Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 27.10.2010, Az.: 10 LA 36/08
Fahrlässiges Verschulden als offensichtlicher Irrtum bei der Festsetzung von Zahlungsansprüchen im Rahmen der Agrarförderung; Berücksichtigung eines betriebsindividuellen Betrages im Zusammenhang mit Milchreferenzmengen bei der Festsetzung von Zahlungsansprüchen; Anerkennung eines offensichtlichen Fehlers oder Irrtums bei einem Versehen des Antragstellers unterhalb der Schwelle der leichten Fahrlässigkeit; Agrarförderung und Agrar-Umweltmaßnahmen 2005; Fahrlässiges Verschulden des Antragstellers an einem Fehler im Antragsformular; Irrtumsbegriff in der europäischen Agrarförderungsverordnung
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 27.10.2010
- Aktenzeichen
- 10 LA 36/08
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2010, 26910
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2010:1027.10LA36.08.0A
Verfahrensgang
Rechtsgrundlagen
- Art. 12 VO 2419/2001/EG
- Art. 19 VO 796/2004/EG
- § 124a VwGO
Amtlicher Leitsatz
- 1.
Ein anzuerkennender Irrtum im Sinne des Art. 19 VO (EG) Nr. 796/2004 dürfte in der Regel zumindest dann ausscheiden, wenn die Unrichtigkeit des Antrags auf einer mittleren oder groben, bewussten Fahrlässigkeit des Antragstellers beruht.
- 2.
An der Offensichtlichkeit eines Irrtums im Sinne des Art. 19 VO (EG) Nr. 796/2004 fehlt es, wenn auf ihn nur anhand eines Datenabgleichs hätte geschlossen werden können, der in dem Verwaltungsverfahren über den Antrag, dessen Berichtigung erstrebt wird, weder erfolgt ist noch im Hinblick auf den Untersuchungsgrundsatz geboten war.
Gründe
I.
Der Kläger begehrt die Berücksichtigung eines weiteren betriebsindividuellen Betrages im Zusammenhang mit Milchreferenzmengen bei der Festsetzung seiner Zahlungsansprüche.
Am 26. April 2005 stellte er bei der Kreisstelle der Landwirtschaftskammer Hannover in Stade einen Antrag auf Festsetzung von Zahlungsansprüchen sowie den Sammelantrag Agrarförderung und Agrar-Umweltmaßnahmen 2005. Die Eintragungen in dem Antragsformular und die Unterschrift des Antragstellers am Ende des Formblatts unterscheiden sich sowohl im Schriftbild als auch in ihrer Farbe. In dem Antragsformular machte der Antragsteller unter Ziffer I Nrn. 4.4 bis 4.4.5 keine ergänzende Angaben zur Festsetzung des betriebsindividuellen Betrages im Zusammenhang mit Milchreferenzmengen, obwohl ihm in der Zeit vom 1. April 2004 bis zum 31. März 2005 eine einzelbetriebliche Milchreferenzmenge zur Verfügung gestanden hatte.
Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte unter Änderung ihres Festsetzungsbescheides vom 7. April 2006 verpflichtet, dem Kläger einen zusätzlichen betriebsindividuellen Betrag für das Kalenderjahr 2005 nach Abzug von 1% für die nationale Reserve in Höhe von 5.236,98 Euro zu gewähren. Zur Begründung dieser Entscheidung hat es im Wesentlichen Folgendes ausgeführt: Bei den unter Ziffer [I Nr.] 4.4 des Antrags unterlassenen Angaben handele es sich um einen offensichtlichen Irrtum des Klägers im Sinne von Artikel 19 VO (EG) Nr. 796/2004, sodass die tatsächlich vorhandene Milchreferenzmenge des Klägers bei der Festsetzung der Zahlungsansprüche zugrunde zu legen sei. Ein offensichtlicher Fehler könne - vorausgesetzt, der Betriebsinhaber sei nicht bösgläubig oder handele in Betrugsabsicht - auch dann vorliegen, wenn die fehlerhafte Angabe bei einem Abgleich mit unabhängigen Datenbanken auffalle, soweit es sich für einen verständigen und objektiven Beobachter aufdränge, dass es sich um ein offensichtliches Versehen handele. Der vorliegende Fall sei damit vergleichbar. Für eine Offensichtlichkeit spreche hier, dass der Kläger in dem Vorjahr die Milchprämie 2004 beantragt und ausweislich der Meldungsübersicht zur Milchreferenzmenge (HI-Tier) vom 4. Dezember 2007 auch zum 31. März 2004 bereits über eine Milchreferenzmenge von 223.390 kg (Lieferantennummer: 5410) verfügt habe, was die Beklagte den Antragsunterlagen (Milchprämie 2004) und der HI-Tier Meldungsliste Milchreferenzmenge habe entnehmen können.
Gegen die erstinstanzliche Entscheidung wendet sich die Beklagte mit einem Antrag auf Zulassung der Berufung, den sie unter anderem auf den Zulassungsgrund des Bestehens ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) stützt.
II.
Der Antrag der Beklagten, die Berufung zuzulassen, hat Erfolg, weil ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils dargelegt sind und vorliegen (§ 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO).
Ernstliche Zweifel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, die die Zulassung der Berufung rechtfertigen, sind zu bejahen, wenn auf Grund der Begründung des Zulassungsantrags und der angefochtenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts gewichtige gegen die Richtigkeit der Entscheidung sprechende Gründe zutage treten, aus denen sich ergibt, dass ein Erfolg der erstrebten Berufung mindestens ebenso wahrscheinlich ist wie ein Misserfolg. Das ist der Fall, wenn ein tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird (BVerfG, Beschl. v. 23. 6. 2000 - 1 BvR 830/00 -, DVBl. 2000, 1458 [1459]). Die Richtigkeitszweifel müssen sich allerdings auch auf das Ergebnis der Entscheidung beziehen; es muss also mit hinreichender Wahrscheinlichkeit anzunehmen sein, dass die Berufung zu einer Änderung der angefochtenen Entscheidung führen wird (Nds. OVG, Beschl. v. 19. 3. 2010 - 10 LA 119/08 - und Beschl. v. 17. 2. 2010 - 5 LA 342/08 -, Letzterer veröffentlicht in der Rechtsprechungsdatenbank der nds. Verwaltungsgerichtsbarkeit und bei [...]; BVerwG, Beschl. v. 10. 3. 2004 - BVerwG 7 AV 4.03 -, DVBl. 2004, 838 [839]). Die Anforderungen, die an den Umfang und die Dichte der Darlegung der ernstlichen Zweifel zu stellen sind, hängen auch von der Intensität ab, mit der die Entscheidung des Verwaltungsgerichts begründet worden ist (Nds. OVG, Beschl. v. 1. 4. 2010 - 10 LA 152/08 -).
Infolge der knappen Subsumtion der Vorinstanz hat die Beklagte das Bestehen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils hier (noch) hinreichend dargelegt. Denn sie macht u.a. geltend, das Verwaltungsgericht habe verkannt, dass es ihr rechtlich nicht geboten sei, im Rahmen der Prüfung, ob ein offensichtlicher Irrtum vorliege, bei jedem Antragsteller automatisch zu prüfen, ob dieser 2004 Milchprämie beantragt habe und/oder ob ihm in der HI-Tierdatenbank Milchreferenzmengen zugeordnet seien. Es könne nicht ihre Aufgabe sein, sämtliche Anträge mittels Hinzuziehung weiterer Unterlagen aus der Vergangenheit auf mögliche Fehler hin zu untersuchen. Vorliegend habe der Kläger überhaupt keine Angaben zur Milch gemacht, obwohl das Erfordernis diesbezüglich aus dem Antragsformular - aufgrund der Ausführlichkeit der vorzunehmenden Angaben und des dafür erforderlichen Platzes - eindeutig hervorgehe. Ein offensichtlicher Fehler liege auch dann nicht vor, wenn die Angaben auf Nachlässigkeit beim Ausfüllen der Antragsunterlagen beruhten.
Diese Argumentation führt zum Vorliegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils in seinem Ergebnis. Denn sie lässt ernstliche Zweifel sowohl an der die Entscheidung tragenden Annahme der Vorinstanz aufkommen, es habe ein Irrtum des Klägers vorgelegen als auch an derjenigen, dass dieser Irrtum offensichtlich gewesen sei.
Aus dem Wortlaut des Art. 19 VO (EG) Nr. 796/2004 und der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu Art. 12 VO (EG) Nr. 2419/2001, die auf Art. 19 VO (EG) Nr. 796/2004 übertragen werden kann (Nds. OVG, Beschluss vom 20. Juli 2010 - 10 LA 142/08 -), lässt sich Folgendes herleiten: Der Irrtumsbegriff des Art. 19 VO (EG) Nr. 796/2004 enthält eine objektive Komponente, die in der Abweichung des "Irrtümlichen" von einem "Richtigen" besteht, und eine subjektive Komponente, die sich auf die Kenntnis und die Vorwerfbarkeit dieser Abweichung bezieht. Der genannten zweiten Komponente ist das Erfordernis der "Gutgläubigkeit" im Sinne des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. August 2009 - BVerwG 3 C 15.08 - (RdL 2010, 162 ff., hier zitiert nach [...], Langtext Rn. 21) zuzuordnen, das die Annahme eines Irrtums für bestimmte Fallge-staltungen in Anknüpfung an die Schuldform ausschließt. Dieser Ausschluss gilt ohne weiteres für den Vorsatz. Wer also die fehlerhafte Abweichung des "Irrtümlichen" vom "Richtigen" als solche erkennt und will (etwa in Betrugsabsicht) oder wer sie doch zumindest für möglich hält und billigend in Kauf nimmt, der ist nicht gutgläubig und irrt sich nicht. Im Übrigen unterliegt die Frage, ob ein Antragsteller in gutem Glauben gehandelt hat, zwar der Würdigung im Einzelfall. Auch bestimmte Fälle der Fahrlässigkeit dürften aber in der Regel von dem Anwendungsbereich des Art. 19 VO (EG) Nr. 796/2004 auszunehmen sein. Es bedarf hier allerdings keiner abschließenden Klärung, ob und welche Fallgruppen sich insoweit bilden lassen. Denn viel spricht dafür, dass ein anzuerkennender Irrtum in der Regel zumindest dann ausscheidet, wenn die Unrichtigkeit des Antrags auf einer mittleren oder groben, bewussten Fahrlässigkeit (vgl. zum Begriff: Creifelds, Rechtswörterbuch, 19. Aufl. 2007, Stichwörter "Verschulden", Nr. 2 Buchst. a, Doppelbuchst. bb, und "Schuld", Nr. 1) beruht, die darin besteht, dass der Antragsteller das Antragsformular von einem Dritten ausfüllen ließ und es dann sorgfaltspflichtwidrig ohne hinreichende eigene Lektüre unterzeichnete, weil er hoffte, der Antrag werde gleichwohl keine Fehler enthalten. Indizien für eine solche zumindest mittlere, bewusste Fahrlässigkeit liegen insbesondere vor, wenn sich das Schriftbild der Eintragungen in dem Antragsformular von demjenigen der Unterzeichnung unterscheidet und sich der geltend gemachte Irrtum auf eine Unvollständigkeit bezieht, die sich aufgrund ihrer Ausdehnung (hier eine ganze Seite) über das Formular dem Antragsteller bereits bei oberflächlicher eigener Lektüre des Formblatts optisch hätte aufdrängen müssen. Letzteres macht die Beklagte geltend.
Ernstlichen Zweifeln unterliegt auch die Richtigkeit der Annahme der Vorinstanz, der von ihr bejahte Irrtum des Klägers sei offensichtlich. Denn nach der auch insoweit übertragbaren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Urt. v. 26. 8. 2009 - BVerwG 3 C 15.08 -, [...], Langtext Rn. 20 und Rn. 23) setzt die Offensichtlichkeit eines Irrtums im Sinne des Art. 19 VO (EG) Nr. 796/2004 Folgendes voraus: Die Irrtümlichkeit des zu berichtigenden Antragsinhalts muss sich für jeden Dritten zweifelsfrei ergeben, und zwar aus dem Zusammenhang der in dem Antrag abgegebenen Erklärungen, aus den Vorgängen bei der Abgabe dieser Erklärungen oder aus solchen Umständen der Antragstellung, auf die [bei der Antragsbearbeitung] zurückgegangen werden muss. Daraus dürfte zu folgern sein, dass es an der Offensichtlichkeit eines Irrtums fehlt, wenn auf ihn nur anhand eines Datenabgleichs hätte geschlossen werden können, der der zuständigen Behörde zwar möglich gewesen wäre, der aber in dem Verwaltungsverfahren (§§ 1 Abs. 1 NVwVfG, 9 VwVfG) über den Antrag, dessen Berichtigung erstrebt wird, weder erfolgt ist noch im Hinblick auf § 24 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Halbsatz 1 und Abs. 2 VwVfG (i.V.m. § 1 Abs. 1 NVwVfG) geboten war. Das Verwaltungsgericht hat nicht festgestellt, dass die Beklagte bereits in dem Verwaltungsverfahren, das mit dem Bescheid vom 7. April 2006 abschloss, die "Antragsunterlagen (Milchprämie 2004)" und die "HI-Tier Meldungsliste Milchreferenzmenge" einsah. Es hat auch nicht begründet, weshalb der Untersuchungsgrundsatz eine solche Einsichtnahme der Beklagten im Zuge des genannten Verwaltungsverfahrens erfordert hätte.
Da die Berufung bereits aus den vorgenannten Gründen zuzulassen ist, erübrigt sich eine Auseinandersetzung mit dem weiteren Zulassungsvorbringen der Beklagten.
Das Zulassungsverfahren wird unter dem Aktenzeichen
10 LB 162/10
als Berufungsverfahren fortgeführt; der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht (§ 124a Abs. 5 Satz 5 VwGO).