Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 25.05.2023, Az.: 2 ME 32/23

Abschlussprüfung; Anordungsanspruch; Ausbildungsberuf; Ausbildungserfolg; Ausbildungsstand; Ausbildungszeit; Ausbildungsziel; berufliche Handlungsfähigkeit; Darlegung; einstweilige Anordnung; Einzelfallumstände; Fehlzeiten; Geringfügigkeit; Gesetzesvorbehalt; Glaubhaftmachung; Prüfungszulassung; unbestimmter Rechtsbegriff; vorläufige Zulassung; Zahnmedizinische Fachangestellte; Ziel der Berufsausbildung; Zurücklegung; Vorläufige Zulassung zur Abschlussprüfung für den Ausbildungsberuf der Zahnmedizinischen Fachangestellten

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
25.05.2023
Aktenzeichen
2 ME 32/23
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2023, 19238
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2023:0525.2ME32.23.00

Verfahrensgang

vorgehend
VG Braunschweig - 25.04.2023 - AZ: 1 B 116/23

Fundstellen

  • FA 2023, 169
  • NordÖR 2023, 444
  • ZAP EN-Nr. 384/2023
  • ZAP 2023, 606

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Unter welchen Voraussetzungen die Ausbildung im Sinne des § 43 Abs. 1 Nr. 1 BBiG zurückgelegt ist und Fehlzeiten als geringfügig und dem Anspruch auf Zulassung zur Abschlussprüfung nicht entgegenstehen, bedarf als unbestimmter Rechtsbegriff der Ausfüllung durch die Rechtsprechung; hierin liegt nicht ein Verstoß gegen den Grundsatz des Gesetzesvorbehalts.

  2. 2.

    Der bloße kalendarische Ablauf der Prüfungszeit rechtfertigt die Zulassung zur Abschlussprüfung gemäß § 43 Abs. 1 Nr. 1 BBiG nicht. Denn das Ziel der Berufsausbildung der beruflichen Handlungsfähigkeit im Sinne des § 1 Abs. 3 Satz 1 BBiG wird nur erreicht, wenn eine tatsächlich aktive Ausbildung erfolgt ist.

  3. 3.

    Zahlenmäßig geringe oder hohe Fehlzeiten des oder der Auszubildenden während der Ausbildungszeit sind lediglich ein Indiz für geringfügige oder erhebliche Fehlzeiten; eine starre zeitliche Grenze gibt es nicht.

  4. 4.

    Als Ausbildungszeit ist die in den Ausbildungsordnungen vorgesehene Regelausbildungsdauer zugrundezulegen, es sei denn, die Ausbildungszeit ist gemäß § 8 Abs. 1 BBiG abgekürzt oder gemäß § 8 Abs. 2 BBiG verlängert worden.

Tenor:

Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Braunschweig - 1. Kammer - vom 25. April 2023 wird zurückgewiesen.

Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Wert des Streitgegenstands wird für das Beschwerdeverfahren auf 7.500 EUR festgesetzt.

Gründe

Die Beschwerde ist unbegründet. Aus den mit der Beschwerde dargelegten Gründen, auf deren Prüfung das Oberverwaltungsgericht beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), ergibt sich nicht, dass das Verwaltungsgericht den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu Unrecht abgelehnt hat. Die Antragstellerin hat auch im Beschwerdeverfahren einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht.

Die Antragstellerin hat nicht glaubhaft gemacht, dass sie die Voraussetzungen des § 43 Abs. 1 Nr. 1 Berufsbildungsgesetz (BBiG) in Verbindung mit § 8 Abs. 1 Nr. 1 der Verordnung über die Berufsausbildung zum Zahnmedizinischen Fachangestellten/zur Zahnmedizinischen Fachangestellten vom 4. Juli 2001 (BGBl. I S. 1492 ff.) - im Folgenden: Prüfungsordnung (PO) - erfüllt. Nach diesen Vorschriften ist zur Abschlussprüfung zuzulassen, wer die Ausbildungszeit zurückgelegt hat oder wessen Ausbildungszeit nicht später als zwei Monate nach dem Prüfungstermin endet. Der Senat teilt die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass nach dem Sinn und Zweck der §§ 43 Abs. 1 Nr. 1 BBiG, 8 Abs. 1 Nr. 1 PO die Ausbildungszeit nur dann zurückgelegt ist, wenn der Auszubildende tatsächlich aktiv ausgebildet worden ist. Der bloße kalendarische Ablauf der Ausbildungszeit rechtfertigt die Zulassung zur Abschlussprüfung nicht. Denn das Ziel der Berufsausbildung, die für die Ausübung einer qualifizierten beruflichen Tätigkeit in einer sich wandelnden Arbeitswelt notwendigen beruflichen Fertigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten (berufliche Handlungsfähigkeit, § 1 Abs. 3 Satz 1 BBiG) in einem geordneten Ausbildungsgang zu vermitteln und den Erwerb der erforderlichen Berufserfahrung zu ermöglichen (§ 1 Abs. 3 Satz 2 BBiG), wird regelmäßig nur erreicht, wenn eine tatsächlich aktive Ausbildung erfolgt ist. Geringfügige Fehlzeiten stehen allerdings einer Zulassung zur Abschlussprüfung nicht entgegen. Denn die Versagung der Zulassung zur Abschlussprüfung verstößt gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wenn die Fehlzeiten den Ausbildungserfolg nicht gefährden (vgl. hierzu OVG NRW, Beschl. v. 5.12.2007 - 19 B 1523/07 -, GewArch 2008, 167, juris Rn. 5 f. m.w.N.; Hergenröder, in: Benecke/Hergenröder, BBiG, 2. Aufl. 2021, § 43 Rn. 5 m.w.N.).

Unter welchen Voraussetzungen die Ausbildung zurückgelegt und Fehlzeiten hierbei als geringfügig anzusehen sind, ist normativ nicht geregelt. Hierin liegt entgegen der Auffassung der Antragstellerin kein Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip in Gestalt des Gesetzesvorbehalts. Der Bundesgesetzgeber hat sich rechtsfehlerfrei darauf beschränkt, in § 43 Abs. 1 Nr. 1 BBiG auf Tatbestandsseite den unbestimmten Rechtsbegriff der "Zurücklegung der Ausbildungsdauer" zu normieren und die Ausfüllung dieses Rechtsbegriffs der Rechtsprechung zu überlassen. Dieser unbestimmte Rechtsbegriff unterliegt dabei nach allgemeinen Grundsätzen - von hier nicht einschlägigen Ausnahmefällen abgesehen - der vollen verwaltungsgerichtlichen Kontrolle. Etwaige durch Richtlinien vorgenommene Konturierungen dieses Rechtsbegriffs entfalten für die Gerichte keine Bindungswirkung. Vielmehr hat das zur Entscheidung berufene Gericht bei der Nachprüfung eines von den Verwaltungsbehörden angewandten unbestimmten Rechtsbegriffs und bei dessen Konkretisierung die allgemeinen juristischen Auslegungsregeln zu beachten. Hierbei ist maßgeblich auf den Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung abzustellen. Letzteres ist wie ausgeführt hier gerade der Fall. Deshalb kann keine Rede davon sein, dass sich das Verwaltungsgericht - wie die Antragstellerin in ihrer Beschwerdebegründung anführt - einer "eindeutigen Kompetenzüberschreitung" schuldig gemacht und zu einer "Super-Legislative" aufgeschwungen hat.

Der Hinweis der Antragstellerin auf den Beschluss des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 12. Juli 2017 (- 15 L 3111/17 -, juris) rechtfertigt kein anderes Ergebnis. Denn das Verwaltungsgericht Düsseldorf geht in dem dort streitgegenständlichen Verfahren auf vorläufige Zulassung zur staatlichen Prüfung in der Gesundheits- und Krankenpflege an einer staatlich anerkannten Krankenpflegeschule ebenfalls davon aus, dass die Ausbildungszeit nicht bereits dann zurückgelegt ist, wenn der Ausbildungszeitraum kalendarisch abgelaufen ist. Vielmehr muss die Ausbildung während des Ausbildungszeitraums tatsächlich und aktiv betrieben worden sein, damit die für eine fachgerechte Berufsausübung erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten vermittelt werden können (VG Düsseldorf, Beschl. v. 12.7.2017 - 15 L 3111/17 -, juris Rn. 15 ff. m.w.N.).

Bereits das Verwaltungsgericht hat zutreffend darauf abgestellt, dass entscheidend die Umstände des Einzelfalls sind. Zahlenmäßig geringe oder hohe Fehlzeiten sind ein Indiz für geringfügige oder erhebliche Fehlzeiten. Eine starre zeitliche Grenze etwa dergestalt, dass bei einer Fehlzeit von 10 % der Ausbildungszeit stets mehr als nur geringfügige Fehlzeiten vorliegen, gibt es indes nicht. Es kommt vielmehr darauf an, ob die Fehlzeiten im konkreten Einzelfall das Erreichen des Ausbildungsziels gefährden. Zahlenmäßig geringe Fehlzeiten können den Ausbildungserfolg gefährden, wenn sie wesentliche Ausbildungsabschnitte betreffen; zahlenmäßig hohe Fehlzeiten können als noch geringfügig angesehen werden, wenn sie etwa auf den letzten Ausbildungsabschnitt entfallen und die für den Erwerb der beruflichen Handlungsfähigkeit und die erforderliche Berufserfahrung wesentliche Ausbildung bereits in den vorhergehenden Ausbildungsabschnitten erfolgt ist. Diese nicht nur auf die Zahl der Fehlstunden abstellende Wertung im Einzelfall entspricht den in § 45 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 3 BBiG enthaltenen Rechtsgedanken. Nach § 45 Abs. 1 BBiG können Auszubildende nach Anhörung der Ausbildenden und der Berufsschule vor Ablauf der Ausbildungszeit zur Abschlussprüfung zugelassen werden, wenn ihre Leistungen dies rechtfertigen. Vom Nachweis der in § 45 Abs. 2 Satz 1 BBiG genannten Mindestzeit der beruflichen Tätigkeit, die eine Zulassung zur Abschlussprüfung ohne vorhergehende Ausbildung rechtfertigt, kann gemäß § 45 Abs. 2 Satz 3 BBiG ganz oder teilweise abgesehen werden, wenn durch Vorlage von Zeugnissen oder auf andere Weise glaubhaft gemacht wird, dass der Bewerber oder die Bewerberin die berufliche Handlungsfähigkeit erworben hat, die die Zulassung zur Prüfung rechtfertigt. Der Beschwerdeeinwand der Antragstellerin, das Verwaltungsgericht gehe in Verkennung der einschlägigen Rechtsprechung - die Antragstellerin beruft sich in diesem Zusammenhang auf den Beschluss des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 6.5.2013 - W 6 E 13.379 -, juris Rn. 25 - davon aus, dass (allein) durch hohe Fehlzeiten ohne Rücksicht auf die konkreten Umstände des Einzelfalls das Ausbildungsziel nicht mehr sichergestellt sei, geht daher fehl. Gerade aus der von der Antragstellerin in der Begründung ihrer Beschwerde hervorgehobenen Ausführung des Verwaltungsgerichts, ihre Fehlzeiten seien zahlenmäßig hoch und (Hervorhebung durch den Senat) es sei von ihr nicht dargelegt und glaubhaft gemacht, dass sie trotz der zahlenmäßig hohen Fehlzeiten das Ausbildungsziel gemäß § 1 BBiG erreicht habe, ergibt sich das Gegenteil.

Nach Maßgabe dieser von dem Verwaltungsgericht zutreffend zugrunde gelegten Grundsätze sind die Fehlzeiten der Antragstellerin mehr als geringfügig. Ihre Fehlzeiten sind zahlenmäßig hoch und es ist von ihr nicht glaubhaft gemacht, dass sie trotz ihrer Fehlzeiten das Ausbildungsziel gemäß § 1 Abs. 3 BBiG erreicht hat. Entgegen der Auffassung der Antragstellerin obliegt ihr im Rahmen des Verfahrens auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gemäß § 123 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO die Darlegung und Glaubhaftmachung der Voraussetzungen des geltend gemachten Anordnungsanspruchs. Daher fällt es nicht "in die Vortragspflicht" der Antragsgegnerin darzulegen, dass "es konkret zu erheblichen Lücken in den wichtigsten Themenbereichen der Auszubildenden gekommen" sei. Die von der Antragstellerin in ihrer Beschwerdebegründung in Bezug genommene Formulierung des Verwaltungsgerichts Düsseldorf in seinem Beschluss vom 12. Juli 2017 (- 15 L 3111/17 -, juris Rn. 8) rechtfertigt keine andere Sichtweise. Das Verwaltungsgericht Düsseldorf verhält sich in dieser Entscheidung nicht zu der Verteilung der Darlegungs- und Glaubhaftmachungsobliegenheit, sondern führt an der von der Antragstellerin des vorliegenden Verfahrens angeführten Stelle unter Hinweis auf das Erfordernis einer Bescheinigung nach der einschlägigen Prüfungsverordnung über die Teilnahme an den Ausbildungsveranstaltungen (Rn. 7) lediglich aus, dass die dortige Antragstellerin über eine solche Bescheinigung gerade nicht verfüge, sondern sich aus der Mitteilung der Ausbildungsschule ergebe, dass die dortige Antragstellerin angesichts ihrer Fehlzeiten in Theorie und Praxis erhebliche Lücken in den wichtigsten Themenbereichen und praktischen Lernfeldern aufweise.

Als Ausbildungszeit ist die in den Ausbildungsordnungen vorgesehene (Regel-)Ausbildungsdauer - hier: gemäß § 2 PO und § 1 Abs. 2 des Berufsausbildungsvertrages drei Jahre - zugrundezulegen, es sei denn, die Ausbildungszeit ist - was bei der Antragstellerin nicht der Fall ist - abgekürzt (§ 8 Abs. 1 BBiG) oder verlängert (§§ 8 Abs. 2, 21 Abs. 3 BBiG) worden. Danach sind die Fehlzeiten der Antragstellerin nach den mit der Beschwerde nicht angegriffenen Ausführungen des Verwaltungsgerichts ins Verhältnis von rund 260 Ausbildungstagen pro Jahr zu setzen, sodass nach Abzug der vertraglich vereinbarten 24 Urlaubstagen/Jahr und durchschnittlich zehn Feiertagen/Jahr 226 Ausbildungstage pro Jahr, mithin insgesamt 678 Ausbildungstage in Ansatz zu bringen sind. Die Fehlzeiten der Antragstellerin von 93 Tagen machen demzufolge rund 13,7 % der gesamten Ausbildungszeit aus. Das Verwaltungsgericht hat aus diesem Befund folgerichtig und rechtsfehlerfrei geschlossen, dass diese zahlenmäßig große Höhe die Erheblichkeit der Fehlzeiten der Antragstellerin indiziere. Auf den Grund der Fehlzeiten - wie hier die Erkrankungen der Antragstellerin - kommt es hierbei nicht an, sodass die Frage nach verschuldet oder unverschuldet verursachten Fehlzeiten nicht entscheidungserheblich ist.

Die Antragstellerin hat auch im Beschwerdeverfahren - wie auch zuvor im erstinstanzlichen Verfahren - nicht dargelegt und glaubhaft gemacht, dass sie die Ausbildungsziele gleichwohl zumindest im Wesentlichen erreicht hatte. Über den Stand ihrer Ausbildung hat sie keine näheren Angaben gemacht. Zeugnisse oder andere Unterlagen, die Auskunft über ihren Ausbildungsstand geben, hat sie nicht vorgelegt. Anlass zur Vorlage derartiger Unterlagen bestand schon deshalb, weil das Verwaltungsgericht in dem angefochtenen Beschluss im Zusammenhang mit der Prüfung eines Anspruches auf Zulassung zur Abschlussprüfung gemäß § 45 Abs. 2 BBiG auf die Notwendigkeit, durch Zeugnisse oder andere Belege die erreichte berufliche Handlungsfähigkeit glaubhaft zu machen (§ 45 Abs. 2 Satz 3 BBiG), hingewiesen hat. Dem ist die Antragstellerin auch im Beschwerdeverfahren nicht nachgekommen. Daraus folgt zugleich, dass sie einen Anspruch auf Zulassung zur Abschlussprüfung gemäß § 45 Abs. 1 oder Abs. 2 BBiG nicht glaubhaft gemacht hat.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG. In Hauptsacheverfahren, die die Zulassung zu einer Abschlussprüfung nach dem Berufsbildungsgesetz betreffen, ist der Streitwert in Anlehnung an Nr. 36.3 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit - Fassung 2013 (NordÖR 2014, 11) auf 15.000 EUR festzusetzen. Dieser Betrag ist angesichts des nur vorläufig regelnden Charakters des vorliegenden Verfahrens auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes mit Blick auf Nr. 1.5 Satz 1 des Streitwertkataloges auf die Hälfte zu reduzieren.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 66 Abs. 3 Satz 3, 68 Abs. 1 Satz 5 GKG).