Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 14.04.2023, Az.: 10 LA 27/23

grundsätzliche Bedeutung; Divergenz

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
14.04.2023
Aktenzeichen
10 LA 27/23
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2023, 15477
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2023:0414.10LA27.23.00

Verfahrensgang

vorgehend
VG Oldenburg - 15.02.2023 - AZ: 12 A 2764/21

Fundstellen

  • AUAS 2023, 125-128
  • DÖV 2023, 648
  • NordÖR 2023, 357

Amtlicher Leitsatz

Anforderungen an die Darlegung des Zulassungsgrunds der Divergenz (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG) bei neuer Erkenntnislage.

Stützt sich das Verwaltungsgericht in seiner Entscheidung (auch) auf neuere Umstände, hat der Zulassungsantragsteller im Rahmen der Darlegung des Zulassungsgrunds der Divergenz unter Auseinandersetzung mit den vom Verwaltungsgericht angeführten neueren Quellen und Erkenntnissen aufzuzeigen, dass sich die der Entscheidung des Divergenzgerichts zugrundeliegenden tatsächlichen Verhältnisse nicht wesentlich geändert haben.

Tenor:

Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Oldenburg - Einzelrichter der 12. Kammer - vom 15. Februar 2023 wird abgelehnt.

Die Beklagte trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Antrag der Beklagten, die Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil zuzulassen, hat keinen Erfolg. Denn sie hat den von ihr allein geltend gemachten Zulassungsgrund der Divergenz (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG) nicht hinreichend dargelegt.

Nach § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG ist die Berufung zuzulassen, wenn das angefochtene Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht. Eine solche Abweichung liegt vor, wenn sich das Verwaltungsgericht in Anwendung derselben Rechtsvorschrift mit einem seine Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz zu einem in der herangezogenen Entscheidung eines der genannten Divergenzgerichte aufgestellten ebensolchen Rechtssatz in Widerspruch gesetzt hat. Dabei muss ein prinzipieller Auffassungsunterschied über den Bedeutungsgehalt einer bestimmten Rechtsvorschrift oder eines bestimmten Rechtsgrundsatzes bestehen (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. etwa Senatsbeschlüsse vom 18.8.2020 - 10 LA 214/19 -, juris Rn. 29, sowie vom 18.1.2020 - 10 LA 3/20 -, juris Rn. 2, jeweils m.w.N.; Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 22.3.2022 - 9 LA 242/21 -, juris Rn. 4; Bayerischer VGH, Beschluss vom 28.7.2022 - 24 ZB 22.451 -, juris Rn. 28; BVerwG, Beschlüsse vom 22.7.2022 - 4 B 12.22 -, juris Rn. 6, und vom 18.7.2022 - 3 B 37.21 -, juris Rn. 9, jeweils zu § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO). Dementsprechend erfordert die Darlegung einer Divergenz u.a., dass die beiden einander widerstreitenden abstrakten Rechts- oder Tatsachensätze des Verwaltungsgerichts einerseits und des Divergenzgerichts andererseits zitiert oder - sofern sie in der Entscheidung nicht bereits ausdrücklich genannt sind - herausgearbeitet und bezeichnet werden (vgl. Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 27.11.2020 - 12 LA 155/20 -, juris Rn. 29; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 5.9.2022 - 6 A 2306/20 -, juris Rn. 34; Bayerischer VGH, Beschluss vom 10.8.2022 - 9 ZB 21.2688 -, juris Rn. 11; vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 7.3.2022 - 1 B 21.22 -, juris Rn. 30 zu §§ 132 Abs. 2 Nr. 2, 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO). Eine Divergenz liegt hingegen nicht vor, wenn das Verwaltungsgericht den Rechtssatz des Divergenzgerichts, ohne ihm inhaltlich zu widersprechen, in dem zu entscheidenden Fall rechtsfehlerhaft angewandt oder daraus nicht die Folgerungen gezogen hat, die für die Sachverhalts- und Beweiswürdigung geboten sind (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. etwa Senatsbeschlüsse vom 18.8.2020 - 10 LA 214/19 -, juris Rn. 29, sowie vom 18.1.2020 - 10 LA 3/20 -, juris Rn. 2, jeweils m.w.N.; vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 18.7.2022 - 3 B 37.21 -, juris Rn. 9; Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 22.3.2022 - 9 LA 242/21 -, juris Rn. 4). Auch ist die Berufung nicht wegen Divergenz zuzulassen, wenn sich die Entscheidung des Verwaltungsgerichts aus anderen Gründen als richtig erweist (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 5.9.2022 - 6 A 2306/20 -, juris Rn. 38 m.w.N.), da in diesem Fall das angegriffene Urteil nicht auf der Abweichung beruht.

Bei Tatsachenfragen kommt eine Divergenzzulassung ferner dann nicht (mehr) in Betracht, wenn sich seit der angeführten obergerichtlichen Grundsatzentscheidung, die einen bestimmten Tatsachensatz aufgestellt hat, dessen Verbindlichkeit aber immer unter dem Vorbehalt einer Änderung der Sachlage steht, die tatsächlichen Verhältnisse nicht nur unwesentlich verändert haben (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. etwa Senatsbeschluss vom 8.1.2020 - 10 LA 3/20 -, juris Rn. 3 m.w.N.; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 16.3.2023 - 11 A 252/23.A -, juris Rn. 5). Insbesondere im Bereich von Tatsachenfragen ist zu berücksichtigen, dass die Grundsätzlichkeit einer Aussage Geltung nur für die ihr zugrunde gelegte tatsächliche Erkenntnislage beansprucht (Senatsbeschluss vom 8.1.2020 - 10 LA 3/20 -, juris Rn. 3 m.w.N.; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 16.3.2023 - 11 A 252/23.A -, juris Rn. 5). Dabei ist nicht entscheidend, ob die wesentliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse im Zeitraum zwischen der Entscheidung des Divergenzgerichts und der angegriffenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts oder erst nach dem Ergehen der erstinstanzlichen Entscheidung eingetreten ist. Denn auch im letzteren Fall ist die Entscheidung, von der das Verwaltungsgericht abgewichen ist, überholt und als nicht mehr relevant anzusehen (Senatsbeschluss vom 8.1.2020 - 10 LA 3/20 -, juris Rn. 3; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 24.06.1999 - 14 A 2788/94.A -, juris Rn. 7 bis 11). Im Berufungsverfahren wäre die betreffende Tatsachenfrage nämlich einer völlig neuen Betrachtung unter Berücksichtigung der neueren Erkenntnismittel zu unterziehen (vgl. zur Notwendigkeit der Berücksichtigung neuerer Erkenntnismittel auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 21.04.2016 - 2 BvR 273/16 -, juris Rn. 14), ohne dass es auf die mit der Divergenzrüge angeführte unterschiedliche Würdigung der tatsächlichen Verhältnisse ankäme (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 24.06.1999 - 14 A 2788/94.A -, juris Rn. 11). In diesen Fällen kommt bei hinreichender Darlegung der betreffenden Grundsatzfrage(n) allein eine Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG in Betracht (Senatsbeschluss vom 8.1.2020 - 10 LA 3/20 -, juris Rn. 3 m.w.N.). Maßgeblich ist auch insoweit die (Rechts- und) Sachlage im Zeitpunkt der Entscheidung über den Zulassungsantrag (Happ in Eyermann, VwGO, 16. Auflage 2022, § 124 Rn. 41, § 124a Rn. 81).

Nach diesen Maßgaben hat die Beklagte den Zulassungsgrund der Divergenz nicht hinreichend dargelegt. Zwar hat sie Tatsachensätze des Senats aus seiner Entscheidung vom 7. Dezember 2021 und des Verwaltungsgerichts in dem angegriffenen Urteil gegenübergestellt, die sich im Ergebnis widersprechen. Sie hat aber nicht dargelegt, dass diese Tatsachengrundsätze trotz der vom Verwaltungsgericht herangezogenen neueren Erkenntnismittel auf nicht wesentlich geänderten Umständen beruhen.

Das Verwaltungsgericht hat seine von der Senatsentscheidung vom 7. Dezember 2021 abweichende Schlussfolgerung, nach Bulgarien rückkehrenden Schutzberechtigten drohe dort eine unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung, maßgeblich darauf gestützt, dass diese in Bulgarien kein Obdach finden könnten und es ihnen auch nicht möglich sei, ihr Existenzminimum selbst zu erwirtschaften. Bei der Beurteilung der zum Zeitpunkt seiner Entscheidung in Bulgarien vorherrschenden Umstände hat es dabei maßgeblich auch Erkenntnisse aus Quellen berücksichtigt, die zum Zeitpunkt der zur Begründung der Divergenz angeführten Entscheidung des Senats noch nicht vorgelegen haben, so etwa den Country Report: Bulgaria der Asylum Information Database vom 31. Dezember 2021 Update Februar 2022 - AIDA -, die Länderinformation der Staatendokumentation zu Bulgarien des Österreichischen Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl - BFA - vom 13. Juni 2022 sowie den Bericht von bordermonitoring eu e.V. Update Bulgarien vom 18. Juli 2022. Hierbei hat das Verwaltungsgericht etwa auch Schlüsse daraus gezogen, dass bestimmte Umstände ("Zentren für temporäre Unterbringung") in diesen aktuelleren Erkenntnismitteln nicht mehr erwähnt werden und Erkenntnisse, die zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats vorgelegen haben, als überholt angesehen (die Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt vom 25. März 2019; "Jobbörsen sind nicht erkennbar wiederholt worden"). Auch neue Umstände sind nach der Beurteilung durch das Verwaltungsgericht hinzugetreten, wie die Unterbringung und Versorgung einer Vielzahl ukrainischer Flüchtlinge in Bulgarien, die bessergestellt seien, sowie das Zurückfahren staatlicher Mittel, so dass sich die Situation auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt für rückkehrende Schutzberechtigte weiter verschärft habe. Im Ergebnis ist das Verwaltungsgericht zu der Auffassung gelangt, dass es an seiner bisherigen Einschätzung der Lebensverhältnisse in Bulgarien für anerkannt Schutzberechtigte aus dem Jahr 2020 festhalte, da sich auch aus neueren Erkenntnismitteln ergebe, dass sich die Lebensumstände für alle anerkannt Schutzberechtigten nicht erkennbar verbessert hätten. Auch den aktuelleren Erkenntnismitteln sei zu entnehmen, dass das Problem der Obdachlosigkeit eines der dringendsten Probleme für Schutzberechtige bleibe und nach wie vor sei davon auszugehen, dass es anerkannt Schutzberechtigten grundsätzlich nicht möglich sei, ihr Existenzminimum zu sichern. Die vorliegenden Erkenntnismittel würden auch nicht aufzeigen, dass die vom Senat in der Entscheidung vom 7. Dezember 2021 angeführte Verbesserung der Wirtschaftslage in Bulgarien zu einer nachhaltig positiveren Situation für Flüchtlinge und Schutzberechtigte geführt habe.

Damit hat das Verwaltungsgericht für seine Schlussfolgerung, nach Bulgarien rückkehrenden Schutzberechtigten drohe eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 4 GRC, nicht (nur) deren dortige Lebensbedingungen zu bzw. vor dem Zeitpunkt der Entscheidung des Senats vom 7. Dezember 2021 beurteilt, sondern (auch) die tatsächlichen Verhältnisse zum Zeitpunkt der angegriffenen Entscheidung am 15. Februar 2023. Auf diese zusätzlichen, gegenüber der Senatsentscheidung neueren tatsächlichen Verhältnisse ist die Beklagte mit ihrer Zulassungsbegründung nicht hinreichend eingegangen, insbesondere hat sie nicht unter Auseinandersetzung mit den vom Verwaltungsgericht angeführten neueren Quellen und Erkenntnissen aufgezeigt, dass sich die der Entscheidung des Senats zugrunde liegenden tatsächlichen Verhältnisse nicht wesentlich geändert haben und diese weiterhin Geltung beanspruchen, so dass in einem Berufungsverfahren die Tatsachenfrage einer drohenden unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung nicht einer völlig neuen Betrachtung unter Berücksichtigung der neueren Erkenntnismittel unterzogen werden müsste. Damit fehlt es letztlich an der Darlegung, dass das Verwaltungsgericht bei den von der Beklagten zur Begründung der Divergenz angeführten Tatsachensätzen - trotz der Berücksichtigung neuerer Erkenntnismittel - von den im Wesentlichen gleichen Tatsachen wie der Senat ausgegangen ist (vgl. dazu auch Stuhlfauth in: Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, 8. Auflage 2021, § 124 Rn. 51, § 124a Rn. 86) . Die Beklagte geht nur insoweit konkret auf die vom Verwaltungsgericht herangezogenen neueren Erkenntnisse ein, als sie ausführt, dass die Umstände des Ukraine-Konflikts keine nachhaltige Sachlagenänderung herbeigeführt hätten, die die Grundsatzentscheidung des Senats in Frage zu stellen vermöge, da überwiegend Frauen und Kinder aus der Ukraine geflohen seien und Bulgarien auch eher nur ein Transitland sei. Dies ist aber nur ein Aspekt der vom Verwaltungsgericht berücksichtigten neueren Umstände, zu dem die Beklagte überdies auch nicht ausreichend, insbesondere unter Auseinandersetzung mit der vom Verwaltungsgericht herangezogenen Quellen aufzeigt, dass die diesbezüglichen vom Verwaltungsgericht angeführten Erkenntnisse nicht eine Neubeurteilung der tatsächlichen Verhältnisse in Bulgarien erforderlich machen würden. Im Übrigen hätte die Beklagte mit diesen Ausführungen auch nicht den von ihr nicht angeführten Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG dargelegt, da es insoweit an einer hinreichenden Auseinandersetzung mit den Ausführungen des Verwaltungsgerichts mangelt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).