Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 11.10.2010, Az.: 7 ME 63/10
Versagung einer Tätigkeit als Nachhilfelehrer auch für erwachsene Nachhilfeschüler bei exhibitionistischen Handlungen gegenüber Jugendlichen und Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 11.10.2010
- Aktenzeichen
- 7 ME 63/10
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2010, 25596
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2010:1011.7ME63.10.0A
Rechtsgrundlagen
- § 37 Abs. 1 VwVfG
- § 35 Abs. 1 S. 1 GewO
- § 174 Abs. 1 StGB
- § 176 StGB
Fundstelle
- DÖV 2011, 41
Redaktioneller Leitsatz
Unzuverlässigkeitsgründe nach § 35 Abs. 1 S. 1 GewO, die in einer Verurteilung nach § 174 Abs. 1 StGB oder § 176 StGB liegen, können nicht ohne weiteres im Wege der Verallgemeinerung auf den Bereich des allgemeinen sozialen und gewerblichen Umfelds übertragen werden.
Gründe
Mit dem vom Antragsteller teilweise angegriffenen Beschluss hat das Verwaltungsgericht es abgelehnt, die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen den im Tenor bezeichneten Bescheid der Antragsgegnerin wiederherzustellen bzw. anzuordnen.
Mit dem Bescheid hat die Antragsgegnerin dem Antragsteller "1. die selbständige Ausübung des Gewerbes Erteilung von Nachhilfeunterricht, 2. die selbständige Ausübung aller anderen Gewerbe, bei denen <er> Minderjährige ausbildet, anweist oder beaufsichtigt und 3. die Tätigkeit als Vertretungsberechtigter eines Gewerbetreibenden oder als einer mit der Leitung eines Gewerbebetriebs beauftragten Person" untersagt. Sie hat weiter die sofortige Vollziehung dieser Verbote angeordnet und bei deren Nichtbefolgung die Festsetzung eines Zwangsgelds von 2.000,00 Euro angedroht.
Zur Begründung hat die Antragsgegnerin dargelegt, der Antragsteller besitze nicht die erforderliche Zuverlässigkeit für die Ausübung gewerblicher Tätigkeiten, bei denen er Kinder und Jugendliche ausbilde, anweise oder beaufsichtige. Dies werde durch eine Reihe von einschlägigen Vorkommnissen 2008 und 2009 belegt, bei denen er sich gegenüber Nachhilfeschülern exhibitionistisch benommen und sich im Internet Videodateien mit nackten Jugendlichen verschafft habe. Bereits 1992 sei er wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen, 1995 und 1998 wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern zu Freiheitsstrafen verurteilt worden, ohne dass ihn dies habe bewegen können, sein Verhalten zu ändern. Insbesondere der Schutz von Kindern und Jugendlichen mache es nötig, dem Antragsteller gewerbliche Tätigkeiten im angeordneten Umfang und sofort vollziehbar zu untersagen.
Das Verwaltungsgericht hat in seinem Beschluss die Berechtigung des Sofortvollzugs bestätigt. Das Verhalten des Antragstellers lasse weitere sexuell bedingte Straftaten im Umgang mit Kindern und Jugendlichen befürchten. Das mache ihn gewerblich unzuverlässig und rechtfertige die angeordneten Maßnahmen.
Mit seiner fristgerecht eingelegten Beschwerde bestreitet der Antragsteller die Rechtmäßigkeit des Untersagungsbescheides und der sofortigen Vollziehung, soweit ihm dem Wortlaut der Entscheidung nach verboten werde, auch Volljährigen Nachhilfeunterricht, etwa im Bereich Erwachsenenbildung, zu erteilen. Gründe dafür würden weder im Bescheid angeführt noch vom Verwaltungsgericht erörtert.
Der Antragsteller hat auch in der Hauptsache seine Anfechtungsklage auf diesen Punkt reduziert.
Die Antragsgegnerin hält, wie sie im Beschwerdeverfahren ausgeführt hat, die Unzuverlässigkeitsgründe für so gravierend, dass auch einem Erwachsenen nicht zugemutet werden könne, sich von dem Antragsteller unterrichten zu lassen. Es sei nicht zu erwarten, dass sich der Antragsteller gegenüber volljährigen Schülerinnen anders als gegenüber noch minderjährigen verhalten werde.
II.
Die Beschwerde ist begründet. Die vom Antragsteller dargelegten Gründe gebieten, dem Aussetzungsbegehren im beantragten Umfang zu entsprechen, § 146 Abs. 4 S. 3, S. 6 VwGO.
Es ist bereits fraglich, ob die Begründung der sofortigen Vollziehung, soweit sie noch im Streit ist, den Erfordernissen des§ 80 Abs. 3 S. 1 VwGO genügt. Notwendig ist insoweit eine auf die Umstände des konkreten Falles bezogene nicht formelhafte Darlegung, weshalb dem Interesse an der sofortigen Vollziehung gegenüber dem Aufschubinteresse des Betroffenen der Vorrang eingeräumt wird (Schoch in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Rn. 178 zu § 80). Auf eine gewerbliche Unzuverlässigkeit des Antragstellers bei der Unterrichtung Volljähriger wird weder in der Begründung der Anordnungen des Bescheides noch in der Begründung des Sofortvollzug konkret eingegangen. Auch das Verwaltungsgericht hat sich mit einer Erstreckung der im Bescheid angeführten Unzuverlässigkeitsgründe auf Erwachsene nicht auseinandergesetzt, möglicherweise in der beim Lesen des Bescheides nicht fernliegenden Annahme, dem Antragsteller seien lediglich gewerbliche Betätigungen unter Beteiligung Minderjähriger untersagt worden.
Auch wenn man diesen Mangel, der vorliegend hinsichtlich der Rechtmäßigkeit des Bescheides zugleich einen Verstoß gegen den Bestimmtheitsgrundsatz darstellt, § 37 Abs. 1 VwVfG, durch die Klarstellung im Beschwerdeerwiderungsschriftsatz des Antragsgegners vom 26. Juli 2010 als ausgeräumt ansähe (vgl. BVerwG, Beschl. v. 21. Juni 2006 - 4 B 32.06 -, NVwZ-RR 2006, 589; Kopp/Ramsauer, VwVfG, 10. A., RdNr. 17 zu § 37), bleibt es beim Erfolg der Beschwerde, weil auch die nachgeschobenen Gründe den Sofortvollzug im angegriffenen Punkt nicht tragen. Wie die Strafvorschriften etwa des § 174 Abs. 1 StGB oder des § 176 StGB zeigen, nach denen der Antragsteller in der Vergangenheit verurteilt worden ist und die im angefochtenen Bescheid besonders herausgestellt werden, schützt die Rechtsordnung die sexuelle Selbstbestimmung von Kindern und Jugendlichen aus naheliegenden berechtigten Gründen in besonderer Weise. Unzuverlässigkeitsgründe, die in diesem Bereich ihre Wurzel haben, können deshalb nicht ohne weiteres im Wege der Verallgemeinerung auf den Bereich des allgemeinen sozialen und gewerblichen Umfelds übertragen werden. Erwachsenen mutet die Rechtsordnung gerade im sittlichen Bereich in erheblich größerem Umfang zu, ihre Belange gegenüber anderen selbst zu vertreten und zu wahren. Es mag sein, dass, wie der Antragsgegner im Nachhinein und erstmals ausgeführt hat, es "auch einem Erwachsenen nicht zugemutet werden kann, sich vom Antragsteller unterrichten zu lassen". Dies wie auch die Überlegung, dass die Nachhilfeschülerinnen und -schüler bisweilen älter als 18 sein können, besagen aber noch nicht, dass damit gleichsam automatisch Unzuverlässigkeit im Sinne von § 35 Abs. 1 S. 1 GewO vorliegt, die eine Gewerbeuntersagung rechtfertigt. Denn als staatliche Zwangsmaßnahme muss diese "zum Schutz der Allgemeinheit erforderlich" sein. Nicht jede Belästigung und nicht einmal jedes drohende normwidrige Verhalten gegenüber Erwachsenen führen als solche bereits zu einer derartigen Erforderlichkeit. Die von der Antragsgegnerin nachgeschobene Begründung reicht jedenfalls nicht aus, um im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes auch die "Volluntersagung" als offensichtlich rechtmäßig zu bewerten. Unter diesen Umständen überwiegt das Interesse des Antragstellers an der - minimalen - Sicherung seiner wirtschaftlichen Existenz das öffentliche Interesse an einer Durchsetzung des Verbotes bereits vor Bestands- oder Rechtskraft der Hauptsacheentscheidung, § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO.