Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 21.04.2022, Az.: 6 A 5654/21

Christentum; Islam; Konversion; Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen Konversion einer Muslima aus dem Iran zum Christentum

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
21.04.2022
Aktenzeichen
6 A 5654/21
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2022, 64141
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGHANNO:2022:0421.6A5654.21.00

Verfahrensgang

nachfolgend
OVG Niedersachsen - 30.05.2023 - AZ: 8 LA 76/22

Tenor:

Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 16.09.2021 verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Vollstreckungsschuldnerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Vollstreckungsgläubigerin zuvor Sicherheit in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand

Die Klägerin ist iranische Staatsangehörige und war schiitischer Religionszugehörigkeit. Die Klägerin reiste in das Bundesgebiet ein und stellte einen Asylantrag. Das Bundesamt lehnte den Antrag ab. Die Klägerin wurde getauft.

Die Klägerin hat Klage erhoben. Zur Klagebegründung beruft sie sich auf den Glaubensübertritt und die entsprechenden Aktivitäten in Deutschland.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 16.09.2021 zu verpflichten, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise den subsidiären Schutz zuzuerkennen, hilfsweise die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen,

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes Bezug genommen. Der Inhalt dieser Akten und die den Beteiligten vorab angezeigten Erkenntnismittel waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist in ihrem Hauptantrag begründet. Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge erweist sich im entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 AsylVfG) als rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, soweit es die Beklagte darin abgelehnt hat, der Klägerin wegen des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Klägerin erfüllt die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Am 9. September 2008 ist der Gesetzentwurf der sog. "apostasy-bill" in das Iranische Parlament eingebracht worden. Dieser sieht vor, dass der Abfall eines Muslims, der sich mit Eintritt der Volljährigkeit zum islamischen Glauben bekannt hat und später den Islam verlässt, künftig strafbar ist und ausschließlich mit der Todesstrafe geahndet wird (Auswärtiges Amt - Botschaft Teheran, Unterrichtung vom 6.10.2008 zum Stand des Gesetzgebungsverfahrens). Der Gesetzentwurf ist vom iranischen Parlament in erster Lesung gebilligt und am 11. November 2008 an den Justizausschuss, dessen Angelegenheiten nicht öffentlich verhandelt werden, überwiesen worden (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Iran vom 23.2.2009, S. 26). Da die Bestrafung der Apostasie ihren Ursprung im historischen religiösen Kernstrafrecht (Hadd-Delikt) hat, ist es zweifelhaft, ob das Rückwirkungsverbot des iranischen Strafrechts auch auf bereits vollzogene Glaubensübertritte Anwendung finden wird (Max-Planck-Institut Freiburg, Gutachten vom 13.11.2008 für das OVG Bautzen). Ebenso ist es noch offen, wann mit dem Inkrafttreten der Strafvorschrift gerechnet werden muss, wobei allerdings das Auswärtige Amt (Lagebericht Iran vom 23.2.2009, a.a.O.) nicht mit einer Abmilderung der Strafandrohung rechnet. Allerdings ist es denkbar, dass sich die Tatsache der konkreten Gesetzgebungsabsicht schon jetzt auf das Verhalten staatlicher iranischer Stellen gegenüber ehemaligen Muslimen, die zum Christentum konvertiert sind, auswirkt. Denn schon bisher sprachen angesichts der vorliegenden Erkenntnislage und nach der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte (s. hierzu im Einzelnen: VG Stuttgart, Urteil vom 21.1.2008 - A 11 K 552/07 -, NVwZ-RR 2008 S. 577 ff.) ernsthafte Anhaltspunkte dafür, dass zum Christentum konvertierte Muslime im Iran keine öffentlichen christlichen Gottesdienste besuchen können, ohne sich der Gefahr auszusetzen, festgenommen und möglicherweise unter konstruierten Vorwürfen zu Haftstrafen verurteilt zu werden. Dass das Christentum im Iran weiterhin eine durch Art. 13 der iranischen Verfassung anerkannte Religionsgemeinschaft ist (Auswärtiges Amt, Lagebericht Iran vom 23.2.2009, S. 21), steht der rechtlichen Einordnung solcher Repressalien als Maßnahme politischer Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG und Art. 9 der RL 2004/83/EG nicht entgegen. Das Bundesverfassungsgericht (vgl. Beschl. vom 12.3.1992 - 2 BvR 1353/89 u.a. - InfAuslR 1992 S. 296, 299) hat zum Begriff der politischen Verfolgung in Art. 16 a Abs. 1 GG grundlegend darauf hingewiesen, dass es bei einer religiösen Verfolgung aufgrund von Strafvorschriften nicht entscheidend auf die formale Gesetzeslage, sondern die tatsächliche Rechtsanwendung im Herkunftsstaat des (anders-) gläubigen Ausländers ankommt. Insoweit ist entscheidend, dass der iranische Staat in dem Gesetzesbeschluss des Parlaments seinen Willen zum Ausdruck bringt, in Zukunft den Glaubenswechsel nicht mehr nur als religiöse Entscheidung zu missbilligen, sondern ihn auch mit staatlicher Hoheitsmacht zu verfolgen (OVG Nordrhein-Westfalen, a.a.O.). Daraus folgt, dass sich die Frage der tatsächlichen Verfolgungsbetroffenheit eines Iraners, der vom Islam zum Christentum übergetreten ist, neu stellt, wenn er dort seinen christlichen Glauben auch außerhalb von Hausgemeinden praktizieren will (OVG Nordrhein-Westfalen, a.a.O.).

Das Gericht teilt nicht die in der Vergangenheit geäußerte Rechtsauffassung der Beklagten, wonach es den vom Islam zum Christentum übergetretenen Mitgliedern evangelischer Gemeinschaften im Iran zuzumuten wäre, ihren Glauben im Verborgenen auszuüben, um Übergriffen und Repressalien zu entgehen. Denn das Gebet und der Gottesdienst in christlichen Kirchen und Gemeindehäusern gehört zum asyl- und flüchtlingsrechtlich geschützten Kernbereich der Glaubensausübung, weil es sich dabei um die Glaubensausübung in der Gemeinschaft mit anderen Gläubigen und damit die eigentliche Form des Bekennens zu einer bestimmten Form des sittlichen Lebens als Teil der Menschenwürde handelt (BVerfG, Urt. vom 1.7.1987 - 2 BvR 478/86 u.a. -, BVerfGE 76, 143 = NVwZ 1988 S. 237 ff.). Demzufolge wird diese Form der Glaubensausübung in der persönlichen Gemeinschaft mit anderen Gläubigen nicht schon dadurch eine öffentliche, dass sie von Außenstehenden wahrgenommen werden kann (BVerwG, Beschl. vom 16.1.1995 - BVerwG 9 B 441.94 -, InfAuslR 1995 S. 175). Nur eine über den bloßen Besuch öffentlicher Gottesdienste hinausgehende, öffentlichkeitswirksame religiöse Betätigung oder missionierende Tätigkeit war danach den bisher entwickelten Grundsätzen zum Anspruch auf Asyl wegen religiöser Verfolgung nicht geschützt (BayVGH, Urt. vom 23.10.2007 - 14 B 06.30315 -, InfAuslR 2008 S. 101 ff.).

Im Fall der Klägerin ist das Gericht - auch aufgrund des unmittelbaren Eindrucks aus der mündlichen Verhandlung - zu der Überzeugung gelangt, dass die Konversion auf einer glaubhaften Zuwendung zum christlichen Glauben im Sinne eines ernst gemeinten religiösen Einstellungswandels mit einer identitätsprägenden festen Überzeugung und nicht lediglich auf bloßen Opportunitätsgründen beruht. Diese Feststellung ist weiterhin erforderlich, um mit überwiegender Wahrscheinlichkeit von einer Ausübung des christlichen Glaubens durch die Klägerin nicht nur im privaten Bereich, sondern auch durch Besuch kirchlicher Gottesdienste im Fall einer Rückkehr in den Iran auszugehen. Insoweit reichte auch nach dem bisher geläufigen Begriff der religiösen Verfolgung ein bloß formales Bekenntnis zum Christentum nicht aus, um die Verfolgungsprognose mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu treffen (BVerwG, Urt. vom 17.8.1993 - BVerwG 9 C 8.93 -, DVBl. 1994 S. 60 f.). Somit ist bei einem unverfolgt Ausgereisten nach wie vor zu prüfen, ob er im Fall der Rückkehr in sein Heimatland hinsichtlich der Verhaltensweisen, die ihm dort in religiöser Hinsicht abgefordert werden, in eine Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit oder physische Freiheit vergleichbare Zwangslage geraten wird, ob er sich also in religiöser Hinsicht nicht so zurückhaltend verhalten kann, dass ihm wegen seiner Religionsausübung nichts geschieht (BVerwG, Urt. vom 26.10.1993 - BVerwG 9 C 50.92 - InfAuslR 1993 S. 119, 120).

Hierfür spricht im Fall der Klägerin, dass sie sich öffentlich unter der Lossagung vom Propheten Mohammed hat taufen lassen. Auch die Aktivitäten der Klägerin vor und nach der Taufe innerhalb der Kirchengemeinde(n) sprechen für die innere Tatsache eines festen und praktizierten christlichen Glaubens. Insoweit kommt der aktiven christlichen Glaubensbetätigung als Beweiszeichen der Glaubensfestigkeit ein wesentlich größeres Gewicht zu, als bloßen mündlichen Erklärungen des Asylsuchenden zu den christlichen Glaubensinhalten und -gebräuchen. Beruht aber der Glaubenswandel der Klägerin auf einer festen identitätsprägenden inneren Überzeugung, muss mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass sie im Fall einer Rückkehr in den Iran staatlichen Maßnahmen unterworfen sein wird.

Bei der Beurteilung der Verfolgungsgefahr ist zunächst zu berücksichtigen, dass die Klägerin sich im Bundesgebiet nicht einer der im Iran tolerierten traditionellen Kirchen angeschlossen hat, sondern Mitglied einer evangelischen Gemeinde ist. Dabei kann es in Anbetracht der Frage der Auslegung des Art. 10 Abs. 1 Buchst. b) der RL 2004/83/EG (s.o.) auf öffentlichkeitswirksame Glaubensbekennung und -werbung offen bleiben, ob die Klägerin der nach den vorliegenden Erkenntnissen (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amts vom 27.04.2007 an die Ev.-Methodistische Kirche München) bestehenden Gefahr von staatlichen Repressionen zur Verhinderung einer eigenen christlichen Missionsarbeit ausgesetzt sein werden. Jedenfalls kann auch bereits ein besonderes Engagement innerhalb der evangelischen Gemeinschaft und der damit verbundene Bekanntheitsgrad in der Öffentlichkeit im Iran schon zur Gleichsetzung eines Gemeindemitgliedes mit dem Status von Kirchenführern, die in Referenzfällen schon Opfer gezielter staatlicher Repressionen waren, führen (Auskunft des Auswärtigen Amts vom 12.4.2007 an das Bundesamt; Auskunft vom 8.8.2008 an den HessVGH). Dabei stellt das Auswärtige Amt (Auskunft vom 31.10.2007 an das VG Mainz) darauf ab, ob die Stellung von Personen innerhalb missionierender Glaubensgemeinschaften den Grad der bloßen Zugehörigkeit nicht überschreitet. Allgemein gehen sowohl das Auswärtige Amt wie auch das Deutsche Orient-Institut (vgl. BayVGH, Urt. vom 23.10.2007,a.a.O.) davon aus, dass Mitglieder religiöser Minderheiten, zu denen zum Christentum konvertierte Muslime gehören, staatlichen Repressionen ausgesetzt sein können, wobei es insbesondere auf das öffentlich erkennbare Engagement des Betroffenen ankommt, wie zum Beispiel im Fall der Verhaftung eines Gemeindemitglieds nach Abhaltung eines Gottesdienstes in einem Park in Shiraz (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 14.1.2009 an das Bundesamt). Auch bei Abhaltung eines Gottesdienstes innerhalb einer christlichen Kirche ist nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes (Auskunft vom 17.8.2009 an das Bundesamt) die Religionsausübung nur erlaubt, soweit nicht Dritte belästigt werden und deswegen Anzeige erstatten. Im Hinblick darauf ist es nachvollziehbar, dass Evangelikale Christen nach Einschätzung von amnesty international in seiner ausführlichen Stellungnahme vom 7.7.2008 (für das VG Mainz) und anderen Organisationen zu den Personen gehören, die im Iran besonders häufig der Überwachung, Verfolgung und Misshandlung durch iranische Sicherheitsbehörden ausgesetzt sind. Unter Berücksichtigung der erklärten Absicht des iranischen Parlaments, nunmehr die Apostasie im Iran mit der Todesstrafe sanktionieren zu wollen, ist nach Überzeugung des Gerichts insbesondere für aktive Mitglieder evangelischer Gemeinschaften im Iran insoweit eine Verschärfung der bisher schon riskanten Situation eingetreten, als diese Gemeinschaften einerseits generell unter dem Verdacht des Missionierens stehen und damit möglicherweise von vornherein der Apostasie Vorschub leisten, und andererseits im Iran dafür bekannt sind, dass sie im Unterschied zum Beispiel zu den armenisch-christlichen Gemeinden muslimische Konvertiten in ihre Gemeinschaften aufnehmen (Max-Planck-Institut Freiburg, Gutachten vom 13.11.2008 für das OVG Bautzen).

Dass die Verfolgungswahrscheinlichkeit bei Konversion auch zum jetzigen Zeitpunkt besteht, wird durch die aktuelle Presseberichterstattung über das Schicksal von Konvertiten bestätigt. Auch das Auswärtige Amt geht in den Lageberichten vom 09.12.2015, 08.12.2016, 02.03.2018, 26.02.2020 und 05.02.2021 davon aus, dass eine Konversion Sanktionen bis zur Todesstrafe nach sich ziehen kann.

Die Verpflichtung der Beklagten, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, scheitert auch nicht daran, dass es sich bei dem Glaubenswechsel der Klägerin um einen sog. selbst geschaffenen Nachfluchtgrund handelt. § 28 Abs. 2 AsylVfG sieht für Folgeverfahren in der Regel vor, dass nach unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrags selbst geschaffene Nachfluchtgründe unbeachtlich sind. Die Kammer folgt insoweit der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. vom 30.7.2009 - 5 A 982/07.A -; VG Freiburg, Urt. vom 21.11.2008 - A 5 K 1106/08, VG Hamburg, Urt. vom 20.6.2008 - 19 A 254/07 -; VG Stuttgart, Urt. vom 10.03.2008 - A 11 K 270/07-; jeweils zitiert nach juris), wonach ein Regelfall des gemäß § 28 Abs. 2 AsylVfG als rechtsmissbräuchlich und damit unbeachtlich anzusehenden Folgeantrags nicht vorliegt, wenn die neue Verfolgungslage nicht auf einem bloßen, die neue Verfolgungsgefahr provozierenden Verhalten des Folgeantragstellers beruht, sondern die Folge einer ernsthaften Glaubens- und Gewissensentscheidung des Ausländers ist. Das ist aber vorliegend der Fall (s.o.).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 Satz 1 ZPO.