Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 19.10.2010, Az.: 11 ME 316/10

Bundesamt für Migration und Flüchtlinge als aussschließlich entscheidungsbefugte Behörde für die Entscheidung über das Vorliegen eines materiellen Asylvorbringens; Rechtmäßigkeit der Ablehnung des Antrags eines Türken gegen seine Abschiebung bei Klage gegen die Verwaltungsbehörde trotz eines materiellen Asylvorbringens

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
19.10.2010
Aktenzeichen
11 ME 316/10
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2010, 25766
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2010:1019.11ME316.10.0A

Redaktioneller Leitsatz

Über das zutreffende rechtliche Verständnis der Frage, unter welchen Voraussetzungen auch die Familie eine soziale Gruppe i.S.d. § 60 Abs. 1 AufenthG darstellt und eine an die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe anknüpfende Gefahr für Leib oder Leben wegen Blutrache flüchtlingsanerkennungsrelevant sein kann, hat zunächst das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zu entscheiden.

Gründe

1

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts hat keinen Erfolg.

2

Der 1988 im Bundesgebiet geborene, ausreisepflichtige Antragsteller - türkischer Staatsangehöriger - wendet sich unter Berufung auf eine ihm in seinem Heimatland drohende Blutrache, dort unzureichende Behandlungsmöglichkeiten seiner geltend gemachten psychischen Erkrankungen und eine dadurch bedingte Reiseunfähigkeit gegen seine von dem Antragsgegner in Aussicht genommene Abschiebung. Das Verwaltungsgericht hat den Antrag abgelehnt. Bei den beiden erstgenannten Gesichtspunkten handele es sich um etwaige Gründe für eine Flüchtlingsanerkennung und damit verbundene zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, über deren Vorliegen folglich nicht der Antragsgegner als Ausländerbehörde, sondern allein das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zu entscheiden habe. Eine Reiseunfähigkeit des Antragstellers, über die der Antragsgegner zu befinden habe, bestehe nach der nachvollziehbaren und überzeugenden Stellungnahme der Amtsärztin Frau B. nicht.

3

Die gegen diese Beschwerde gerichteten und vom Senat nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO zu prüfenden Einwände des Antragstellers greifen nicht durch.

4

Wie auch der Antragsteller nicht in Abrede stellt, hat über ein materielles Asylvorbringen i.S.d. § 13 AsylVfG ausschließlich das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, also nicht die Ausländerbehörde zu entscheiden. Dem Verwaltungsgericht ist auch in der Annahme zu folgen, dass die Berufung des Antragsstellers auf eine ihm drohende Blutrache noch als i.S.d. § 60 Abs. 1 AufenthG potentiell erhebliches Vorbringen und damit materiell als "Asylantrag" anzusehen ist. In der Rechtsprechung ist bislang nicht abschließend geklärt, ob und unter welchen Voraussetzungen auch die (Klein-)Familie eine soziale Gruppe i.S.d. § 60 Abs. 1 AufenthG darstellen und demnach eine an die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe anknüpfende Gefahr für Leib oder Leben wegen Blutrache flüchtlingsanerkennungsrelevant sein kann. Während etwa der VGH München (Urt. v. 9.8.2010 - 11 B 09.300091 -, [...], Rn. 38) die Frage ohne nähere Begründung verneint, sie vom OVG Hamburg in der bereits vom Verwaltungsgericht zitierten Rechtsprechung (Beschl. v. 5.12.2008 - 5 Bf 45/07 AZ - [...]) unter Bezugnahme auf das Oberverwaltungsgericht Schleswig (Urt. v. 27.1.2006 - 1 LB 22/05 -, InfAuslR 2007, 256 ff. ) differenziert beantwortet wird, hat sie der 2. Senat des erkennenden Gerichts offen gelassen (vgl. Urt. v. 24.3.2009 - 2 LB 643/07 -, [...], Rn. 54) und wird sie jedenfalls in erstinstanzlichen Entscheidungen (und in der Literatur) teilweise bejaht (vgl. die Nachweise bei Hruschka/Löhr, NVwZ 2009, 205 ff. unter IV 2). Über das zutreffende rechtliche Verständnis - und natürlich das Vorliegen der erforderlichen tatsächlichen Voraussetzungen - hat nicht der Antragsgegner, sondern (zunächst) das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zu entscheiden. Der Antragsteller wird durch den damit verbundenen Verweis auf die von ihm ursprünglich selbst angekündigte Asylantragstellung (hinsichtlich der Berufung auf eine ihm drohende Blutrache) also nicht auf einen "ersichtlich aussichtlosen" Rechtsweg verwiesen. Ihm ist auch hinreichend Zeit und Gelegenheit zu der von ihm nunmehr abgelehnten Asylantragstellung gegeben worden.

5

Soweit das Verwaltungsgericht weiterhin angenommen hat, damit sei gemäß § 31 Abs. 3 AsylVfG zugleich auch eine - die Entscheidungsbefugnis des Antragsgegners als Ausländerbehörde ausschließende - Zuständigkeit des genannten Bundesamtes zu Feststellungen über das Vorliegen eines (krankheitsbedingten) Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 AufenthG gegeben, wird aus dem Beschwerdevorbringen schon nicht deutlich, ob und ggf. welcher Einwand insoweit genau erhoben werden soll. Im Übrigen wird mit dem ggf. hierauf bezogenen Vortrag des Antragstellers, "der Schwerpunkt seines Vorbringens liege eindeutig auf der Gefahr ... einer Retraumatisierung ... aufgrund deren subjektiver Bedingtheit durch die dort drohende Gefahrenlage", eingeräumt, dass zwischen dem vom Verwaltungsgericht als potentiell flüchtlingsrelevant eingestuften Vorbringen hinsichtlich der Blutrache und den weiterhin vorgetragenen psychischen Erkrankungen ein Zusammenhang bestehe. Warum gleichwohl entgegen der Begründung des Verwaltungsgerichts getrennte Entscheidungszuständigkeiten bestehen sollen, wird vom Antragsteller nicht dargelegt. Bei dieser Sachlage stellt sich im Beschwerdeverfahren auch nicht die Frage, ob der Ausländer selbst dann auf eine Asylantragstellung zu verweisen ist, wenn sich das diesbezügliche Vorbringen und gesonderte (krankheitsbedingte) Abschiebungshindernisse eindeutig voneinander trennen lassen.

6

Schließlich greifen auch die Einwände des Antragstellers gegen die Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht durch, dass er eine Reiseunfähigkeit als inlandsbezogenes und damit vom Antragsgegner als Ausländerbehörde zu beurteilendes Vollstreckungshindernis i.S.d.§ 60a Abs. 2 AufenthG oder zumindest insoweit weiterhin bestehenden Aufklärungsbedarf nicht - wie nach § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO sowie § 82 Abs. 1 AufenthG erforderlich - glaubhaft gemacht habe.

7

Gemäß § 60 a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist. Reiseunfähigkeit führt zur Unmöglichkeit der Abschiebung. Sie liegt vor, wenn der Ausländer aus gesundheitlichen Gründen gar nicht transportfähig ist oder wenn das ernsthafte Risiko besteht, dass sich der Gesundheitszustand des Ausländers unmittelbar durch die Abschiebung, d.h. als unmittelbare Folge davon wesentlich verschlechtern wird. Auch eine konkrete, ernsthafte Suizidgefährdung mit Krankheitswert kann zu einem solchen Abschiebungshindernis führen.

8

Dass der Antragsteller gar nicht transportfähig sei, macht er selbst nicht geltend. Die stattdessen von ihm vorgetragene Gesundheitsgefahr als unmittelbare Folge der Abschiebung ist nicht glaubhaft gemacht worden. Sie ist von der im Gesundheitsamt des Antragsgegners tätigen Frau B., Fachärztin für Psychiatrie, nach aktueller vorhergehender Untersuchung des Antragstellers und Auswertung der Berichte von Dr. C. (Amtsarzt des Gesundheitsamtes D. und Facharzt im Psychiatrischen Behandlungszentrum D.-Nord) ausdrücklich und nachvollziehbar verneint worden, da sich der Antragsteller in einem guten Allgemein- und Ernährungszustand befand, keinerlei Hinweise auf ein akutes eigengefährdendes Verhalten vorlagen und der Antragsteller durch die aktuelle Medikation auch in seiner affektiv-emotionalen Kontrolle, d.h. hinsichtlich der Impulskontrollstörung deutlich stabilisiert sei. Die von Dr. C. aufgeführten (weiteren) Diagnosen, sowohl die bipolare Psychose als auch eine PTBS, konnten danach nicht verifiziert werden. Welche fachlichen Mängel hinsichtlich der hier aus den vorgenannten Gründen allein erheblichen Beurteilung der Reisefähigkeit des Antragstellers dieses Gutachten konkret aufweisen und deshalb unverwertbar oder zumindest unzureichend sein soll, trägt der Antragsteller nicht vor und ist auch nicht zu erkennen. Soweit er rügt, dass die weiteren von Dr. C. angeführten Gesichtspunkte der Verschlechterung der familiären Einbindung und der Gefahr einer Retraumatisierung unberücksichtigt geblieben seien, führt auch dies zu keiner anderen Beurteilung. Eine Retraumatisierung war schon deshalb nicht zu berücksichtigen, weil das Vorliegen einer PTBS, d.h. einer vorhergehenden Traumatisierung von Frau B. nicht festgestellt worden ist. Die gegenteilige - soweit ersichtlich ohne nähere Begründung erstmals im Schreiben vom 18. Juni 2008 gestellte - Diagnose durch Dr. C., der den Antragsteller nach seinen Angaben behandelt, genügt nicht den an die Feststellung dieses komplexen Krankheitsbildes zu stellenden Anforderungen (vgl. BVerwG, Urt. v. 11.9.2007 - 10 C 8/07 -, BVerwGE 129, 251 ff.), lässt etwa vollkommen offen, welches Ereignis bei dem im Bundesgebiet geborenen Kläger überhaupt zur Traumatisierung geführt haben soll, und gibt - zumal im vorläufigen Rechtsschutzverfahren - deshalb auch keinen Anlass zu weiteren gerichtlichen oder behördlichen Aufklärungsmaßnahmen von Amts wegen. Eine ernsthafte Leibes- oder Lebensgefahr unmittelbar durch die abschiebungsbedingte Trennung von seinen im Bundesgebiet lebenden Familienangehörigen hat Dr. C. nicht behauptet - die Angaben in seinem Schreiben vom 16. Juli 2010 beziehen sich auf einen Erfolg der Behandlung - und wäre auch nicht nachvollziehbar, zumal der Vater des Antragstellers nach einem vorübergehenden Besuch des Bundesgebiets in der Türkei als Zielstaat der Abschiebung lebt, der Antragsteller also auch dort familiäre Unterstützung hat. Soweit sich der Antragsteller schließlich auf eine Gefahr der Selbstgefährdung unter Berufung auf eine Stellungnahme von Dr. C. vom 2. November 2007 bezieht, ist diese Angabe ersichtlich nicht mehr hinreichend aktuell und damit ungeeignet, die gegenteiligen aktuellen Feststellungen von Frau B. in Zweifel zu ziehen. Im Übrigen ist dem Verwaltungsgericht auch in der Annahme zu folgen, dass Dr. C. in den eingereichten Stellungnahmen ohnehin nicht ausreichend zwischen - hier unerheblichen - zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernissen und der Reiseunfähigkeit als inlandsbezogenem Vollstreckungshindernis differenziert. Aus den im Beschwerdeverfahren - mit einer fehlerhaften Fundstelle im internet - zitierten, allgemein in D. und damit auch von Dr. C. angewandten Begutachtungsgrundsätzen ergibt sich nichts anderes. Darin (Stand 11/2005) werden schon die maßgeblichen gesetzlichen Vorschriften falsch interpretiert, indem etwa ausreisepflichtige Ausländer generell als "Flüchtlinge" und die Duldung als befristete Aufenthaltserlaubnis bezeichnet werden (vgl. etwa S. 8). Außerdem wird keine klare Trennung zwischen den beiden zuvor genannten Untersuchungsgegenständen herausgearbeitet und anerkannt, sondern "die Reduktion auf inlandsbezogene Abschiebungshindernisse als eine fachlich unzulässige Einengung" für die ärztliche und psychologische Begutachtung bezeichnet (S. 33).