäß § 188 Satz 2 VwGO nicht erhoben.