Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 04.03.2024, Az.: 1 ME 159/23

Nutzungsuntersagung für das errichtete Wohnhaus mit Nebengebäuden bei Abweichung von der erteilten Baugenehmigung als aliud

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
04.03.2024
Aktenzeichen
1 ME 159/23
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2024, 12608
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2024:0304.1ME159.23.00

Verfahrensgang

vorgehend
VG Göttingen - 28.11.2023 - AZ: 2 B 185/23

Redaktioneller Leitsatz

Weicht ein Bau so erheblich von der erteilten Baugenehmigung ab, dass er als "aliud" nicht mehr von dieser gedeckt ist, ist die Baugenehmigung wegen Nichtgebrauchs erloschen. Dies kann angekommen werden, wenn bauliche Anlagen errichtet werden, die von der Baugenehmigung abweichen und etwa fünf Meter weiter als genehmigt in den rückwärtigen Grundstücksbereich vordringen.

Tenor:

Die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Göttingen - 2. Kammer - vom 28. November 2023 wird zurückgewiesen.

Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens als Gesamtschuldner.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 20.000 EUR festgesetzt.

Gründe

I.

Die Antragsteller wenden sich gegen eine Nutzungsuntersagung für ihr Wohnhaus mit Nebengebäuden, das sie abweichend von der ihnen erteilten Baugenehmigung errichtet haben.

Die Antragsteller sind Eigentümer des im Aktivrubrum genannten Grundstücks im Ortsteil Hetjershausen der Antragsgegnerin. Das Grundstück liegt am Ortsrand am Übergang zum Außenbereich in zweiter Reihe und war bereits vor Errichtung der streitgegenständlichen baulichen Anlagen mit einem deutlich näher zur Bestandbebauung orientierten Wohnhaus bebaut. Ein Bebauungsplan besteht nicht.

Für die Errichtung eines Neubaus, bestehend aus einem Wohnhaus mit Terrasse, einer Doppelgarage und einem Wintergarten erteilte die Antragsgegnerin ihnen unter dem 14. November 2017 einen Bauvorbescheid und unter dem 13. Juni 2018 eine Baugenehmigung. Beiden Bescheiden vorausgegangen waren Diskussionen darüber, wie weit bauliche Anlagen unter Berücksichtigung einer faktischen Baugrenze und der Grenze zum Außenbereich in den rückwärtigen Grundstücksbereich vordringen dürften. Die Diskussion beendete der Stadtbaurat der Antragsgegnerin damals durch Vorgabe einer Begrenzungslinie, die noch jenseits der durch die auf den Nachbargrundstücken bestehenden Hauptgebäude definierten Linie verlief.

Die Antragsteller errichteten bauliche Anlagen auf dem Grundstück, die von der Baugenehmigung abweichen. Wohnhaus und Garage dringen etwa fünf Meter weiter als genehmigt in den rückwärtigen Grundstücksbereich vor. Daran schließen sich Terrassen, Wege, Treppen, Stützwände, Mauern, ein gepflasterte "Grillplatz" sowie ein "Poolhaus" mit Schwimmbad an, die über die vom Stadtbaurat bestimmte Linie noch rund 25 m hinausgehen.

Die Antragsgegnerin ordnete daraufhin mit baurechtlicher Anordnung vom 17. August 2023 unter anderem die vollständige Beseitigung des Wohnhauses einschließlich des Wintergartens, der Terrasse und der Doppelgarage sowie des "Poolhauses" an. Ferner untersagte sie die Nutzung der vorgenannten baulichen Anlagen unter Anordnung der sofortigen Vollziehung. Zur Begründung verwies sie darauf, dass die Antragsteller ein "aliud" zu der erteilten Baugenehmigung errichtet hätten, sodass das Vorhaben formell illegal sei. Es sei auch materiell illegal, weil es jedenfalls teilweise im Außenbereich liege. Gemessen an § 35 Abs. 2 BauGB sei es nicht genehmigungsfähig, da es das Entstehen einer Splittersiedlung in Gestalt des Ausuferns des Ortsteils in den Außenbereich befürchten lasse. Zudem widerspreche das Vorhaben dem Landschaftsplan, der für den rückwärtigen Grundstücksbereich die Pflege und den Erhalt von Obstwiesen vorsehe. Selbst wenn man das Vorhaben nach § 34 BauGB beurteilen wolle, ergebe sich keine den Antragstellern günstige Rechtsfolge. In diesem Fall sei die faktische rückwärtige Baugrenze überschritten; dies löse aufgrund der Vorbildwirkung für die Nachbargrundstücke städtebauliche Spannungen aus. Die Betätigung des Ermessens führe zu der Regelfolge des bauaufsichtlichen Einschreitens; unverhältnismäßig sei das nicht. Das gelte auch für die Nutzungsuntersagung, deren sofortige Vollziehung unter anderem aufgrund der Ordnungsfunktion des öffentlichen Baurechts angeordnet werde. Den dagegen erhobenen Widerspruch hat die Antragsgegnerin mittlerweile durch Widerspruchsbescheid vom 21. Dezember 2023 zurückgewiesen; ein Klageverfahren ist anhängig.

Den Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs gegen die Nutzungsuntersagung hat das Verwaltungsgericht Göttingen mit dem angegriffenen Beschluss vom 28. November 2023 abgelehnt. Die Antragsgegnerin sei aller Voraussicht nach zu Recht von der formellen und materiellen Illegalität des Vorhabens ausgegangen; damit sei ein bauaufsichtliches Einschreiten regelmäßig - und so auch hier - geboten. Zudem seien die ungeachtet dessen angestellten Ermessenserwägungen tragfähig. Schließlich begegne die Anordnung des Sofortvollzugs weder formellen noch materiellen Bedenken.

II.

Die gegen diesen Beschluss gerichtete Beschwerde ist unbegründet.

Die dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigen keine Änderung des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses. Das Verwaltungsgericht hat vielmehr zu Recht und mit zutreffender Begründung, die sich der Senat gemäß § 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO zu eigen macht, entschieden, dass die Nutzungsuntersagung und die darauf bezogene Anordnung der sofortigen Vollziehung keinen Bedenken begegnen. Zu dem Beschwerdevorbringen sind lediglich folgende Anmerkungen veranlasst:

Ohne Erfolg meinen die Antragsteller, das Verwaltungsgericht habe den Prüfungsmaßstab verkannt; es habe insbesondere zu Unrecht angenommen, dass die Nutzungsuntersagung offensichtlich rechtmäßig sei. Mit dem Begriff der "Offensichtlichkeit" ist gemeint, dass schon bei summarischer Prüfung im Eilverfahren die Beurteilung der Rechtmäßigkeit möglich ist. Das ist aus den zutreffenden Gründen der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung der Fall. Der Sachverhalt und die sich daraus ergebende Rechtsfolge sind in jeder Hinsicht eindeutig. Das Vorhaben der Antragsteller weicht so erheblich von der erteilten Baugenehmigung ab, dass es als "aliud" nicht mehr von dieser gedeckt ist; sowohl die Baugenehmigung als auch der Bauvorbescheid sind damit wegen Nichtgebrauchs erloschen. In der Sache überschreiten Wohnhaus, Doppelgarage, Terrasse, Wintergarten und "Poolhaus" die faktische rückwärtige Baugrenze, die durch die Flucht der rückwärtigen Gebäudekanten bzw. durch das bestehende (Haupt)Gebäude mit der größten Bautiefe bestimmt wird (vgl. zuletzt Senatsbeschl. v. 30.5.2023 - 1 LA 80/22 -, BauR 2023, 1484 = juris Rn. 7), erheblich, sodass ein Einfügen gemäß § 34 Abs. 1 BauGB offensichtlich nicht gegeben ist. Mindestens teilweise liegen alle vorgenannten baulichen Anlagen zudem im Außenbereich, wo eine Genehmigungsfähigkeit gemäß § 35 Abs. 2 BauGB aufgrund der entgegenstehenden öffentlichen Belange des § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2, 5 und 7 BauGB sicher ausgeschlossen ist. Das alles lässt sich anhand von Luftbildern, Lageplänen und Lichtbildern zuverlässig feststellen, ohne dass weitere Erkenntnismittel nötig sind. Insbesondere die vom Verwaltungsgericht vorbehaltene Ortsbesichtigung dürfte in diesem Fall eher geringen Erkenntnisgewinn versprechen, weil sich die baurechtliche Beurteilung nach der Sachlage vor Errichtung der baulichen Anlagen auf dem Baugrundstück richtet; diese Situation ist aber nicht mehr sichtbar. Von daher ist es keinesfalls zu beanstanden, dass das Verwaltungsgericht im Eilverfahren auf eine Ortsbesichtigung verzichtet hat.

Unzutreffend ist die Annahme der Antragsteller, obwohl Wohnhaus und Garage "lediglich um wenige Meter nach Norden verschoben worden" seien, könne von einer Identität des Bauvorhabens mit dem genehmigten Vorhaben ausgegangen werden. Im Gegenteil kommt dem exakten Standort des Vorhabens dann, wenn an eine faktische Baugrenze bzw. die Grenze des Außenbereichs gebaut wird, identitätsprägende Bedeutung zu, weil die bauplanungsrechtliche Bewertung maßgeblich davon abhängt (vgl. etwa Senatsbeschl. v. 3.3.2022 - 1 LA 70/21 -, NVwZ-RR 2022, 410 = juris Rn. 14). So liegt der Fall hier.

Nicht nachzuvollziehen vermag der Senat die Schlussfolgerungen, die die Antragsteller daraus ziehen wollen, dass der geltende Flächennutzungsplan ihr Grundstück zu etwa zwei Dritteln seiner Tiefe als gemischte Baufläche darstellt. Der Flächennutzungsplan entfaltet den Antragstellern gegenüber keine Außenwirkung. Zudem ist er nicht parzellenscharf, sondern bedarf auch insofern der Konkretisierung durch eine Bauleitplanung, in deren Rahmen die genaue Grenze zwischen Baugebieten und von Bebauung freizuhaltenden Flächen zu bestimmen wäre. Solange das nicht erfolgt ist, können die Antragsteller aus dem Flächennutzungsplan keine ihnen günstigen Rechtsfolgen ableiten. Davon, dass der Flächennutzungsplan die Darstellungen des Landschaftsplans "quasi überlagert", kann keine Rede sein.

Fernliegend ist die Auffassung der Antragsteller, eine Ausdehnung der Besiedlung in den Außenbereich sei aufgrund der Darstellung des Flächennutzungsplans erwünscht. Das Gegenteil ist richtig. Solange keine verbindliche Bauleitplanung vorliegt, steht (insbesondere) § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 7 BauGB einem Ausufern des Bebauungszusammenhangs in den Außenbereich regelmäßig - und so auch hier - entgegen (vgl. nur Dürr, in: Brügelmann, BauGB, § 35 Rn. 210, Stand der Bearbeitung: Juli 2020, m.w.N.).

Das Vorhaben der Antragsteller entfaltet durch die Überschreitung der faktischen rückwärtigen Baugrenze und der Grenze zum Außenbereich zudem eine Vorbildwirkung, die städtebauliche Spannungen begründet bzw. eine noch weitere Zersiedlung des Außenbereichs befürchten lässt. Mindestens auf den Grundstücken Brunnenbreite 16 und 18 ist weitere rückwärtige Bebauung vorstellbar, der das Vorhaben der Antragsteller zum Vorbild dienen könnte. Geht man von der durch das "Poolhaus" vorgegebenen Bautiefe aus, gilt das sogar für nahezu alle Nachbargrundstücke.

Soweit die Antragsteller eine unzureichende Ermessensbetätigung der Antragsgegnerin beklagen, genügt ihr Vorbringen nicht den Darlegungsanforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO. Das Verwaltungsgericht hat seine Rechtsauffassung in erster Linie im Einklang mit der ständigen Senatsrechtsprechung darauf gestützt, dass § 79 Abs. 1 NBauO bei Verstößen gegen öffentliches Baurecht ein Einschreiten regelmäßig gebietet, das in der Vorschrift eröffnete Ermessen mithin intendiert ist (vgl. Senatsbeschl. v. 11.5.2015 - 1 ME 31/15 -, NdsVBl. 2015, 304 = BRS 83 Nr. 101 = juris Rn. 15; Senatsurt. v. 1.9.2022 - 1 LB 13/21 -, BauR 2022, 1746 = NdsVBl 2023, 22 = juris Rn. 26; beide m.w.N.). Verstöße gegen öffentliches Baurecht, die über bloße Bagatellen hinausgehen und bei denen keine besonderen Umstände des Einzelfalls eine abweichende Betrachtung gestatten, ziehen nach dem Willen des Gesetzgebers regelmäßig bauaufsichtliche Maßnahmen nach sich (Senatsurt. v. 7.9.2023 - 1 LB 3/23 -, BauR 2024, 245 = juris Rn. 29). Das Verwaltungsgericht hat sich - in der Sache überdies zutreffend - auf den Standpunkt gestellt, dass Anhaltspunkte für eine Ausnahme nicht vorlägen. Dem treten die Antragsteller nicht entgegen.

Soweit das Verwaltungsgericht hilfsweise die von der Antragsgegnerin tatsächlich angestellten Ermessenserwägungen geprüft und für ausreichend befunden hat, ist auch dies frei von Rechtsfehlern. Aus welchen Gründen die Antragsteller die Gebäude abweichend von der Baugenehmigung über die Baugrenze hinaus in den Außenbereich verschoben haben, ist baurechtlich unerheblich. Die Behauptung eines Versehens bzw. der Verweis auf die "mit rechtlichen Dingen nicht vertraute Antragstellerin zu 2.", die den Sachverhalt und die Rechtslage nicht überblickt habe, entspricht zudem offensichtlich nicht der Realität. Nach den ausführlichen Diskussionen im Vorfeld der Erteilung der Baugenehmigung lag die Bedeutung der Baugrenze für alle Beteiligten klar auf der Hand. Schon deshalb ist es nicht zu beanstanden, dass die Antragsgegnerin jedem weiteren Versuch der Antragsteller, über die äußerst großzügige, die rechtlichen Grenzen in jeder Hinsicht mindestens ausschöpfende Grenzziehung durch den Stadtbaurat noch hinauszugehen, konsequent entgegentritt.

Richtig ist schließlich die Feststellung des Verwaltungsgerichts, dass das Ermessen der Antragsgegnerin nicht durch eine Zusicherung, während der Bearbeitung des zur Legalisierung des Vorhabens gestellten Bauantrags stillzuhalten, eingeschränkt war. Dem Vorbringen der Antragsteller ist schon im Tatsächlichen nicht zu entnehmen, dass sich die Antragsgegnerin im Fall der Stellung eines Bauantrags mündlich dazu verpflichtet hätte. Hinzu kommt, dass eine Selbstverpflichtung, gegen einen baurechtswidrigen Zustand nicht einzuschreiten, eine Zusicherung gemäß § 1 Abs. 1 NVwVfG i.V.m. § 38 Abs. 1 VwVfG darstellt, die die Schriftform voraussetzt. Jedenfalls diese Voraussetzung ist nicht erfüllt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 159 Satz 1 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG; der Senat schließt sich auch insoweit der Begründung des Verwaltungsgerichts an.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).