Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 08.01.2020, Az.: 10 LA 3/20

Keine Divergenzzulassung hinsichtlich Tatsachenfragen bei wesentlicher Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse; Veränderte Aufnahmebedingungen für anerkannte Schutzberechtigte in Bulgarien

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
08.01.2020
Aktenzeichen
10 LA 3/20
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2020, 10042
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG Osnabrück - 25.11.2019

Fundstellen

  • AUAS 2020, 43-45
  • DÖV 2020, 340
  • FA 2020, 86
  • InfAuslR 2020, 124-126

Amtlicher Leitsatz

Bei Tatsachenfragen kommt eine Divergenzzulassung nicht (mehr) in Betracht, wenn sich seit der angeführten Entscheidung des Divergenzgerichts, die einen bestimmten Tatsachensatz aufgestellt hat, die tatsächlichen Verhältnisse nicht nur unwesentlich verändert haben.

Tenor:

Die Anträge der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Osnabrück - Einzelrichterin der 5. Kammer - vom 25. November 2019 sowie auf Gewährung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihres Prozessbevollmächtigten werden abgelehnt.

Die Klägerin trägt die außergerichtlichen Kosten des gerichtskostenfreien Zulassungsverfahrens.

Gründe

Der Antrag der Klägerin, die Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil zuzulassen, hat keinen Erfolg. Denn der von ihr allein geltend gemachte Zulassungsgrund der Divergenz (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG) liegt nicht vor.

Nach § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG ist die Berufung zuzulassen, wenn das angefochtene Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht. Eine solche Abweichung liegt vor, wenn sich das Verwaltungsgericht in Anwendung derselben Rechtsvorschrift mit einem seine Entscheidung tragenden abstrakten Rechts- oder Tatsachensatz zu einem in der herangezogenen Entscheidung eines der genannten Divergenzgerichte aufgestellten ebensolchen Rechts- oder Tatsachensatz in Widerspruch gesetzt hat. Dabei muss ein prinzipieller Auffassungsunterschied über den Bedeutungsgehalt einer bestimmten Rechtsvorschrift oder eines bestimmten Rechtsgrundsatzes bestehen (ständige Rechtsprechung des Senats: Senatsbeschlüsse vom 11.09.2019 - 10 LA 50/19 -, juris Rn. 36, und vom 01.11.2017 - 10 LA 101/17 -, n.v.; Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 17.08.2018 - 2 LA 1584/17 -, juris Rn. 18; Bayerischer VGH, Beschluss vom 31.07.2018 - 15 ZB 17.30493 -, juris Rn. 7; BVerwG, Beschluss vom 21.12.2017 - 6 B 35.17 -, juris Rn. 17 zu § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO). Eine Divergenz liegt nicht vor, wenn das Verwaltungsgericht den Rechts- oder Tatsachensatz des Divergenzgerichts, ohne ihm inhaltlich zu widersprechen, in dem zu entscheidenden Fall rechtsfehlerhaft angewandt oder daraus nicht die Folgerungen gezogen hat, die für die Sachverhalts- und Beweiswürdigung geboten sind (ständige Rechtsprechung des Senats: Senatsbeschlüsse vom 11.09.2019 - 10 LA 50/19 -, juris Rn. 36, und vom 01.11.2017 - 10 LA 101/17 -, n.v.; Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 17.08.2018 - 2 LA 1584/17 -, juris Rn. 18; Bayerischer VGH, Beschluss vom 21.01.2013 - 8 ZB 11.2030 -, juris Rn. 24; BVerwG, Beschluss vom 30.06.2014 - 2 B 99.13 -, juris Rn. 6 zu § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO, vgl. auch Beschluss vom 22.10.2019 - 6 B 9.19 -, juris Rn. 6).

Bei Tatsachenfragen kommt eine Divergenzzulassung ferner dann nicht (mehr) in Betracht, wenn sich seit der angeführten obergerichtlichen Grundsatzentscheidung, die einen bestimmten Tatsachensatz aufgestellt hat, dessen Verbindlichkeit aber immer unter dem Vorbehalt einer Änderung der Sachlage steht, die tatsächlichen Verhältnisse nicht nur unwesentlich verändert haben (ständige Rechtsprechung des Senats: Senatsbeschlüsse vom 09.02.2018 - 10 LA 70/18 - und vom 13.12.2017 - 10 LA 150/17 -; Bayerischer VGH, Beschluss vom 31.08.2018 - 8 ZB 17.31813 -, juris Rn. 17; OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 10.07.2018 - 4 LA 41/18 -, juris Rn. 7, 9; OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 04.04.2017 - 3 L 69/17 -, juris Rn. 8; Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 13.01.2009 - 11 LA 471/08 -, juris Leitsatz und Rn. 2; Hessischer VGH, Beschlüsse vom 29.11.1988 - 12 TE 3420/88 -, juris 1. Leitsatz und Rn. 6, vom 15.01.1990 - 12 TE 3516/88 - juris 3. Leitsatz, und vom 19.07.2000 - 5 UZ 2128/96.A -, juris Leitsatz und Rn. 4; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 24.06.1999 - 14 A 2788/94.A -, juris 1. Leitsatz und Rn. 5 ff.; GK-AsylG, a.a.O., § 78 AsylG Rn. 171; Marx, AsylG, 9. Aufl. 2017, § 78 Rn. 81; vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 23.03.2009 - 8 B 2.09 -, Rn. 9 zu § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO bei einer zwischenzeitlichen Änderung der Rechtslage). Insbesondere im Bereich von Tatsachenfragen ist zu berücksichtigen, dass die Grundsätzlichkeit einer Aussage Geltung nur für die ihr zugrunde gelegte tatsächliche Erkenntnislage beansprucht (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 04.04.2017 - 3 L 69/17 -, juris Rn. 8; Hessischer VGH, Beschluss vom 19.07.2000 - 5 UZ 2128/96.A -, juris Rn. 4). Dabei ist nicht entscheidend, ob die wesentliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse im Zeitraum zwischen der Entscheidung des Divergenzgerichts und der angegriffenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts oder erst nach dem Ergehen der erstinstanzlichen Entscheidung eingetreten ist. Denn auch im letzteren Fall ist die Entscheidung, von der das Verwaltungsgericht abgewichen ist, überholt und als nicht mehr relevant anzusehen (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 24.06.1999 - 14 A 2788/94.A -, juris Rn. 7 bis 11). Im Berufungsverfahren wäre die betreffende Tatsachenfrage nämlich einer völlig neuen Betrachtung unter Berücksichtigung der neueren Erkenntnismittel zu unterziehen (vgl. zur Notwendigkeit der Berücksichtigung neuerer Erkenntnismittel auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 21.04.2016 - 2 BvR 273/16 -, juris Rn. 14), ohne dass es auf die mit der Divergenzrüge angeführte unterschiedliche Würdigung der tatsächlichen Verhältnisse ankäme (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 24.06.1999 - 14 A 2788/94.A -, juris Rn. 11). In diesen Fällen kommt bei hinreichender Darlegung der betreffenden Grundsatzfrage(n) allein eine Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG in Betracht (OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 04.04.2017 - 3 L 69/17 -, juris Rn. 12; Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 13.01.2009 - 11 LA 471/08 -, juris Leitsatz und Rn. 4 f.; Hessischer VGH, Beschluss vom 19.07.2000 - 5 UZ 2128/96.A -, juris Leitsatz und Rn. 5; GK-AsylG, a.a.O., § 78 AsylG Rn. 171; vgl. dazu auch Bayerischer VGH, Beschluss vom 31.08.2018 - 8 ZB 17.31854 -, juris Rn. 28).

Nach diesen Maßgaben ist hier die Berufung nicht wegen einer Divergenz im Sinne des § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG zuzulassen.

Die Klägerin trägt zur Begründung dieses Zulassungsgrundes vor, dass das angefochtene Urteil von der Entscheidung des Senats vom 29. Januar 2018 (- 10 LB 82/17 -) abweiche und auf dieser Abweichung beruhe.

Das Verwaltungsgericht habe seine Entscheidung tragend darauf gestützt,

dass Begünstigte internationalen Schutzes in Bulgarien allenfalls in besonders gelagerten Ausnahmefällen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr liefen, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRC ausgesetzt zu sein.

Der Senat habe in seiner Entscheidung demgegenüber den allgemeinen Rechtssatz aufgestellt,

dass auch nach den anzulegenden strengen Maßstäben der GRC und der EMRK in Bulgarien aktuell grundlegende Defizite im Hinblick auf die Aufnahmebedingungen [vorlägen], die in ihrer Gesamtheit betrachtet die Annahme rechtfertigten, dass jedem Begünstigten internationalen Schutzes bei einer Abschiebung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK drohe.

Weiter führt die Klägerin in ihrer Berufungszulassungsbegründung aus, dass das Verwaltungsgericht von einer seit der Entscheidung des Senats positiv veränderten Lage von anerkannten Schutzberechtigten in Bulgarien ausgegangen sei und die später ergangene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs von einem härteren Maßstab hinsichtlich einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRC ausgehe. Zwar habe der Senat in der angeführten Entscheidung lediglich die Lage von anerkannten Schutzberechtigten beurteilt, diese sei nach der Rechtsprechung des europäischen Gerichtshofs jedoch auch bei der Beurteilung einer drohenden Gefährdung der Rechte von Dublin-Rückkehrern zu berücksichtigen.

Danach liegt hier der Zulassungsgrund der Divergenz nicht vor. Das Urteil des Verwaltungsgerichts weicht bereits deshalb nicht von der Entscheidung des Senats vom 29. Januar 2018 im Sinne des § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG ab, weil das Verwaltungsgericht sein Urteil - neben einer Änderung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs - nach Auswertung neuerer Erkenntnismittel auf gegenüber der Entscheidung des Senats teilweise geänderte Verhältnisse in Bulgarien gestützt hat und damit keine unterschiedliche Würdigung einer nicht wesentlich geänderten Tatsachengrundlage vorliegt (vgl. Bayerischer VGH, Beschluss vom 31.08.2018 - 8 ZB 17.31854 -, juris Rn. 17; OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 10.07.2018 - 4 LA 41/18 -, juris Rn. 7). Das Verwaltungsgericht hat vielmehr letztlich einen anderen Sachverhalt beurteilt, als zu dem der Senat den von der Klägerin angeführten Grundsatz aufgestellt hat (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 04.04.2017 - 3 L 69/17 -, juris Rn. 8). In den sogenannten Dublin- oder - wie hier - Drittstaaten-Verfahren steht die Ermittlung von Tatsachen bei einer sich ständig verändernden Sachlage im Vordergrund. Eine dauerhaft abschließende Prüfung ist nicht möglich, da jede Beurteilung der Sachlage aus der Natur der Sache heraus rasch an Aktualität verliert (Senatsbeschlüsse vom 08.11.2017 - 10 LA 135/17 - und vom 09.02.2018 - 10 LA 70/18 -). Deshalb kann in diesen Verfahren in der Regel nicht angenommen werden, dass eine obergerichtliche Grundsatzentscheidung zu einer bestimmten Tatsachenfrage - wie hier zu der Frage, ob anerkannt Schutzberechtigten bei einer Rückkehr nach Bulgarien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verletzungen ihrer Rechte aus Art. 3 EMRK bzw. 4 GRC drohen - nach einem längeren Zeitablauf noch unverändert Gültigkeit beanspruchen kann. Jedenfalls bei dem hier festzustellenden Zeitablauf von fast zwei Jahren zwischen der genannten Entscheidung des Senats und dem erstinstanzlichen Urteil erscheint es möglich, dass eine nicht unwesentliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse eingetreten ist, die eine grundlegende Neubewertung erforderlich machen könnte. Dementsprechend hat hier auch das Verwaltungsgericht seine Abweichung von den Feststellungen des Senats "zum damaligen Zeitpunkt" auf eine zumindest teilweise neue Sachlage in Bulgarien - Entspannung der dortigen Lage bezüglich des Zuganges zu Wohnraum und daraus folgend auch zu Sozialleistungen - und auf neue Erkenntnismittel - Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Verwaltungsgericht Potsdam vom 16. Januar 2019 sowie die Stellungnahme der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 30. August 2019 - und damit insgesamt auf eine in wesentlichen Punkten neue tatsächliche Grundlage gestützt, die nach dem oben Gesagten eine Divergenz im Sinne des § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG entfallen lässt. Bei einer gegenüber der Entscheidung des in § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG genannten Divergenzgerichts wesentlich veränderten Sachlage ist dessen Entscheidung im Hinblick auf eine Divergenzrüge als überholt anzusehen und es kann - wie oben bereits dargestellt - allein noch eine Geltendmachung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG wegen neuerlichen Klärungsbedarfs in Betracht kommen. Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache wurde vorliegend jedoch nicht geltend gemacht und eine Zulassung unter diesem Gesichtspunkt käme hier auch wegen der nicht hinreichenden Darlegung der betreffenden Grundsatzfrage nicht in Betracht. Nachdem nunmehr die Frist des § 78 Abs. 4 Satz 1 AsylG, in welcher der Zulassungsantrag nicht nur einzulegen, sondern auch zu begründen ist (vgl. Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 78 AsylG Rn. 34), abgelaufen ist, kann die Darlegung der Gründe für eine Zulassung der Berufung im Sinne des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG auch nicht mehr nachgeholt werden (vgl. GK-AsylG, a.a.O, § 78 AsylG Rn. 531.1 und 532).

Nach alledem ist auch der Antrag der Klägerin auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe abzulehnen, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Dementsprechend erfolgte auch keine Beiordnung ihres Prozessbevollmächtigten nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 121 Abs. 1 ZPO.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO und § 83b AsylG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).