Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 30.05.2023, Az.: 8 LA 76/22

Anwesenheit; mündliche Verhandlung; Nichterscheinen; rechtliches Gehör; Überzeugungsgrundsatz; Zur Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs seitens des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge bei unentschuldigtem Nichterscheinen in der mündlichen Verhandlung

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
30.05.2023
Aktenzeichen
8 LA 76/22
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2023, 21092
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2023:0530.8LA76.22.00

Verfahrensgang

vorgehend
VG Hannover - 21.04.2022 - AZ: 6 A 5654/21

Fundstelle

  • AUAS 2023, 151-152

Amtlicher Leitsatz

Ein Beteiligter, der von der Möglichkeit, sich im Rahmen des Zumutbaren rechtliches Gehör zu verschaffen, wozu insbesondere die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht und die Darlegung seines Rechtsstandpunktes im Rahmen der Erörterung des Sach- und Streitstandes gehört, keinen Gebrauch gemacht hat, kann sich im Berufungszulassungsverfahren nicht darauf berufen, das Prozessgrundrecht rechtlichen Gehörs sei verletzt.

Tenor:

Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - Einzelrichter der 6. Kammer - vom 21. April 2022 wird abgelehnt.

Die Beklagte trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Antrag der Beklagten, die Berufung gegen das im Tenor genannte Urteil des Verwaltungsgerichts zuzulassen, mit dem es sie verpflichtet hat, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hat keinen Erfolg.

Der von der Zulassungsantragstellerin geltend gemachte Verfahrensmangel, "... da das rechtliche Gehör gem. § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO in Gestalt des Gebots der rechtsfehlerfreien Überzeugungsbildung gem. § 108 Abs. 1 VwGO verletzt worden (sei)", vermag die Zulassung der Berufung nicht zu rechtfertigen.

Nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO hat das Gericht seiner Überzeugungsbildung das Gesamtergebnis des Verfahrens zu Grunde zu legen. Es darf nicht einzelne von den festgestellten erheblichen Tatsachen oder Beweisergebnissen aus seiner Würdigung ausblenden. Im Übrigen darf es zur Überzeugungsbildung den gesamten vorliegenden Prozessstoff, d.h. das Vorbringen der Beteiligten, den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten sowie sonstige Tatsachen und Beweise frei würdigen. Die Einhaltung der verfahrensrechtlichen Grenzen zulässiger Sachverhalts- und Beweiswürdigung ist deshalb nicht schon dann in Frage gestellt, wenn ein Beteiligter das vorliegende Tatsachenmaterial anders würdigt oder aus ihm andere Schlüsse ziehen will als das Gericht (BVerwG, Beschl. v. 9.10.2020 - 6 B 51/20 -, juris Rn. 13). In einem Verstoß gegen § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann zwar ausnahmsweise ein Verfahrensfehler i.S.d. § 124 Abs. 2 Nr. 5 oder § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO liegen, etwa dann, wenn die tatrichterliche Sachverhalts- oder Beweiswürdigung auf einem Rechtsirrtum beruht, objektiv willkürlich ist oder allgemeine Sachverhalts- und Beweiswürdigungsgrundsätze, insbesondere gesetzliche Beweisregeln, Natur- oder Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze, missachtet (OVG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 29.10.2020 - 4 LA 194/18 -, juris Rn. 6; vgl. auch BVerwG, Beschl. v. 12.3.2014 - 5 B 48.13 - juris Rn. 22 u. v. 29.6.2005 - 1 B 185/04 -, juris Rn. 3). Auch aus einem solchen Verfahrensmangel folgt jedoch - selbst wenn er vorliegt - nicht notwendig zugleich, dass das Verwaltungsgericht einem Beteiligten rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) versagt hat, und damit ein die Zulassung der Berufung nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG rechtfertigender (qualifizierter) Verfahrensmangel gemäß § 138 VwGO vorliegt (vgl. Senat, Beschl. v. 25.8.2014 - 8 LA 60/14 -, juris Rn. 9 m.w.N.; vgl. auch VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 28.7.2020 - A 2 S 873/19 -, juris Rn. 19; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 9.6.2022 - 9 A 1040/22.A -, juris Rn. 9 u. v. 23.4.2020 - 1 A 2023/19.A -, juris Rn. 21). Darüber hinaus entspricht es ständiger Rechtsprechung, dass eine begründete Rüge der Versagung des rechtlichen Gehörs die erfolglose vorherige Ausschöpfung sämtlicher verfahrensrechtlich eröffneten und nach Lage der Dinge tauglichen Möglichkeiten, sich rechtliches Gehör zu verschaffen, voraussetzt (BVerwG, Beschl. v. 31.3.2008 - 9 B 55/07 -, juris Rn. 4 m.w.N.). Dazu gehört insbesondere die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung, die den Beteiligten die Möglichkeit eröffnet, sich dort zu Tatsachen und Rechtsfragen zu äußern und Anträge zu stellen, um auf diese Weise auf die Entscheidungsfindung des Gerichts einzuwirken (vgl. Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 27.9.2021 - 4 LA 171/21 -, juris Rn. 3, 6 m.w.N.), wenn sie zu dieser ordnungsgemäß geladen worden sind (Bayerischer VGH, Beschl. v. 17.3.2020 - 10 ZB 20.21 -, juris Rn. 7). Der in ihr regelmäßig erfolgenden persönlichen Anhörung des Schutzsuchenden kommt eine bedeutsame, häufig zentrale Bedeutung für den weiteren Verlauf und den Ausgang des Verfahrens zu. Inwieweit diese Gelegenheit wahrgenommen wird, ist Sache der Beteiligten. Durch ihre prozessuale Mitverantwortung wird der Anspruch auf rechtliches Gehör begrenzt (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 16.10.2020 - 4 A 710/20.A -, juris Rn. 3).

1. Es ist bereits nicht erkennbar, welches verfahrensrelevante Vorbringen der Beklagten das Verwaltungsgericht in entscheidungserheblicher Weise übergangen haben sollte, so dass der Vorwurf einer Verletzung rechtlichen Gehörs bereits aus diesem Grund ohne Substanz ist. Ihr schriftsätzlicher Vortrag im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht beschränkt sich inhaltlich auf einen Satz, der lediglich eine pauschale Bezugnahme auf "... die angefochtene Entscheidung" enthält, womit der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 16. September 2021 gemeint gewesen sein dürfte. Zu den im gerichtlichen Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorgelegten neuen Beweismitteln, u.a. einer Bescheinigung über Mitgliedschaft und politische Aktivitäten in dem Verein der Iranischen Säkular Demokraten in A-Stadt e.V. (ISDH), einem psychotherapeutischen Befundbericht zu einer posttraumatischen Erkrankung vom 10. März 2022, dem fachärztlichen Attest vom 18. Mai 2021 zu dem Gesundheitszustand der Klägerin sowie der Bescheinigung der evangelisch-lutherischen Garten-Kirchengemeinde, A-Stadt, über ihr Aufnahmeersuchen und das Vorliegen der Taufurkunde vom 19. April 2022, hat die Beklagte nicht Stellung genommen. Ebenso wenig hat sie sich zu den Ergebnissen der in der mündlichen Verhandlung vom 21. April 2022 erfolgten persönlichen Anhörung der Klägerin, in der das Verwaltungsgericht diese zu ihrer Konversion und ihren religiösen Aktivitäten befragt hat, was - ausweislich der Urteilsgründe - für die Einschätzung des Verwaltungsgerichts zur Ernsthaftigkeit der Glaubens- und Gewissensentscheidung von maßgeblicher Bedeutung gewesen ist, geäußert. Soweit dem Vorbringen der Beklagten im Zulassungsverfahren zu entnehmen ist, dass sie die "... Aspekt(e) der 34-seitigen Zweitantragsentscheidung" in den Urteilsgründen des Verwaltungsgerichts nicht hinreichend gewürdigt sieht, ist darauf hinzuweisen, dass die Gerichte durch das Prozessgrundrecht auf rechtliches Gehör nicht verpflichtet sind, sich mit jedem Vorbringen in der Begründung der Entscheidung ausdrücklich zu befassen (BVerfG, Beschl. v. 31.1.2020 - 2 BvR 2592/18 -, juris Rn. 11 u. v. 29.10.2015 - 2 BvR 1493/11 -, juris Rn. 45 m.w.N.). Hinzu kommt, dass die in dem Bescheid ausgeführten Gründe naturgemäß nur die Vorgänge bis zu seinem Erlass am 16. September 2021 reflektieren. Im maßgeblichen gerichtlichen Entscheidungszeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) waren diese zumindest teilweise inhaltlich überholt, jedenfalls nicht mehr hinreichend aktuell.

2. Unabhängig davon kann die Beklagte, die - im Gewand der Gehörsrüge in Wahrheit eine Rüge der inhaltlichen Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts verfolgt, die in § 78 Abs. 3 Nrn. 1 - 3 AsylG durch den Gesetzgeber indes nicht eröffnet worden ist, wie insbesondere der Vergleich zu den Zulassungsgründen im allgemeinen Verwaltungsprozessrecht (s. § 124 Abs. 1 Nrn. 1 und 3 VwGO) verdeutlicht (Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 28.1.2022 - 4 LA 4/22 -, juris Rn. 2; OVG Bremen, Beschl. v. 9.9.2020 - 2 LA 184/20 -, juris Rn. 17) - sich darüber hinaus auch deshalb nicht auf eine Verletzung des Prozessgrundsatzes rechtlichen Gehörs zu ihren Lasten berufen, weil sie aufgrund ihres Nichterscheinens in der mündlichen Verhandlung nicht alles getan hat, um sich rechtzeitig Gehör zu verschaffen. In der mündlichen Verhandlung am 21. April 2022 war ein Vertreter der Beklagten - trotz der ordnungsgemäßen Ladung vom 20. Februar 2022 - nicht erschienen. Eine Terminsverlegung wurde nicht beantragt; das Nichterscheinen im Termin wurde nicht einmal entschuldigt. Die Beklagte hat es versäumt, den von ihr (nunmehr) im Zulassungsantrag vorgetragenen Gesichtspunkt - das Fehlen einer relevanten Änderung der Sach- und Rechtslage, weshalb das aufgrund der Ablehnung ihres Schutzbegehrens in den Niederlanden als Folgeantrag zu bewertende Vorbringen der Klägerin keinen Anspruch auf Flüchtlingsanerkennung im Bundesgebiet begründen könne - gegenüber dem Verwaltungsgericht vorzutragen und ihre rechtliche Bewertung im Lichte der Verfahrensentwicklung und der Anhörung der Klägerin in der mündlichen Verhandlung darzulegen, um auf diese Weise auf die Entscheidung des Gerichts im dafür maßgeblichen Zeitpunkt einzuwirken, wie es ihrer gesetzlichen Aufgabe entsprochen hätte (§ 5 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG). Ein Beteiligter, der - wie hier die Beklagte, vertreten durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - von der Möglichkeit, sich im Rahmen des Zumutbaren rechtliches Gehör zu verschaffen, wozu insbesondere die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung und die Darlegung seines Rechtsstandpunktes im Rahmen der Erörterung des Sach- und Streitstandes gehört, nicht Gebrauch gemacht hat, kann sich später nicht darauf berufen, ihm sei das rechtliche Gehör versagt worden (BVerwG, Beschl. v. 21.12.2009 - 6 B 32.09 -, juris Rn. 3f. m.w.N.; Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 18.6.2015 - 8 LA 86/15 -, juris Rn. 23).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO; Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).